Ich hätt's ihm ordentlich reingesagt

Eine nicht gehaltene Rede anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Kulturpublizistik 2016.

Der biografische Zufall wollte es, dass mir der unlängst gegangene Verfassungs-, Medien, Kunst- undKulturminister bekannt wurde. Als Rechtspraktikanten teilten wirMitte der Achtzigerjahre Erfahrungen in der Strafjustiz. Munter waren wir, und vor fast 30 Jahren schrieben wir gemeinsam über die zynisch-banale „Strafverfügungs-Maschinerie“, als die sich die Justiz uns darbot.

Kaum erhielt ich im April des Jahres die Nachricht, heuer mit der Auszeichnung einesStaatspreises für Kulturpublizistik versehen zu werden, da schossen mir durchaus absichtsvolle Gedanken ein: Ja, diesem Mann könnte ich jetzt öffentlich und freimütig alles sagen. Nicht vorrangig der Staatsbürger in mir wollte zum Amtsinhaber sprechen, sondern der Freund dem Freunde die Leviten lesen.

Gerade wollte mir die ganze Kultur zum Thema werden, nichts auslassen wollte ich von der Kunst. Über den grassierenden Medienwahnsinn, analog und digital, wollte ich herziehen. Auch dem Recht, diesem zweischneidigen Instrument immer wieder scheiternder Zivilisierung, suchte ich Raum zu geben. Schon sprudelten die Quellen möglicherZitate. In alle Ecken des Landes warf ich meine Blicke. Schon konnte ich aus vergangenen Versäumnissen auf die unerträgliche, weil doch den Erfordernissenso weit hinterherhinkende Gegenwart schließen. Fast schon kam mir eine Zukunft in den Blick, in der dann doch endlich dasministerielle Beharren auf der Realisierung von realen Möglichkeiten nicht als ärztlichen Beistandheischende Vision denunziert, sondern als unabdingbare Durchsetzungsbemühung am Maßstab aufgeklärter und humaner Politik in diesem Land zur Kenntnis genommen werden müsste. Ich war gut unterwegs.

Freilich, je mehr ich räsonierte und mich mit Absichten wappnete, desto unsicherer wurde mir der Boden, den ich zu betreten in Aussicht genommen hatte. Müsste nicht alles, was da zur Ansprache kommen sollte, jene Entschiedenheit und Grundsätzlichkeit haben, die Günther Anders, den ersten Staatspreisträger für Kulturpublizist im Jahre 1979, kennzeichnete? Vergliche ich mich mit dessen „Antiquiertheit des Menschen“, so entstünde eine Scham, die mich den Preis sofort abzulehnen geböte. – Und überhaupt: Hat nicht Montesquieu verbindlich dekretiert, dass man in der Republik keine Preise brauche, denn in einem republikanischen Staatswesen müsse die Tugend ausreichen; ehrende Geschenke seien durchaus etwas fürmonarchische Verhältnisse („De l'esprit des loix“, 1748). – Den Preis ablehnen?

Die Bedenken nahmen zu. Im Moment jedoch, da die ersten Gedanken gesammelt waren, kam Rettung in zweierlei Gestalt: Mir kam mein Minister abhanden, und für eine Rede sei ohnedies keine Zeit im amtlichen Betrieb. Vorbei die Chance, vorbei auch die Not: Was ich dem gegangenen Minister unter dem Signum weltanschaulicher Verbundenheit und jahrzehntelanger Bekanntschaft hätte ordentlich hineinsagen dürfen und müssen, konnte ich dem Neuen doch unmöglich zumuten. Dieser würde gewiss einen jeden Zornesgedanken als eine unzumutbare Unterschreitung notwendig gebotener Benevolenz werten. Der Neue würde ausschließlich persönlich nehmen, was ich für den Alten zwar persönlich formuliert, wiewohl ihm aber sachlich zugedacht hatte.

