Ausrinnen

(c) AP (Michael Probst)
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Der indische Zeitungsverkäufer bei uns an der Ecke sagt immer zu mir: „Du nix denken!“ Er meint damit: Vom Denken kommen alle Probleme. Ich leide an und unter Paranoia. Man leidet unter ihr sehr. „Du schlafe gut und nix denken!“

Begonnen hat es damit, dass er „der Kohler!“ rief, „da Kohler!“, und ich dachte, er meine eine Kohlenhandlung. Irgendein Kohlenhändler, dachte ich. Da es in der Kandlgasse einenKohlen- und Holzhändler gibt, Hinterhoger, und einen Altwarenhändler, Hinterhoger senior, zu beiden Seiten der Kandlgasse, dort, wo leider seit ein paar Jahren ungefähr derBriefkasten nicht mehr da ist.

Es war angenehm gewesen, fürs Briefeaufgeben nur die Schottenfeldgasse zu überqueren, von der Haustüre weg, es ist ja unser Haus ein Eckhaus, Kandlgasse–Schottenfeldgasse, und nur 30 Schritte zum Briefkasten. Ich dachte, die Polizei habe ihn auf Befehl Hans Dichands abmontieren lassen, weil ich an die „Kronen-Zeitung“ zu viele Briefe schreibe. Weshalb ich ja überhaupt glaube, dass Hans Dichand mich vor Wahnsinn bewahrt. Der Trafikant sagte dann: „Das ist eineMaßnahme der Post.“ Vor einigen Jahren wareine „Maßnahme der Post“, dass mein Trafikant, noch Herr Artinger senior, mir keine Briefmarken mehr anbieten konnte, weil die Post auf Briefmarken irgendeine Gebühr erfand, „oder wie“, „oder was“, sagt man, wenn man sich nicht auskennt. „Irgendwie so.“

Und nun also er, mein alter Bekannter, er beschwert sich über einen „Kohler“, der seinen Sohn ins Unglückgestürzt habe, und ichdenke: KohlenhandlungHinterhoger, Holzhandlung Hinterhoger, Briefkasten, Polizei Kandlgasse4, und was einerpsychisch Kranken ebendurch den Kopf schießt,wenn ihr jemand ungeordnet und ohne jeglichen Zusammenhang frisch von der Leber weg, über die ihm etwas gelaufen ist – jedenfalls, sein Sohn hat kein Geld mehr, „wegen dem Kohler“.

Ich fragte: „Was für ein Kohler?“, weil dannDinge kamen, die ich noch weniger verstand, obwohl er sehr laut redete, ja schrie, mein Bekannter, ich bin ja schwerhörig, und er kennt mich seit meinem 17. Lebensjahr. Das ist ja auch immer recht schwer, zu sagen, jemand kenne einen seit 16. Also, nicht 16 im Sinne von 1916, sondern 16 in dem Sinne, dass ich damals 16 Jahre alt war. Später lernte er mich noch besser kennen, weil er mir öfter und öfter half, wobei ich seine Hilfen in Anspruch nahm, es war ja notwendig, nur, ich durfte mir dafür all sein Glück anhören. „Ich bin glücklich“, sagte er immer mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. „Ich bin glücklich. Ich habe den lieben Gott.“

Nun, „der Kohler“. Ich kam dann drauf,dass es ein Hör-Missverständnis war. Nicht ein Herr Kohler, sondern eine Frau Kohler. Ist auch nicht wichtig, ich verhörte mich wieder, nämlich was die korrekte Schreibung betrifft. DIE KOLLER.

Er schrie mich an: „Weißt du nicht, wer dieKoller ist?“ – „Ja, nein, ich meine, es gibt ei- ne Dagmar Koller.“ – „Ja, die meine ich! Dera ihrn Votta!“

Aber wie sollte „Dagi“, wie sie zärtlich genannt wird, an etwas schuld sein? Ich begriff erst später, viele, viele Wochen später, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt hatte. Dass „Dagi“ schuldlos war, ihr Vater auch, auch der Sohn meines alten Bekannten war nicht schuldig, sondern schuldig war eigentlich nur er.

