Als der i-Punkt sich blähte

Am Anfang war das Quark? Falsch! Dr. rer. nat. Rolf Landua, helle Hose, kurzes schwarzes Hemd, übt sich in Geduld: Am Anfang war Energie! Der CERN und seine Gottesmaschine: ein Besuch in Meyrin bei Genf.

Am Anfang war das Quark? Falsch! Dr. rer. nat. Rolf Landua, helle Hose, kurzes schwarzes Hemd, übt sich in Geduld: Am Anfang war Energie! Aha, sagt der Besucher Nummer 219.339. Welche Energie? Das wissen wir nicht, sagt Herr Landua, am besten nennen Sie es Strahlung.

Und dann?

Wurde sie instabil.

Sie wurde instabil. Weshalb?

Aus Zufall, sagt Herr Landua leise, wir wissen es nicht.

Herr Landua, begabt mit hohem Verständnis für simple Seelen, nickt aus schwarzem Kunstleder, so heftig, dass der Stuhl zu schaukeln beginnt. Wir sind aus Zufall, sagt er und legt die Hände ins Genick.

Kein Gott, der den Urknall zündete?

Herr Landua hebt die Schultern.

Es ist hell und warm im Büro R-008, Gebäude 3, des Conseil Européen de la Recherche Nucléaire CERN zu Meyrin bei Genf, eine schmale graue Zelle, zur Hälfte in die Erde versenkt, Neon leuchtet, auf dem Sims steht ein Gießkännchen aus glänzendem Metall, ein Däumling daneben, Filz und Pelz, das Frisurchen weiß und strubbelig, Albert Pumuckl Einstein.

Ist Gott, so es ihn gibt, Mathematiker?

Herr Landua, von Undenkbarem entflammt, seit er denken kann, schaut in die Bücherwand, schaut durch sie hindurch, schweigt und denkt, schaukelt in seinem Stuhl. Gute Frage, sagt er und schweigt. Na ja, sagt er endlich, wenn Gott Mathematiker ist, dann wohl einer, der seine Freude hat am Unvollkommenen, an der Abweichung vom Perfekten.

Was er damit meine, fragt der Besucher 219.339.

Na ja, was beim Urknall geschah, ist jedem Mathematiker ein Schrecknis.

Herr Landua lacht.

Eigentlich dürfte es die Welt nicht geben, verstehen Sie?

Nein, sagt 219.339.

Der Urknall, jenes Ereignis am Anfang, ohne das nichts wäre, geschah, wie der Mensch hochrechnet, vor 13.700 Millionen Jahren. Vor 13.700 Millionen Jahren versammelte sich eine unvorstellbare Menge Energie auf allerwinzigstem Raum, der vielleicht nichts weiter war als das Hundertstel des Durchmessers eines Punktes auf dem Buchstaben i. Dann blähte sich dieser Punkt, als wäre er ein Ballon, zu kosmischen Dimensionen auf, undenkbar schnell, der Urknall war los. In weniger als dem billionsten Teil einer Sekunde wandelte sich diese Energie in Materie um, das Universum war gezeugt, ein Chaos aus Teilchen und Strahlen, noch sehr dicht und noch sehr heiß, milliardenfach heißer als das Innere unserer heutigen Sonne.

Schwere und flüchtige Materieteilchen zerfielen praktisch sofort in leichtere, stabile, in sogenannte Elektronen und in sogenannte Quarks, die sich zu Protonen und Neutronen ballten – Elektronen und Quarks sind der Rohstoff der Welt, der Sterne, der Erde, kein Leben ohne sie, kein Bewusstsein, keine Liebe, kein Hass. Und während dreier Minuten nach dem Knall verschmolz ein Teil der Protonen und Neutronen zu leichten Atomkernen, aber erst 380.000 Jahre später, das All war nun kalt genug, entstanden erste vollständige Atome, Helium und Wasserstoff, als die positiv geladenen Kerne sich eine Hülle aus negativ geladenen Elektronen anlegten – Atome haben einen Kern, bestehend aus Protonen und Neutronen, die ihrerseits aus Quarks bestehen, und eine Hülle aus Elektronen.

Sie können mir folgen?

Ich kann.