Erleichterung kam auf. Kein Wort würde ich sagen müssen darüber, dass die ganze Konstruktion eines auch für Kultur und Kunst zuständigen Kanzleramtsministers natürlich ein ganz gemeiner Schlag gegen Kunst und Kultur ist. Vermeintlich zur Chefsache geadelt, wird derart doch institutionell und persönlich abgesichert, dass die notwendige Widerständigkeit der Kunst nur ja keinen rücksichtslosen Fürsprecher, sondern immer nur einen ins Korsett jeweils gebotener Regierungspolitik gezwängten Verwalter findet, wird dadurch gewährleistet, dass Kultur immer nur als Verlängerung und Wahrung des jeweils schon Stattfindenden in den Blick gerät.

Als ob nicht der Kunstminister der gegen alle wütende Verfechter des Widerständigen sein müsste! Als ob nicht der Kulturminister die allenthalben zu beobachtende Unkultur mit einer öffentlich sichtbar werdenden Ungeduld unentwegt an den Pranger zu stellen hätte! Als ob ein dafür zuständiger Minister nicht vom Aufstehen bis zum spätnächtlichen Ruhegang mit triefendem Hohn und beißendem Spott gegen die unzählbaren feel-good-do-nothing-events des sogenannten Kulturlebens sich aufspreizen müsste! Kulturleben, dass ich nicht lache!

Kein Wort würde ich sagen müssen darüber, dass ein Medienminister seinen Auftrag missversteht, wenn er den Boulevard mit Millionen überfüttert und solcherart die Bedingungen der Möglichkeit von Öffentlichkeit vernichtet und aktiv für weitere Verblödung und Entwürdigung sorgt – und dass ich deshalb das Preisgeld nicht behalten, sondern der Obdachlosen-Zeitschrift „Augustin“ weitergebe, als ein munteres Zeichen dafür, dass der Herr Minister sich den Umweg über mein Konto hätte sparen können, wenn es in Österreich eine vernünftige Presseförderung gäbe. Presseförderung, dass ich nicht lache!

Kein Wort würde ich sagen müssen darüber, dass als Ergebnis einer antiquierten Förderstruktur zwar Millionen in die Filmförderung fließen, sodass immer mehr österreichische Filme von einem immer kleiner werdenden österreichischen Publikum gesehen werden. Filmförderung, dass ich nicht lache!

Nicht provozieren müsste ich damit,dass dem Österreichischem Staatsarchiv als dem bedeutenden Gedächtnisspeicher und Kulturträger des Landes seit absehbarer Zeit die Militarisierung eines Teiles seines Bestandes droht und ich den Aufschrei des Kulturministers vermisse – und dass stattdessen zwei amtlich abgefertigte Leserbriefe in der Tagespresse erscheinen, alsob der Dienstweg verstopft wäre. Haus der Geschichte, dass ich nicht lache!

Kein Wort müsste ich darüber verlieren, dass in Montreal wegen des Todes vonLeonard Cohen die Flaggen auf Halbmast gesetzt werden, der Tod von Ilse Aichinger hierzulandeaber nicht zu einer entsprechenden amtlichen Trauerbezeugung führt. Österreichischer Buchpreis, dass ich nicht lache!

Ich könnte den Zorn bei mir behalten, dermich befällt, wenn ich vom Karlsplatz Richtung Wiedner Hauptstraße gehe und sehe, wie die BIG Roland Goeschls Plastik auf der TU Wien verkommen lässt und damit für einen unmittelbaren Augenschein von der Minderbedeutsamkeit moderner Kunst sorgt. Kunst in Österreich, dass ich nicht lache!

Ein unabsehbarer Kosmos des nun ungesagt Bleibenden tat sich auf.

Und noch etwas rettete mich: Das Programm der Preisverleihung sieht exakt fünf Minuten für meine Dankesrede vor. Für den Ausbruch meines Welt- und Kulturzornes würde doch ohnedies gar keine Zeit sein!

Kein Wort würde ich sagen müssen darüber, dass wir, wenn wir von Kultur schwätzen, doch immer von den historisch auftretenden Gestalten herrschender repressiver Ideologien, ihren Entstehungsweisen und ihren Wirkungsweisen reden sollten, dass wir unterscheiden könnten zwischen den institutionellen Formen herrschender Kultur und den spezifischen ideologischen Inhalten, die durch diese Formen vermittelt werden.