Wenn er sich schon eine psychisch Kranke zur Rechtsberaterin nimmt. Ich bin nämlich seit Jahren eine Hobby-Rechtsberaterin, die kostenlose und unverbindliche Rechtsberatung ist mein großesHobby, seit ich mir dasBuch „Der österreichische Hausjurist“ gekauft habe. Das Buch trug ich zu ihm, als er mich wieder zu sich gebeten hatte, und er winkte ab, das habe er ohnehin, und es gehe ja gar nicht darum. Sondern dass ihn sein Sohn beleidige. Nun war ich schon so weit informiert, dass ich wusste, sein Sohn habe eine Verwandte des Vaters der Frau Dagmar Koller irgendwann geheiratet und nun also behandle sein Sohn ihn schlecht. Was neu war für mich, da ich zuerst glaubte, der Vater der Ehefrau des ehemaligen WienerBürgermeisters sei an etwas schuld. Richtigerweise erfuhr ich dann, dass nicht dieser eine Sohn, sondern der andere ihn beleidige. Woraufhin ich natürlich einsah, dass mit dem „Hausjuristen“ da nichts zu wollen war. Er erzählte mir, wie die Beleidigungen verliefen. Und wie er die Freundin seines Sohnes aus ihrer Wohnung hinauswerfen wolle, sie kündigen, denn sie wohne bei ihm und zahle keine Stromrechnungen. Auch keine, was gibt es noch, ich war etwas überrascht, weil er doch ein wohlhabender Mann ist. Und immer glücklich. Vielleicht wollte der liebe Gott ihm jetzt etwas zeigen? Er selbst kam auf diese Idee, der liebe Gott strafe alle bösen Menschen, und es hätte schon seine erste Ehefrau ihre Strafe vom lieben Gott erhalten, und nun kränke und beleidige ihn sein Sohn. Nicht der, der mit einer Verwandten des Vaters von – Sie wissen – verheiratet ist. Nicht der. Sondern der zweite Sohn.

Und schuld war also der. (An dem einenSohn seinem Unglück. Denn dieser hat Frau und Kinder zu ernähren. Und wenig Geld. Währenddem, hier möchte ich meine Klammer aber eigentlich schon schließen, der andere, der Andere, muss man, glaube ich, schreiben, ich bin auch schon fix und fertig nämlich, und bald werde ich wieder imSteinhof sein, also, die Klammer will nicht zu. Machen wir sie trotzdem zu.) So.

Der Andere, der Böse. Das ist der wie in „Richard III.“, der, der „alles will“. Ich schreibe nicht, dass der böse Sohn meines Bekannten über Leichen geht. Das hat man ja von Cliff – Pardon!, Richard III. auch nicht geglaubt. RichardIII. ist, glaube ich, in alles hineingetrieben worden. Er hat nicht anders können, so wie Franz Mohr, so wie der Sekretär Wurm, wenn die Leser gebildet sind. Sie werden wissen, dass ich eine gewisse kulturelle Bildung mein Eigen nenne, nun fällt mir Alois Brandstetter ein. Ich könnte ja so dahinblödeln einmal.

Der Sohn, der ihn kränkt, ist der, dem eralles geschenkt hat, weil er ihn am meisten liebt. „Und er war mein Lieblingssohn, ihm habe ich alles geschenkt! Und jetzt behandelt er mich so grob. Er redet nicht mit mir!“

Als ich wieder zu ihm gebeten wurde, meinem langjährigen Bekannten, erzählte er, alles sei jetzt besser, sein Sohn rede wieder mit ihm. Ich wusste nicht, welcher, ich habe natürlich auch nicht immer die Gedanken bei meinem Bekannten und dessen Familie, aber manchmal dachte ich: Schade, dass es „Dallas“ schon gibt, denn da fielen Nennungen von Beträgen, also die blieben einander nichts schuldig. Millionen hier, Millionen her, und ich, die „guuude“ Freundin. (Egerländisch sagt man „guuud“ statt „gut“, „Beeeda“ statt „Peter“ und so weiter, ich interessiere mich ja immer eigentlich nur fürs Egerland. Mein früherer Verleger, Dr. Herbert Fleissner, Langen Müller Herbig plus noch rund 14 Verlage, stammt aus Eger. Das liegt im Egerland. Er hat einmal zu mir gesagt, er wird erst dann wieder nach Eger fahren, wenn es nicht mehr „Cheb“ heißt.)

„Und nun laufen die Verhandlungen“, hö- re ich eine Stimme. Weiß nicht, ob Inspiration oder mein kriminalistisches Gespür, endlich, ein Thriller. Ich schreibe einmal eineKapitalistenkomödie, habe ich mir gedacht, wer betrügt wen, wer hasst wen, wer „verarscht“ wen, es können ja nicht immer nur die Banken mit ihren Überziehungsrahmen an allem schuld sein.

Über seinen Sohn, den er also wenigerliebt, gewiss aber auch aus ganzem Herzen, was wollte ich sagen.

