Über den Wassern

Unser freier Wille ist keine Illusion, sondern ein Geschenk, das man erkennen kann, aber auch erkennen muss, wenn man sich dieses Geschenkes würdig erweisen will. Kontra Rudolf Burger.

Wenn Rudolf Burger in seinem unter dem Titel „Wie frei ist unser Wille?“ im „Spectrum“ vom 26. September veröffentlichten Beitrag die Charakterisierung der Freiheit durch den großen Philosophen Immanuel Kant, der immerhin eine „kopernikanische Wende“ im menschlichen Denken eingeleitet hat, als „Postulat der praktischen Vernunft“ als „logische Zumutung“ abtut, so kann man eine solche Qualifikation nur als „Anmaßung“ bezeichnen. Denn Kant hat die Trias von reiner und praktischer Vernunft, zu der sich noch die Urteilskraft gesellt, sehr wohl begründet und auch den Vorrang der praktischen vor der reinen nicht nur behauptet, sondern auch stringent argumentiert. Die drei Postulate der praktischen Vernunft, zu denen neben der Freiheit auch „Gott“ und „Unsterblichkeit“ gehören, sind keine bloßen Illusionen und Als-ob-Konstruktionen im Sinne des Fiktionalismus Hans Vaihingers, sondern sind und bleiben Wahrheiten, auch wenn wir ihrer nicht auf dem Weg kausaler, naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die eben nicht die einzige Form der Gewinnung von Wahrheiten ist, gewahr werden.

Im Übrigen muss man nicht bei Kant stehen bleiben, sondern man kann, ja man soll über ihn hinausgehen, wenn man sich der ontologischen Trias von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit vergewissern will. Die großen Philosophen der Geschichte dieser Disziplin sind in ihrer Mehrheit von dem Vorrang des Geistes gegenüber der Materie ausgegangen, auch wenn sie dem absoluten Sein des Geistes verschiedene Namen gegeben haben. So sprechen die antiken Philosophen Plato und Aristoteles vom „Demiurgen“ als Weltschöpfer beziehungsweise vom „ersten unbewegten Beweger“. Die mittelalterliche Philosophie ist ohnehin weitgehend identisch mit dem christlichen Schöpfungsglauben, die Philosophie des heiligen Augustinus und des heiligen Thomas von Aquin hat zweiverschiedene, in derHauptsache aber übereinstimmende scholastische Denkrichtungenbegründet. In der Philosophie der Neuzeit hatHegel den „absolutenGeist“, hat der Fichte das „Ur-Ich“ – ebenso wie der an der Wende von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Philosophie stehende Leibniz die „Zentralmonade“ – als Umschreibungen des Urgrundes der Welt gewählt; und sie haben im Grunde immer dasselbe, nämlich den Primat des Geistes und des Bewusstseins vor und über der materiellen Welt, gemeint.

Sind alle diese denkerischen Bemühungen und Höchstleistungen durch die Erkenntnisse Darwins, der im Übrigen kein Atheist war, oder die von Dawkins, Wuketits und Burger daraus gezogenen Schlussfolgerungen gegenstandslos und hinfällig geworden? Hat der Materialismus mit seinen naturwissenschaftlichen Mitteln das Problem des Hervorgehens des Geistigen, des Bewusstseins aus der Materie definitiv und überzeugend gelöst? Mitnichten. Burger selbst bezieht sich auf den französischen materialistischen Denker Emil du Bois-Reymond, der mit seinem Diktum „Ignoramus et ignorabimus“ der Möglichkeit, den Nachweis des Entstehens des Geistes aus der Bewegung der Materie in Zukunft erbringen zu können, eine Absage erteilt hat.

