Österreich suchen

(c) APA (Ulrich Schnarr)
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„Der österreichische Mensch“, „österreichische Identität“, „Gedächtnisorte“: die Suche nach dem Eigenen in drei Schritten. Eine kleine Kulturgeschichte der Eigenart.

Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten hat Österreich erst sehr spät damit begonnen, seine Kultur begrifflich zu erfassen. Vor 1914 beschäftigte sich niemand mit Erörterungen zum „Österreichertum“; mit Fragen wie: Was ist ein Österreicher? In welcher Hinsicht mag er sich von einem „Reichsdeutschen“ unterscheiden, von einem Tschechen, von einem Franzosen, von einem Italiener? Die Fürsprecher anderer Kulturnationen hatten längst begonnen, die Eigenschaften und die historische Entwicklung ihres jeweiligen Nationalstils zu kodifizieren – die „Deutschösterreicher“ blieben in ganz Europa das einzige staatstragende Volk, das diese Aufgabe vor 1914 nicht in Angriff nahm.

Die Reichsdeutschen etwa hatten seitmehr als einem Jahrhundert ihre nationalen Eigenschaften, ihre Begabungen und Schwächen debattiert und historisch begründet. Die Bewegung der deutschen Romantik und die damit verbundene Volkserweckung war im Grunde nichts anderes als die groß angelegte Erforschung des Deutschtums während der tausendjährigen Entfaltung sei-
ner Kultur. Das 19.Jahrhundert hindurch hatte es sich eine Anzahl deutscher Kulturhistoriker, beginnend mit Herder und mitden Gebrüdern Schlegel, zum Lebensziel gesetzt, die deutsche Kulturgeschichte vergleichend zu betrachten. Mindestensseit 1800 gab es da keinen Mangel an Auseinandersetzungen mitGrundfragen wie: Washeißt Deutschtum? Was sind die Errungenschaften des deutschen Volkes? Wie unterscheiden sich die Deutschen von den Franzosen und von den Engländern? Goethe und Schiller, Fichte, Hegel, Ranke und Nietzsche haben das Ihrige zu dieser Diskussion beigesteuert.

Für die Deutschösterreicher existiertenichts Vergleichbares. Die in Österreich beheimatete Kultur – sowohl die sogenannte Hochkultur wie auch jene des Volkes – wurde schlicht als eine Variante der deutschen Gesamtkultur interpretiert, und bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg sahen das weder die reichsdeutschen Kulturforscher noch ihre Kollegen in Österreich anders. Der Mangel an einem inneren Diskurs über die Eigenschaften der österreichischen Kultur im Rahmen einer gesamtdeutschen Kultur ist so eine der unausweichlichen Realitäten der österreichischen Geistesgeschichte seit 1700. Selbst die anderen Völker der Donaumonarchie haben früher damit angefangen, sich mit ihrer eigenen Kulturgeschichte zu befassen (angeregt wohl vor allem durch die Forcierung ihrer Nationalsprachen). Als das Staatsvolk eines Imperiums hielten die Deutschösterreicher es hingegen für überflüssig, ein eigenes nationales Bewusstsein innerhalb des Vielvölkerstaats zu entwickeln.

Die Folgen dieses fehlenden eigenständigen Diskurses über das Nationalbewusstsein erwiesen sich als fatal. Vor 1914 wurden keine Untersuchungen zu diesem Thema veröffentlicht, sondern allenfalls Witze über Wienertum und Wiener Eigenart oder Satiren über die unbeholfenen Deutschösterreicher, die nicht zu erklären wussten, welche kulturellen Eigenschaften ihre Existenz untermauerten. Man konnte Feuilletons über Wiener Sonderbarkeiten schreiben, aber eine Diagnose des spezifisch Österreichischen verstieß gewissermaßen gegen den guten Geschmack. Da kein Historiker ein Nationalbewusstsein der Deutschösterreicher behauptete beziehungsweise widerlegte, da kein Kunsthistoriker einen österreichischen nationalen Stil ausmachte, da kein Musikhistoriker eine spezifisch österreichische Art aufzeigte, verfügten die Publizisten über keine sachliche Basis, diese Fragen zu debattieren. Kein Gelehrter legte die Grundlinien einer österreichischen Sichtweise in der Kulturgeschichte dar, keiner brachte eine österreichische Auffassung der Geschichte des Donauraums vor das Publikum.