Die Atome, aus denen alles ist, sind im Wesentlichen leerer Raum, ein Vakuum von 99,9 Prozent, darin zuckend und zitternd ein paar Teilchen. Wäre ein Atom so groß wie ein Sportstadion, entspräche der Kern einer Erbse in der Mitte des Rasens, die Elektronen, 10.000-mal kleiner, kreisten auf der Tribüne.

Gut und recht, Herr Landua, aber weshalb dürfte es die Welt nicht geben?

Landua lächelt.

Worin, Herr Landua, besteht also der Unfall, der uns machte?

Der, sagt er, kommt davon, dass beim Urknall, wie unsere mathematischen Modelle zeigen, nicht nur Teilchen entstanden, sondern auch Antiteilchen, jedem Teilchen entspricht sein Antiteilchen, besser gesagt, sein Komplementär- oder Spiegelteilchen, das genau so real ist, die gleiche Masse hat, die gleiche elektrische Ladung, nur umgekehrt, positiv statt negativ, negativ statt positiv.

Die berühmte Antimaterie, die Sie zur Romanleiche machte?

Landua grinst – Dr. Rolf Landua, Fachmann für Antimaterie bei der Europäischen Organisation für Kernforschung, der vor sechs Jahren einen Milliardstel eines Milliardstelgramms Antiwasserstoff herstellte, wird in „Illuminati“, dem Weltbeststeller Dan Browns, grausam entleibt: Er roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes. Um Gottes willen, nein!, schrie er auf. Doch es war zu spät.

Richtig! Aber die Tatsache der Antimaterie war nicht der Unfall, der alles werden ließ.

Herr Landua, weiches gütiges Gesicht, schütteres Haar, schaut zum Fenster, Nebel liegt über dem CERN, Laub fällt von Pappeln, Landua reibt sich die Hände. Materie und Antimaterie seien sich gewissermaßen feind, sie zerstörten sich gegenseitig, gingen, wenn sie sich begegneten, sofort in Strahlung auf. So. Und eigentlich, damals beim Urknall, hätten sich Materie und Antimaterie vollständig annihilieren sollen, müssen.

Aber dem war nicht so?, ahnt 219.339.

Dem war nicht so, sagt Landua, die Symmetrie, die wir meinen, war nicht vollkommen.

Deshalb gibt es uns? Jemand hat gepfuscht, sagt 219.339.

Wir sind das Produkt eines Symmetriebruchs, ja. Ein Teil der entstandenen Materie blieb beim Urknall ungelöscht, vielleicht ein Milliardstel. Und der reichte aus für Milliarden von Galaxien mit Milliarden von Sternen.

Wer ist schuld?

Das versuchen wir hier herauszufinden.

Man wandert durch dunkle Flure, Gebäude 3, alte hölzerne Türen links und rechts, jede ächzend und mit Fenster, dahinter ein Rollladen, staubig, gelb. Der Boden, alter rissiger Kunststoff, glänzt und quietscht. Der CERN ist so betagt wie Dr. Rolf Landua, 54 Jahre, der CERN, wörtlich Europäischer Rat für Kernforschung, wurde 1954 von zwölf Ländern gegründet, um den Amerikanern in Sachen Kernphysik zu widerstehen. Heute sind ihm 20 Staaten angeschlossen, mit 30 weiteren arbeitet er zusammen. 2500 Menschen sind am CERN beschäftigt, nur ein Zehntel davon forscht, 9000 Gastwissenschaftler aus 85 Ländern sind eingeschrieben, teilen sich 2000 Bürotische, manche blasen nachts eine Luftmatratze auf und schlafen neben dem Computer, vor Jahren, so das Gerücht, soll hier einer zu essen vergessen haben, sei schließlich an Skorbut verendet.

Ach, sagt Herr Landua, was wäre die Welt ohne Legenden?

Man wandert über Treppen, quert einen Hof und raschelt durch gelbes Laub, Route Democrite, Route Marie Curie, Route Einstein, Route Pauli, Route Wu, auf Vordächern wuchert schweres Moos, unberührt seit Jahrzehnten.

Hier!, sagt Herr Landua, unser eigenes Postbüro, unsere Bank, unser Kindergarten, die Krankenversicherung, das Reisebüro, der CERN hat drei Hotels, zwei Restaurants, ein Gelände so groß wie 60 Fußballfelder.

Und jährlich eine Milliarde Schweizer Franken zur Verfügung, sagt der Besucher.

Das macht, sagt Herr Landua, pro Einwohner und Jahr nicht mehr als 1,50 Euro, weniger als eine Tasse Kaffee.