Der Kerl hat mich ganz schön verrückt gemacht. Da fielen Namen wie „Gaddhafi“, da nannte er auf einmal eine „Opec“ – bitte, ich weiß, was „die“ Opec ist, das heißt, ich wollte es lieber nie wissen.

Und da war „General Motors Oil“, oderwas weiß ich, was für Firmen, Geschichten, Liebschaften, Scheidungen und Hochzeiten, Geburten, Auswanderungspläne, Rückkehr-Absichten, da wohnte eine gewesene Millionärin auf einmal in einer Hausmeisterwohnung, da hatte einer nur noch einen Jaguar und einen Mercedes, da waren Dinge im Gang, das nennt man „Schiebungen“, dachte ich, aber ich bin ein altmodischer Mensch,ich denke ja nicht viel ans Geld, ich brauche es, aber nur so viel, wie ich halt brauche. Seine Millionen haben mich relativ kaltgelassen. Da war dann eine neue Ehefrau, von der er mir erzählte, von der er aber gleichzeitig schon geschieden war. Ehe Numero dreischloss er dann, und ichpflegte zu scherzen: „DieVierte bin dann ich, mit mir verbringst du deinen Lebensabend.“ Aberjetzt war das ziemlichkompliziert, seine dritte Ehefrau bekam nämlich psychische Probleme.Sodass ihre Schwesterfür ihn, meinen Bekannten, kochte, ihm alles bügelte und so weiter, und er, in der Telefonleitung: „Ruf mich an!“

Ich möchte nicht in Details gehen, aber schummrig war mir hin und wieder schon. Die Millionen, wo ich nicht wusste: 100, nur 50? Er begann mir nämlich Papiere herzuschieben, die Anwälte von Wien seien alle Spitzbuben und ich viel gescheiter als ein Anwalt. Also, ich kam wieder mit dem „Österreichischen Hausjuristen“. Dort schlugich unter „Grobe Undankbarkeit“ nach.

Seine dritte Ehefrau sagte: „Ich will nicht, dass er gegen seinen Sohn einen Prozess führt. Das würde er psychisch nicht verkraften.“ Nun gut, ich legte mich wieder ins Otto-Wagner-Spital.

Meine Mutter und mein Vater sagten: „Manmuss immer saubere Fingernägel haben.“

Natürlich ging ich einmal, als ich merkte, auf dem Weg zu einer Verabredung, dass ich schmutzige Fingernägel hatte, rasch hinauf zu ihm. Da ich von daheim schon zu weit fort war und seine Wohnung in der Nähe. Er half mir oft aus, mit seinem Beruf, verlangte nie Geld, erwähnte nur später, er sei traurig, ich hätte ihm nie Kundschaft geschickt. Er meinte: meinen Bekanntenkreis. Ach so. Er hatte sich etwas erhofft. Menschlich enttäuscht. Eigentlich müsste ich ja ihn auf grobe Undankbarkeit klagen. Ich meine, als er mir meine Vorderzähne abschliff, ohne dass ich es wollte, da hat er mir – sein Beruf sei aber nicht genannt. Nur, mir reicht's wieder einmal.

Ich möchte alles hinausplärren, was ichmir an Tränen versagt habe. Wie er mich behandelte. Ich meine: nicht die Zähne, dies auch, nur, ich wehrte mich nicht. Aber mich anschreien in Gegenwart seiner Assistentin, mich hinbestellen, für mich keine Zeit haben, mich in die Ordination bitten, damit Patienten mich sehen, und „sooo lange kennen wir uns schon“, „sie ist meine beste Freundin!“.

Dann ein Mädchenmord gemeldet in der Zeitung. In der Nähe einer Villa, von der ich weiß, dass diese seinem Sohn gehört. Dem, den er lieber hat. Und dann mein Entsetzen: Da wird ein Mädchen ermordet, es erinnert mich an die Causa Unterweger. Wurde jener Mörder gefasst? Kam er ins Gefängnis? Werde die nächste Leiche ich sein?

Man weiß, ich leide an und unter Paranoia. Man leidet unter ihr sehr. Man misstraut jedem, auch sich selbst. Ich drehe lieber wieder das Radio auf, betätige mich mit Stricken und Depression, gehe nicht mehr zu ihm, grad läutet das Telefon, ich wollte eigentlich nicht abheben, sondern Radio hören.