Stand sohin 1914 die Erörterung des Österreichertums gerade bei der Stunde null, so verzerrte der Zusammenbruch 1918 jede etwaige Diskussion. Die drei großen Traumata des Kriegsendes, erstens die Niederlage, zweitens der Zusammenbruch des Reiches und drittens das Verbot eines „Anschlusses“ an Deutschland, wirkten zusammen, um den Prozess des Entstehens eines Nationalbewusstseins in der Ersten Republik hinauszuzögern. „Der Staat, den keiner wollte“, war auch ein Staat, dessen Kultur keiner verstand, und es wäre eine ernüchternde Bilanz, die österreichischen Dichter & Denker der Ersten Republik aufzuzählen, die kein Wort über die Sonderart ihrer Kultur beigesteuert haben.

Die Enthaltsamkeit so vieler bedeutender Persönlichkeiten von der Suche nach einer österreichischen Eigenart macht jene Pioniere umso bemerkenswerter, die vor 1938 diesen Diskurs entwickelt haben. Die ganz berühmten Namen unter ihnen sind Hugo von Hofmannsthal („Maria Theresia“, 1917) und Robert Musil („Buridans Österreicher“, 1919), auch Franz Werfel. Auf einer etwas niedrigeren Ebene des Ruhmes stehen die Autoren Hermann Bahr, Richard Schaukal, Richard von Kralik, Felix Braun und, natürlich, Anton Wildgans („Rede über Österreich“, 1930). Neben ihnen spielen auch recht Unbekannte eine entscheidende Rolle: Robert Müller, Hans Prager („Der Österreicher“, eine erbarmungslose Entmythisierung des gesamten Themas, in dem Band „Ewiges Österreich“, 1928) und Josef Leb (mit seiner Bilanz der „österreichischen Eigenschaften“ wie „Gemütlichkeit“, „Lebensfrohheit“, „Familiensinn“, 1933). Zwei – ebenfalls vergessene – deutsche Literaten haben Interessantes beigesteuert: Ernst Lissauer und Oskar Schmitz (der als Erster das Wort „Der österreichische Mensch“ als Essaytitel setzte, 1924).

Der Begiff „Der österreichische Mensch“ erlebte indes nur eine kurze Periode der Blüte. Das Naziregime hat ihn abgewürgt, und nach einer Wiederbelebung von Wildgans' „Rede über Österreich“ in den ersten Nachkriegsjahren spielte der Begriff nur noch eine sehr marginale Rolle.


Seit etwa 1970hat sich die Konzeption einer„österreichischen Eigenart“ tiefgreifend verändert, und man könnte sogar sagen, dass diese Problematik seither einer regelrechten Revolution unterworfen war. Zu Beginn der Siebzigerjahre begann man häufig, von der „österreichischen Identität“ zu sprechen; dieses Schlagwort hat seinen Vorgänger, „Der österreichische Mensch“, aus dem Feld geschlagen. (Merkwürdigerweise haben die Essayisten vor den Siebzigerjahren das Wort „Identität“ kaum benutzt: Selbst die von Viktor Suchy inspirierte Bücherreihe „Das österreichische Wort“ beziehungsweise die „Stiasny-Bücherei“, die zwischen 1959 und 1965 ungefähr 150 Bände mit Texten repräsentativer österreichischer Schriftsteller herausbrachte, haben das Wort für die Vermarktung des „unvergänglichen Schatzes unserer Dichtung“ nicht gebraucht. Gewöhnlich sprach man damals vom „Wesen Österreichs“ statt von „österreichischer Identität“.)