Das eigentliche philosophische Problem der Uranfänglichkeit oder des Hervorgehens des Geistes aus dem Materiellen beginnt nämlich erst dort, wo die Materialisten mit ihren Überlegungen und mit ihrem Latein am Ende sind. Die Frage, die sich nämlich unverändert stellt, ist die, ob es nicht jenseits und über der materiell fassbaren Wirklichkeit eine gibt, die erst die Voraussetzungen für die Existenz der materiellen Welt geschaffen hat. Diese Frage ist nicht, wie die Materialisten meinen, eine überflüssige Verdoppelung der Wirklichkeit, sondern es ist umgekehrt so, dass die Vernachlässigung dieser letzten geistigen Wirklichkeit das Denken in Aporien führt und daher auch weder von den großen Philosophen noch von der großen Masse der Menschen aller Zeiten als plausibel empfunden wurde und wird.

Hat sich die Entwicklung der Materie ohne Zutun eines überlegenen Geistes und ohne Zurkenntnisnahme durch ihn abgespielt und abgespult? Was wäre geschehen, wenn die Materie auf ihrem Weg zum tierischen oder menschlichen Bewusstsein stehen geblieben wäre und den Umschlag von der Materie in den Geist nicht erreicht hätte? Über eine Welt außerhalb jedes Bewusstseins, die die Materialisten annehmen müssen, um der Perspektive desdie Materie fundierenden Geistes entrinnenzu können, hat der österreichische PhilosophMax Adler, der politischein radikaler Marxist,philosophisch aber einIdealist reinsten Wesens war, wie folgt geurteilt:„Das Bewusstsein hatüberhaupt keine Möglichkeit, das Nichtbewusstsein sich auch nur einigermaßen vorstellig zu machen. Denn jedes Mittel, das es ergreift, ist immer nur Bestätigung des Bewusstseins selbst. Wir können eben das Bewusstsein selbst nur im Bewusstsein selbst aufheben, und deshalb ist für uns das Bewusstsein der Gedanke (dass kein Bewusstsein sei, ein barer Widersinn, eine absolute Denkunmöglichkeit)“.

Aus der Tatsache, dass das menschliche Bewusstsein an die Gehirnmaterie gebunden ist, folgt nicht, dass kein anderes, höheres und vorrangiges Bewusstsein, das das menschliche erst fundiert, existiert. Die von Lenin als vermeintlicher Trumpf des Materialismus gestellte Frage „Hat die Natur nicht schon vor dem Menschen existiert?“ beantwortet Max Adler: „Gewiss hat die Erde vor dem Menschen existiert, aber nicht vor dem Bewusstsein.“ Und des Weiteren führt Max Adler aus: „Die Zustände, in denen der Mensch noch nicht existierte, existieren doch nur im Denken des Menschen und wären ohne diesen gar nicht vorhanden. Und über den Wassern, aus denen sich die Welt erst zu bilden strebt, schwebt bereits der Geist des Bewusstseins, das diese Vorstellungen hat.“

Es ist philosophisch interessant, dass sich extremer Idealismus und moderner Positivismus berühren, wenn sie darauf beharren, dass nur jene Aussagen wissenschaftlich sind, die man beobachten und messen kann. Der englische Philosoph und Bischof George Berkeley hat auf eine Formel gebracht, was auch ein Anhänger des „WienerKreises“ des Positivismus unterschreiben könnte, nämlich auf die Formel „esse = percipi“, die besagt, dass das Sein der Dinge in ihrem Wahrgenommenwerden durch den menschlichen Geist, aber auch durch den göttlichen Geist, der vor der Welt war, besteht. Eine Welt, die in niemandes Bewusstsein ist, ist weder empirisch erfahrbar noch philosophisch haltbar, geschweige denn selbstverständlich.

Die Materialisten aber gehen seelenruhig und wie selbstverständlich davon aus, dass die materielle Welt auch schon vor Erreichung der Bewusstseinsschwelle existiert, und betreiben damit, ob sie es wollen oder nicht, ob sie es sich eingestehen oder nicht, Metaphysik, was ihnen auch nicht weiter zum Vorwurf zu machen ist. Hat doch der führende deutsche Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller in seinem Werk „Wissenschaft. Metaphysik. Skepsis“ gezeigt, dass auch die (bloß scheinbare) Entscheidung gegen die Metaphysik eine metaphysische ist, dass also die Philosophie der Metaphysik, seit Aristoteles nicht bloß Appendix, sondern Krönung der Philosophie, nicht entrinnen kann. Ist dem aber so, so lässt sich demonstrieren, wie ich es mit meinen Ausführungen versuche, dass eine an der traditionellen Bewusstseinsphilosophie orientierte Philosophie plausibler ist als der Materialismus, der hochtrabend daherkommt, in Wahrheit aber an inneren Widersprüchen scheitert.