Es war aber eine Beamtin, die ich vorherangerufen habe, wegen des Ausbleibensmeiner monatlichen Sozialhilfe-Überweisung. Sodass ich seit Stunden heute versucht war, das „Spectrum“ anzurufen mitder Frage, Bitte, ob wieder einmal etwas von mir erscheinen könnte. (Was mir das Sozialamt dann selbstverständlich abzieht, aber bis dorthin hätte ich ein paar hundert Euro flüssig.)

Der Inder bei uns an der Ecke Neubaugasse–Mariahilfer Straße, mit dem ich mich langsam schon angefreundet habe, der die Zeitungen verkauft, sagt immer zu mir: „Du nix denken!“ Dabei tippt er auf seine Stirne oder zeigt manchmal auf meine, und er meint damit, dass ich nicht denken soll. Er deutet an, vom Denken kommen alle Probleme. Und besonders die natürlich, die eine Frau hat, die nie von ihm gesehen worden ist „mit eine Mann“.

„No digas chorradas!“, sagte der Spanier immer. „Son chorradas, lo yue dices.“ Ich meine my first husband. Ich wusste immer, dass das „Blödsinn“ heißt, schaute heuteaber zum ersten Mal erst nach. Chorrada: zu viel Flüssigkeit, Überflüssiges, fließen, strömen, ausrinnen, ausfließen.

In Grinzing, entnehme ich der „Kronen-Zeitung“, gibt es einen Nobelheurigen, dorthin wollen die Gäste mit dem Auto, direkt, nicht fünf Minuten sich plagen auf einem Weg zu Fuß, sodass nun dort der Fußweg wahrscheinlich durch ein Stück Autobahn-Ausfahrt von Wien–Linz–Graz oder Wien–Budapest irgendwie oder was – ich weiß
in Wien nie, wo Osten,wo Norden, wo Westen,wo Süden, ich dachteimmer, Klosterneuburgliege rechts auf derLandkarte, wenn manalso von Wien nach Budapest fährt, aber Klosterneuburg liegt, wennman von Wien nachLinz fährt, Vienna is forme too large („big“?).

„Du nix denken!“, ruftder Inder an der Ecke Neubaugasse–Mariahilfer Straße immer, wenn ich auf seine Frage „Wie geht?“ antworte: „Schlecht!“ –„Heute, wie geht?“ – „Schlecht!“ – „Du nixdenken!“, ruft er, „nix denken!!“ Er hatschneeweiße Zähne, da er nicht raucht.Auch besitzt er ein Handy, mit dem er von Zeit zu Zeit telefoniert, „Indien, meineFrau!“, sagt er.

Gestern fragte ich ihn: „Wie geht es Ihnen?“ – „Scheiße!“, ruft er. Er kann die wichtigsten Wörter. Schließlich lebt er in Österreich, um seine Familie in Indien zu ernähren. Beim Zeitungenverkaufen muss man nicht viel reden. Nur rechnen. Und die Mathematik ist international. Es ging ihm gestern „Scheiße!“, weil es stark regnete und eralle Zeitungen mit durchsichtigem Plastikzudecken musste.

Er ist ein bisschen stämmig, wirkt sportlich oder zumindest sehr stark. Anfangs fürchtete ich mich vor ihm, weil er mir ein bisschen zu robust war. Auch stand hinter ihm meistens ein sehr großer, hagerer Inder, mit gütigen, dunklen Augen und Turban. Der blickte mitleidig, wie mir vorkam, auf mich herab. Aber milde lächelnd. Ich hielt ihn für einen Philosophen und den Stämmigen für seinen Sancho Pansa.

Ja, sehr viel mehr gibt es nicht zu erzählen, denn ich nehme mir nur die Zeitungen und Zeitschriften, gebe Geld, dazu ein bisschen Trinkgeld, und außer „Du nix denken!“ und „Scheiße!“ haben wir noch nicht viel miteinander geredet.

Ich sagte manchmal, wenn er mir eine Zeitung andrehen wollte, die ich partout nicht kaufte, aber um ihm zu erklären: „Das ist nicht gute Zeitung! Das ist eine böse Zeitung!“ Oder auch (schon damit er ein bisschen Deutsch lernt): „Diese Zeitung sehr viele Lügen schreibt!“

Dann sagt er: „Du nix denken!“, und ichverabschiede mich freundlich.

Einmal sagte er: „Du viele Tage nix kommen!“ Ich: „Ich war in psychiatrische Spital!“ Er (auf seine Stirn tippend und dann auf meine zeigend): „Du nix denken!“ Dann sagte er noch: „Du nix denken und alle gut! Du schlafe gut und nix denken!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2009)

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