Nicht im Ansatz müsste ich sprechen darüber, dass die institutionellen Formen herrschender Kultur vornehmlich zur Durchsetzung und Vermittlung der ideologischen Inhalte dieser Kultur dienen, dass sie den strukturellen Rahmen abgeben, in dem ideologische Inhalte fungieren.

Nicht reden müsste ich darüber, dass es auch innerhalb bestehender kulturell-ideologischer Verhältnisse soziale, politische und künstlerische Ausdrucksformen gibt, in denen der ubiquitären Unterdrückung und Entmenschung widersprochen wird, und nicht würde zur Sprache kommen müssen deroffenkundig unausrottbare Drang der Menschen, sich auch unter Bedingungen äußersten Zwanges als menschliche Subjekte zu bestätigen und zu verwirklichen. Nicht sprechen müsste ich über die Bedeutung der Kategorie Widerstand – und schon gar nicht müsste ich mich, wiewohl durch dessen 100. Geburtstag am 8. November 2016 zeitgemäß, einlassen auf Peter Weiss' „Ästhetik des Widerstands“.

Gänzlich unbehelligt lassen könnte ich die Versammelten durch den auszugsweisen Vortrag meines Andachtsbüchleins: „Wem es nicht mehr Vergnügen macht, aus eignen Mitteln die ganze Welt zu bauen, Weltschöpfer zu sein, als in seiner eignen Haut sich ewigherumzutreiben, über den hat der Geist sein Anathema ausgesprochen, der ist mit dem Interdikt belegt, er ist aus dem Tempel und dem ewigen Genuss des Geistes gestoßen und darauf hingewiesen, über seine eigne Privatseligkeit Wiegenlieder zu singen und nachts von sich selber zu träumen.“ Das schrieb ein Karl Marx in ganz jungen Jahren. Was aber würde einen Sozialdemokraten dazu bringen, Marx in den Mund zu nehmen?

Völlige Ruhe könnte ich herrschen lassen um den Gedanken, dass gerade Kulturpublizistik ihren Beitrag zu leisten hätte zur Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur, einen breit gefächerten und schillernden Beitrag dazu, dass der Mensch mit Ernst Bloch erst dann, wenn er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet hat, in der Welt das entstehen lassen kann, wonach heute wohl übergroße Sehnsucht herrscht: Heimat und Geborgenheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.

Kein Wort davon. Der Abgang meines Ministers und die protokollarische Zeitverkürzung retteten mich. Ich selbst entging dieserart den Risiken einer Welterklärungebenso wie der Minister und das Publikum meinen wohl anmaßenden Belehrungsversuchen und den mir dabei garantiert entströmenden Anzüglichkeiten.

Verkürzt auf die Schicklichkeit des Preisverleihungsprotokolls, bleibt nur noch die Frage, in welche Worte mein ehrlicher Dank für die Auszeichnung nun gekleidet werden soll. Anders gesagt: Was darf ich einem Minister sagen, der durch Konvention, Gesetz und was es sonst nach an beschränkenden Umständen so gibt, immerfort daran gehindert sein wird zu tun, was er sorgsam erwägend vielleicht doch immer schon einmal tun wollte?

Vielleicht lässt sich mit einem alten Witz dem neuen Minister nahebringen, was sonst viel mehr als fünf Minuten bräuchte. – Also, sehr geehrter Herr Minister: Ein Tourist steht verloren in einem kleinen irischen Dorf. Er sucht die Kirche als den geweihten Ort. Er irrtdurch die Gassen, er findet sie nicht. Ein ältlicher Ire tritt ihm entgegen. „Wo geht's denn hier bitte zur Kirche?“, spricht er ihn an. Der Alte krault sich den Bart, blickt mehrmals zweifelnd in verschiedene Richtungen und antwortet dann kopfschüttelnd und durchausverlegen: „I wouldn't start from here!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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