Wenn Rudolf Burger den Eindruck zu erwecken versucht, als Physiker könne man zu keinen anderen Denkresultaten gelangen als er, so sind ihm, nicht als Autoritätsbeweis, sondern als empirische Bestätigung dafür, dass moderne Naturwissenschaft, im Besonderen die Physik, mit einer idealistisch-theologischen Weltsicht durchaus vereinbar ist, ja besser harmonisiert als mit einer materialistischen, Zeugen entgegenzuhalten.

Der eine Kronzeuge ist der österreichischePhysiker Walter Thirring, der seinem Werk „Kosmische Impressionen“ den Untertitel „Gottes Spuren in den Naturgesetzen“ gegeben hat, der bereits den Brückenschlag zur traditionellen Philosophie und Theologie herstellt. In diesem Werk beziffert Thirringauch die Annahme, dass die Welt ohne einen planenden Geist so geworden ist, wie sie nun einmal ist und passt, mit einem Trillionstel. Der andere Physiker ist Herbert Pietschmann, der sogar ein Buch mit dem programmatischen Titel „Gott wollte Menschen“ veröffentlicht hat, in dem er ausführt: „Das Bewusstsein war am Anfang, und nicht am Anfang, denn es gab keine Zeit – es war in Ewigkeit, in der All-Gegenwart. Das Bewusstsein entfaltete seine Kraft, denn seine Kraft war es selbst. Es gab nur das Bewusstsein – nichts als das Bewusstsein.“

Mit dieser Aussage kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück und formulieren gegen Rudolf Burger und im Einklang mit der Philosophia perennis, der von Leibniz so genannten Denkrichtung, die alle Modeströmungen einschließlich des Materialismus überlebt: Nur weil es ein absolutes Bewusstsein gibt, das die Welt und den Menschen aus freier Entschließung geschaffen und in die Welt gesetzt hat, hat auch der Mensch, der an diesem absoluten Bewusstsein, wenn auch nur stückwerkartig, partizipiert, eine Freiheit geschenkt erhalten, die freilich keine absolute und unbeschränkte, sondern eine begrenzte, aber immerhin vorhandene ist, zu deren Erkenntnis sowohl die praktische Vernunft Kants als auch die Seinsphilosophie der Tradition befähigt. Die Freiheit ist keine Illusion, sondern ein Geschenk, das man erkennen kann,aber auch erkennen und vollziehen muss, wenn man sich dieses Geschenkes würdig erweisen will. Und diese Freiheit, das Geschenk anzunehmen oder es zurückzuweisen, hat jeder Mensch.

Wer freilich den Menschen als bloßes Naturwesen, das gleich der Natur in Raum und Zeit gefangen ist, sieht und so einseitig deutet beziehungsweise missdeutet, kann die Freiheit nicht in den Blick bekommen. Dagegen kann jeder, der den Menschen mit Kant als „Bürger zweier Welten“ respektive als Kreuzungspunkt von Zeit und Ewigkeit im christlichen Sinn begreift, auch seine Freiheit verstehen. Die Ausbürgerung des Menschen aus einer höheren Welt, in die er hineinragt, hat, wenn Rudolf Burger dies auch dementiert, fatale ethische und existenzielle Konsequenzen. Nicht nur die Verantwortlichkeit für das eigene Tun, sondern auch die Möglichkeiten von Schuld, Sühne und Vergebung würden aus der Welt verschwinden. So sehr sich geschworene Feinde der Religion und des Christentums dies auch wünschen mögen, die „Anima humana naturaliter Christiana“, die Tertullian als humane Konstante thematisiert hat, wird über diese Versuche triumphieren. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2009)

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