Dr. Rolf Landua, Experte für Antimaterie, schiebt einen Jeton in die Maschine, Kaffee schäumt, junge Menschen sitzen in einem weiten Saal an alten Tischen, Kunststoff auf Metall, und krümmen sich über ihre Geräte, reden und schweigen, die Welt hier ist wireless und ungeschönt, zwei Tagesgerichte stehen zur Wahl, Menü Proton, Menü Neutron.

Und was war vor dem Urknall? Kann aus nichts etwas entstehen, Herr Landua?

Um ehrlich zu sein, er habe darauf keine Antwort, sagt Landua. Was andere nicht davon abhalte, sich mit der Frage zu beschäftigen. Das Modell des Russen Andre Linde, zum Beispiel, gehe von einem eigentlichen Hyperraum aus, unser Universum sei darin nur eins von unzähligen, möglicherweise seien Trillionen von anderen Universen entstanden oder ständig am Entstehen, jedes mit eigenen Naturgesetzen. Vielleicht, sagt Herr Landua, entstehen, während wir hier Kaffee trinken, ein paar Trillionen Universen pro Schluck.

Wann haben Sie zum letzten Mal geweint?

Herr Landua stellt die Tasse auf den Tisch: Als Teilchenphysiker steht man nicht über den Dingen des Alltags – falls Sie das meinen. Wenn meine 16-jährige Tochter am Morgen sagt: Der Toast ist schon wieder verbrannt, kannst du dich nicht mal konzentrieren, wenn du Frühstück machst? – dann nützt mir das Wissen um den Urknall nichts. Dann versuche ich, es besser zu machen, das Ei noch schöner zu braten, die Grapefruit noch schöner zu öffnen. Aber, um Ihre Frage zu beantworten, zum letzten Mal geweint habe ich wohl, als meine Frau mich verließ.

Man steht auf und stellt die Tassen auf ein Förderband, wandert zurück ins Gebäude 3, fünf Röhren ziehen sich durch den Flur, grün, gelb, blau, violett, grau, alte Türen links und rechts, vor jeder ein Aktenkasten aus Metall, es ist warm und stickig im CERN.

Darf ich schnell?, fragt Herr Landua und ruft die neuste Post ab, schreibt flink drei Mails. Auf dem hellen Tisch liegt Papier, darauf, von Hand geschrieben, mathematische Formeln, ein Rucksack steht neben Landuas Stuhl, eine Sporttasche, in der Ecke hängt seine braune Jacke, die Ellenbogen mit Leder verstärkt. Nebel vor dem Fenster, Krähen auf dem Dach.

Herr Landua, wenn doch, wie Sie behaupten, die Atome zu fast hundert Prozent leerer Raum sind, wie kommt es dann, dass dort auf dem Dach Krähen stehen? Wie kommt es, dass das Dach und alles, was wir sehen, solid ist, kompakt, fester Gegenstand?

Herr Landua, die Hände im Genick, beginnt zu schaukeln.

Tatsächlich sei ein Atom fast vollkommen leer, weder die Quarks noch die Elektronen hätten, sagt Landua, eine messbare Ausdehnung. Der Grund dafür, dass uns die Gegenstände des Lebens als kompakt und solid erschienen, bestehe darin, dass die Elektronen, wie eine Hülle um den Atomkern gelegt, einen eigenen Drehimpuls besäßen, den sogenannten Spin. Elektronen seien, um es mal so zu sagen, antisozial – jedes Elektron schaffe sich sein eigenes Quartier und lasse dann kein anderes da hinein. Elektronen, sagt Landua, wollten sich nicht in die Quere kommen. Und weil sie dies nicht wollten, blieben sie einander fern. Also würden Atome sich nicht durchdringen. Und deshalb fallen Sie nicht durch den Stuhl, auf dem Sie sitzen, und der Stuhl nicht durch den Beton, auf dem er steht, und der Beton nicht durch die Erde. Aber eigentlich, sagt Herr Landua, sind Sie ja wegen unserer neuen Maschine hier, nicht wahr?

Die Gottesmaschine, sagt 219.339.

Der LHC, sagt Dr. Rolf Landua.