Es ist wichtig zu verstehen, dass die beiden Begriffe – „österreichischer Mensch“, „österreichische Identität“ – nicht identisch sind, ja sich kaum decken. Der Begriff „österreichischer Mensch“ bezieht sich auf die Suche nach einem Charaktertypus und entspricht der Annahme, dass sich die Deutschösterreicher von den Reichsdeutschen vor allem durch ihre Charakterzüge unterschieden. Man hat sich nur nebensächlich damit befasst, den Deutschösterreichern ein Selbstbewusstsein, eine „Identität“ zu verschaffen. Es ging weniger um ein Selbstgefühl der Staatsbürger, vielmehr um die Eigenständigkeit einer kulturellen Tradition. Bis in die Nachkriegszeit hinein kreiste die Erörterung um die Merkmale der Kultur und die Charakterzüge des Menschentypus, der sie angeblich geschaffen hatte.

Nach 1970 ging die Debatte um die Beziehungen zwischen den Staatsbürgern und ihren gesamten Traditionen (politischen wie wirtschaftlichen, ideologischen wie kulturellen). Die Intellektuellen und die Medien gingen auf die Suche nach Wurzeln und Triebfedern der Zweiten Republik, um die Zielsetzungen desStaates zu erforschenund das Nationalbewusstsein seiner Bürger zu wecken. Man wolltesämtliche Hindernisseauf dem Weg zu einerSelbstidentifikation derStaatsbürger mit allenAspekten der österreichischen Tradition beseitigen. – Im Vergleichzur medialen Übersättigung der Identitätsdebatte der Siebzigerjahre war die Diskussion um den „österreichischen Menschen“ zwischen Erstem Weltkrieg und den Sechzigerjahren elitär gewesen, begrenzt und sprunghaft. Nur Intellektuelle und Publizisten nahmen daran teil, nicht das breitere Publikum oder der Großteil der Politiker, und die Debatte drehte sich um die Kultur schlechthin, nicht um die Beziehungen zwischen der Kultur und dem politischen Leben.

Ja, die Unterschiede zwischen dem vor den Siebzigerjahren entstandenen Diskurs zum Österreichertum und der anschließend laufenden Identitätsdebatte sind in der Tat bemerkenswert. Ein Hauptunterschied – um noch diesen zu nennen – betrifft die Wechselwirkung zwischen Kultur und Politik. Die Zweite Republik nahm es als selbstverständlich an, dass der Staat eine Kulturpolitik führen müsse, die zum Beispiel kulturelle Veranstaltungen und Initiativen finanziert und das Profil der österreichischen Kultur im Ausland erhöht. Nach unserem heutigen Verständnis ist es die Aufgabe des Staates, die Kultur auf allen Ebenen zu fördern, die Hochkultur ebenso wie die Volkskultur und die Massenkultur.

In seinem Essay „Politik in Österreich“ beklagte Robert Musil gerade diesen Mangel an Beziehungen zwischen dem Politischen und dem Kulturellen. Im Habsburgerreich entstand jede Idee, jedes Kunstwerk, jedes Stück Kultur von der Politik abgetrennt. Nach Musil handelten die Politiker wie Helden eines „serbischen Heldenepos“, das heißt wie Einzelkämpfer, weil das politische Leben keinen Bezug zum Alltag, zur Kultur der Bevölkerung aufwies. Die Politiker dachten nicht kulturell, und die Kulturschaffenden dachten nicht politisch. Ein Hauptthema von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ist die Unmöglichkeit, die Leistungen der Hochkultur in das politische Leben des Habsburgerreichs einzubringen. Die Beamten verstanden nicht, wieso sie eine schöpferische Kultur amtlich fördern sollten. Daher musste der „Möglichkeitsmensch“ Ulrich seine Zuflucht aus dem öffentlichen Leben in der Liebe zu seiner Schwester nehmen, denn nur das ausgesprochen Private konnte das Schöpferische beflügeln.


Am Anfang des 21.Jahrhunderts ist mannun nicht bei den Identitätsdebatten derSiebzigerjahre stehen geblieben. In den Neunzigerjahren rückte ein neuer Begriff in den Fokus der Geschichtspolitik, und zwar der Begriff „Gedächtnisort“ („lieu de mémoire“, „site of memory“). Ursprünglich wurde der Begriff auf spezifische Orte wie die Geburtshäuser berühmter Menschen bezogen, aber bald wurde er im etymologischen Sinn von Topos interpretiert, das heißt: als historischer „Gemeinplatz“. Heute bedeutet „Gedächtnisort“ jede Erscheinung – ob Name, Ort, Buch, Begriff oder Slogan –, welche die Aufmerksamkeit eines Publikums auf einen Aspekt der Vergangenheit lenkt. Kurzum: Ein Gedächtnisort ist ein Gedächtnisthema, und in diesem Sinn wäre das Schlagwort „Der österreichische Mensch“ jedenfalls ein Gedächtnisort. Weitere Gedächtnisorte sind berühmte Texte wie Wildgans' „Rede über Österreich“, geflügelte Worte wie Musils Prägung „Kakanien“ und große Lebensthemen wie Friedrich Heers „Kampf um die österreichische Identität“.

Heutzutage wissen alle Kulturinteressierten, wie sehr die Pflege von Gedächtnisorten in den vergangenen zwei Jahrzehnten, übrigens in ganz Europa, in Mode gekommen ist. Vor fünf Jahren erschien das dreibändige Sammelwerk „Memoria Austriae“ (Oldenbourg Verlag), das 30 Aufsätze – überraschenderweise erhielt das Schlagwort „Der österreichische Mensch“ kein Kapitel – zu verschiedensten Aspekten der österreichischen Gedächtnisthemen enthält. Diese Aufsätze behandeln nicht nur große historische Gestalten wie Mozart, Maria Theresia und Kardinal König, sondern Themen wie „Sporthelden“, „Gemütlichkeit“ und „Kraftwerke“. Die Autoren durchleuchten den Stephansdom und die Donauund Salzburg-Mythenals Brennpunkte des kollektiven Gedächtnisses, das Wiener Riesenrad und Mariazell und die allgemeine „landschaftliche Schönheit“. – Nichtvon ungefähr gibt es im heutigen Österreich denn auch eine Debatte über die Vermarktung der Gedächtnisorte. Der Historiker Moritz Csáky spricht sogar von „der Verortung von Gedächtnis“ und tadelt die Monopolisierung der historischen Reflexion durch eine Aufgeladenheit mit Gedächtnistopoi. Die Sucht nach Gedächtnisorten verzerre die erzählende Funktion der Geschichtsforschung und privilegiere jenes bereits Bekannte, das mit einem erkennbaren Gedächtnisort konnotiert werde. Gedächtnisorte machen das bereits Gekannte noch mehr bekannt, aber per definitionem kann das noch nicht Erforschte nicht als ein Gedächtnisort gelten.


Alles in allem bieten uns seit 1970
die Entwicklungen in der Auffassung des Österreichertums Gründe zum Optimismus. Das Studium der Kulturgeschichte, der vergleichenden Ethnografie, der Politologie hat in Österreichs Zweiter Republik unerhörte Fortschritte gemacht. Von unserer postmodernen Fülle an Wissen von Daten und Begriffen können wir zufrieden auf den Diskurs zum Österreichertum zurückblicken.

Die Anstrengungen der Essayisten in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, die Einmaligkeit Österreichs zu entwerfen, sindzweifellos beeindruckend: Sie können unsere Terminologie mit Ausdrücken wie„Reichsmensch“, „Dienstaristokrat“ und„Feuilletonismus“ beziehungsweise „Vagantentum“, „Heimatlosigkeit“ und „seelischer Relativismus“ bereichern, sie können unsere Standpunkte durch ihren Weitblick und ihre Erfindungsgabe erweitern, und sie können uns durch ihre poetischen Visionen erbauen. Aber sie können uns nicht davon überzeugen, dass sie das Habsburgerreich beziehungsweise die Erste Republik tiefer verstanden haben, als wir es tun. Wir können von ihrem Einfallsreichtum lernen und von ihrem Engagement für Österreich, aber nicht unbedingt von ihrer Deutschland-Obsession und auch nicht von ihrer Trauer um Kakanien. Ihre Essays führen uns vor Augen, wie sehr sich die Zweite Republik heute vom Habsburgerreich und der Ersten Republik entfernt hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2009)

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