Am 10. September 2008 um 10.28 Uhr, von aller Welt beobachtet, schickten Physiker der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN, wenn auch nur zur Probe, erstmals Protonen, also Bestandteile von Atomkernen, in ihr neustes Wunderwerk, LHC, Large Hadron Collider, die größte und aufwendigste Maschine, die Menschen bis anhin schufen, das stärkste Mikroskop auf Erden, aufgestellt in einem unterirdischen Tunnel, 100 bis 150 Meter tief in französischer und Schweizer Erde, der einen vollkommenen Kreis von beinahe 27 Kilometern Länge beschreibt. An vier Stellen weitet sich dieser Tunnel zu Kavernen, vier riesige Apparate stehen darin, hoch wie Kathedralen, sogenannte Detektoren, vergleichbar in ihrer Funktion mit Digitalkameras, jede ausgestattet mit Millionen von Sensoren. Champagner floss und auch einige Tränen, als die Hauptprobe flott gelang. Die Panne, ein Kurzschluss, kam neun Tage später und legte das Gerät für Monate lahm.

Herr Landua sagt: Diese Protonen bewegen sich mit 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit im Kreis, 299.792 Kilometer pro Sekunde, und kollidieren schließlich genau dort, wo die Detektoren stehen, unsere Registriergetüme.

Und wie bringen Sie diese Teilchen auf Touren?

Im der Mitte des Tunnels, der seit Jahren schon bestehe, verliefen zwei enge Röhren, 27 Kilometer lang, darin, so weit wie möglich, herrsche Leere, ein Hochvakuum, wie es im Weltraum zu finden sei, nur noch eine Million Teilchen pro Kubikzentimeter, auf dass die Protonen, um die es ja gehe, auf ihrem Weg zum Experiment sich nicht mit Gasatomen aufhielten. Durch diese zwei Röhren sausen also Protonen, sagt Herr Landua und schaukelt, 300 Billionen linksherum und 300 Billionen rechtsherum, verdichtet zu einem Strahl, der dünner ist als ein dünnstes Menschenhaar, und portioniert zu 2800 Paketen, alle zehn Meter eines, beschleunigt von einem elektrischen Wechselfeld. Am Besten denken Sie sich die Brandung eines Meeres, sagt Herr Landua aus seinem Kunstlederstuhl, eine Brandung, in der viele Wellenreiter gemeinsam auf einer riesigen Welle surfen und dabei immer schneller werden, am Schluss fast so schnell wie das Licht, schneller geht nicht.

In einer einzigen Sekunde bereisen die Protonen ihren Beschleuniger 11.245-mal. Magnete, jeder 14,3 Meter lang und 35 Tonnen schwer, halten sie auf Kurs in der Mitte ihres Gefäßes. Diese Magnete, Spulen aus Niob und Titan, erfüllen ihr Werk erst, wenn sie sogenannt supraleitend sind, heruntergekühlt auf -271,3 Grad Celsius, nur 1,9 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Dann erst fließt der Strom ohne Widerstand und breitet ein Magnetfeld aus, das rund 150.000-mal stärker ist als das der Erde. Kühlmittel ist superflüssiges Helium – der neuste Teilchenbeschleuniger am CERN ist der größte und kälteste Kühlschrank hienieden.

Was möchten Sie noch wissen?, fragt Herr Landua und schaut auf die Uhr.

Zur Kollision der Protonen, dem eigentlichen Experiment, kommt es an vier verschiedenen Stellen des Rings. An vier Stellen nämlich – wo die Detektoren sind, diese riesigen Messgeräte, zum Teil doppelt so schwer wie der Eiffelturm – reißen die beiden Röhren ab, und spezielle Magnete, genau dort angebracht, leiten jene Teilchen, die aus dem einen Strahlrohr schießen, übers Kreuz ins jeweils andere, bringen dabei, in einem Winkel von 1,5 Grad, die Protonen zur Havarie. Und seit Einstein wisse man –E=mc2, sagt Herr Landua.

Verstehe ich nicht, sagt der Besucher.

Energie kann sich in Materie umwandeln. Der LHC ist im Grunde eine Maschine, die auf kleinstem Raum hohe Energie konzentriert.

Urknallmäßig?

Sagen wir es so, sagt Herr Landua und lächelt fein – mit Beobachtung und mathematischen Modellen denken wir uns an den Urknall heran.

Sie entgotten den Urknall!

Gehen wir essen?

Man setzt sich in Herrn Landuas grauen Chrysler Voyager SE und fährt durch den Herbst, in der Kantine des CERN hält Dr. Rolf Landua die tägliche Speisung nicht aus, zu viele Menschen auf zu kleinem Raum, zu groß die Masse. Mit Vorsicht steuert er seinen Wagen in die Tiefgarage des Einkaufszentrums Balexert, man steigt zwei Rolltreppen hinauf, greift sich ein Tablett, Self Service, und schöpft in einen Teller, wonach es einen gelüstet, gemeine Bratkartoffeln und Gulasch, ein großes Glas Wasser, schließlich stellt man sich in eine Schlange, den Geldbeutel in der Hand, wartet, wartet.

Was ist Zeit?

Zeit, sagt Herr Landua, sei ein kompliziertes Konzept, noch von keinem wirklich begriffen.

Er stellt das Gulasch auf eine Waage, dann den Salat, die Kassenfrau nennt eine Zahl. Man bezahlt und irrt, die Zehrung vor sich, durch den Raum, findet endlich einen freien Tisch und setzt sich daran.

Was hat die Maschine denn gekostet?, fragt 219.339.

Landua blickt vom Gulasch auf: Drei Milliarden Euro.

Ist das gerechtfertigt?

Ohne Frage!, sagt Dr. Rolf Landua im Restaurant des Supermarkts am Rand von Genf. Zwar spiele es dem Individuum, auf den Alltag bezogen, keine Rolle, ob es auf einer Scheibe kreuche oder auf einer Kugel. Aber die Menschheit sei es sich gleichsam schuldig, ihr Wissen ständig zu mehren, ein kulturelles Gebot. In die Grundlagenforschung zu investieren, sagt Herr Landua, habe sich stets gelohnt. So manches medizinische Gerät, Röntgen, Laser, Tomografie, wäre sonst nie entstanden, auch das World Wide Web nicht, am CERN zu Genf erdacht. Landua, die Gabel in der Hand, sagt: Was der LHC uns bringt, wissen wir nicht. Aber unsere Erwartungen und Hoffnungen sind groß, an der Schwelle zur Euphorie. Er lächelt, drückt einige Tasten am neuen iPhone und liest seine Einkaufsliste. Er müsse, sagt Herr Landua fast schüchtern, nach dem Mahl noch in den Laden, Bananen holen für die Jüngere und Strohhalme für die Ältere, die, ihre neuste Marotte, Flüssiges nur noch per Strohhalm aufnehme, und Alufolie für die Küche.

Und wenn nichts entsteht von all den Dingen, die Sie sich wünschen, Herr Landua, was dann?

Dann wissen wir, dass unsere Modelle falsch waren oder mangelhaft. Dass wir in andere Richtung suchen müssen. Aber anyway, der LHC eröffnet uns einen Blick ins Universum, wie es kurz nach dem Urknall war. Wir werden vermutlich Teilchen sehen, die es nur damals gab, vor 13.700 Millionen Jahren, eine Billionstelsekunde lang.

Was haben Sie davon?

Erkenntnis! Wissen!

Glück?

Ja, Wissen ist Glück, Wissen macht glücklich.

Auf der Liste der Dinge, die die Fahnder des CERN sich von ihrem Mikroskop ersehnen, steht zuoberst das Higgsteilchen. Das Higgsteilchen ist gleichsam der letzte Ziegel des sogenannten Standardmodells der Teilchenphysik, ein mathematisches Gerippe, das die Bausteine aller Materie und die Kräfte beschreibt, die zwischen diesen Bausteinen wirken. Doch die Theorie hatte ein Leck – sie vermochte nicht zu erhellen, weshalb die Materie eine Masse hat, weshalb also die Dinge unserer Welt schwer sind und weshalb gewisse Teilchen schwerer als andere. Deshalb nahm der schottische Physiker Peter Higgs vor 40 Jahren an, es müsse ein weiteres, bisher unbekanntes Elementarteilchen existieren, experimentell noch nie nachgewiesen, das allen Dingen des Universums Masse verleiht und damit Gewicht.

Viele andere Sachen stehen noch auf der Wunschliste der Genfer, auch sogenannte supersymmetrische Teilchen, möglicherweise der Stoff jener dunklen Materie, die, laut Theorie, alle Galaxien, auch unsere Milchstraße, deren Teil die Erde ist, wie gigantische Kugeln umschließt. Die Masse unseres Universums besteht zu 96 Prozent aus Dingen, die wir nicht verstehen, aus dunkler Materie und aus dunkler Energie, sagt Herr Landua am Mittagstisch im Supermarkt. Der LHC wird uns helfen, darüber endlich mehr zu erfahren.

Was ist dunkle Energie?

Eine Art Antigravitation, sagt Landua, eine Kraft, die wohl bewirkt, dass sich die Ausdehnung des Universums seit einigen Milliarden Jahren wieder beschleunigt, dass das Universum sich ständig weitet. Mit ungeheurer Geschwindigkeit entfernen sich die Sterne voneinander, die Galaxien, immer schneller, immer schneller.

Schließlich kauft man drei Bananen für die Jüngere, Strohhalme für die Ältere, Alufolie für die Küche, Rolf Landua ist Vater von drei Kindern, die bei ihm wohnen, täglich steht er kurz vor sieben Uhr auf, tritt dreimal in ihre Zimmer, bis sie wach sind, stellt sich dann in die Küche und macht Frühstück, Zucker auf die Grapefruit, aber nicht zu viel.

Gibt es eine Weltformel?

Herr Landua legt die Waren auf das Förderband, packt sie in eine Tüte, die Frau an der Kassa nennt eine Zahl.

Ansätze zu einer Weltformel, zu einer Theorie von allem, gibt es längst, die Superstringtheorie. Die beschreibt alle Teilchen und Feldquanten – Feldquanten sind Teilchen, die für die Übertragung von Kräften zuständig sind – als winzige eindimensionale vibrierende Fäden von unvorstellbarer Feinheit. Verschiedene Schwingungszustände dieser Energiefäden entsprechen, so die Theorie, verschiedenen Elementarteilchen. Aber die Theorie glänzt ohne Widerspruch nur, wenn wir uns einen neundimensionalen Raum denken, in dem diese Fäden sich tummeln. Und sechs dieser neun Dimensionen sind während des Urknalls auf einen minimalsten Durchmesser zusammengerollt oder zusammengestaucht worden, vergleichbar einem Auto, das, wenn es in der Schrottpresse steckt, von drei auf praktisch zwei Dimensionen verformt wird – können Sie folgen?

Nein, sagt der Besucher Nummer 219.339, aber das macht nichts.

Im Chrysler Voyager SE, mit Gurten an die Sitze gefesselt, fährt man zurück zum CERN, Nebel drückt das Land, Laub raschelt, Route Bakker, Route Becquerel, alte Türen links und rechts, Herr Landua liest seine Post.

Glauben Sie an Gott, Rolf Landua?

Gott, sagt Landua, erkenne er, wenn überhaupt, vielleicht in den Gesetzen der Physik, der Natur. Der Mensch, zum Beispiel, könne nicht fliegen, weil die Gravitation ihn nicht fliegen lasse. Und demnach, nach seiner persönlichen Vorstellung, laute Gottes erstes Gebot: Du sollst nicht fliegen.

Dr. Landua lacht laut.

Sind Sie glücklich, Rolf Landua?

Ich glaube, ich habe das Talent dazu.

Er schweigt, dreht sich zu seinen Bildschirmen, zu den Büchern an der Wand und stopft dann die Bananen für die Jüngere, die Strohhalme für die Ältere in den Rucksack. Manchmal denkt sich Dr. rer. nat. Rolf Landua die Geschichte der Welt als Fernsehserie, 137 Folgen. Jede, hundert Minuten lang, erzählt, was im Lauf von hundert Millionen Jahren geschah. In Folge eins, im ersten Bild, ist der Urknall zu sehen, in Folge vier leuchten bereits erste Sterne, in Folge 82 das Sonnensystem, Staub verklebt zu einer Kugel, die Erde. In Folge 132 gedeihen erste Pflanzen und Tiere, und in Folge 137, zwei Sekunden vor dem Ende der Soap, erreicht der Homo sapiens Europa, und er, Rolf Landua, geboren am 17. Oktober 1954 in Wiesbaden, von Undenkbarem entzündet, seit er denken kann, spielt im allerletzten Bild eine kleine Rolle ganz am Schluss, nicht länger als eine Hundertstelsekunde, ein Wimpernschlag, ein halber.

Was möchten Sie noch wissen?

Wie sieht ein Quark aus?, fragt 219.339.

Keine Ahnung, sagt Herr Landua. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2009)

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