Karl-Markus Gauß: Wie ich zum Lesen kam

Dass alle Bücher der Welt geschrieben wurden, damit ich sie auf mich beziehen könne, schien mir selbstverständlich.
Dass alle Bücher der Welt geschrieben wurden, damit ich sie auf mich beziehen könne, schien mir selbstverständlich.(c) imago/JOKER (imago stock&people)
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In den Ferien von der sechsten zur siebten Klasse Gymnasium ging ich öfter auf den Mönchsberg – im Schatten eines Baumes lesend, dahingleitend, mein Leben vorausträumend. Erinnere ich mich daran, ist mir das Glück fast körperlich präsent. – Kurze Autobiografie des Autors als junger Leser.

In den Ferien von der sechsten zur siebten Klasse des Gymnasiums belohnte ich mich mit einem vorzeitigen Leserausch dafür, dass ich mich so diszipliniert mit Gleichungen und Ungleichungen, Potenzen und Logarithmen würde beschäftigen müssen. Im September stand die Wiederholungsprüfung aus Mathematik an, und ich quälte mich mit einem Schulstoff, für den ich mich erst zu interessieren vermochte, als sich später meine eigenen Kinder damit herumzuquälen hatten. Mein Vater, zu dessen besten Charakterzügen gehörte, sich um seine vier Söhne keine Sorgenzu machen, hatte mit mir eine Vereinbarung getroffen. Wenn ich versprach, mich in der zweiten Hälfte der Ferien ernsthaft auf die Nachprüfung vorzubereiten, würde er mir das Geld zuschießen, das ich in der ersten als Ferialarbeiter in der Eisengießerei Hammerau im Süden Salzburgs zu verdienen beabsichtigte, um mir Bücher zu kaufen.

So kam es, dass ich mich schon amMontag nach Schulschluss im ersten Stock der Buchhandlung an der Staatsbrücke einfand, in dem auf wunderbar langen und hohen Regalen Romane, Erzählungen, Gedichtbände auf mich warteten. Ein Buchhändler hat mir kürzlich erzählt, dass kaum ein Kunde mehr länger als eine Viertelstunde in der Buchhandlung verweile, während es doch früher viele Besucher gegeben habe, die ihre Nachmittage damit zubrachten, in Dutzenden Büchern zu blättern und zu lesen, um das eine zu finden. Ich habe mir eine kleine Sammlung von Büchern in dieser Buchhandlung, die es längst nicht mehr gibt, erstöbert, indem ich stundenlang ein Buch nach dem anderen in die Hand nahm, mich fünfmal fragte, ob ich dieses oder jenes erstehen solle, und dann mit einem, das mir endlich aus rätselhaften Gründen für diesen Tag als das richtige erschien, zur Kassa ging.

Das erste Buch, das ich so erwarb, war eigenartigerweise die rororo-Taschenbuchausgabe des Romans „Homo faber“ von Max Frisch, von dem ich heute kaum ermessen kann, was mich 16-Jährigen an dieser Geschichte eines Technikers, der in seinenmittleren Jahren dahinterkommt, dass der Mensch doch ein Schicksal habe, das nicht vorauszuberechnen ist, fasziniert habenkonnte; vielleicht, dass ich mich dankbar in einer Abneigung bestätigt fand, auf die ich stolz war und die sich stur gegen alles Mathematische, Technische, naturwissenschaftlich Berechenbare richtete, denn im Ingenieur Walter Faber, der im Verlauf des Romans den Zusammenbruch seiner rationalistischen Weltsicht erlebt, begegnete mir ja ein Repräsentant jener Welt, in die ich nicht passen wollte.

An dem Roman hatte ich vieles auszusetzen, und als ich jetzt das alte Exemplar aufschlug, das mich seither über zahlreiche Übersiedlungen begleitet hat, fielen mir die Anstreichungen ins Auge, mit denen ich bereits damals besonders schöne oder störend ungelenke Sätze kennzeichnete. Schon auf der ersten Seite hatte ich einen Satz angestrichen und am Rand mit „tss“ versehen, wie ich es noch heute gelegentlich tue. Mein Unmut, nein, meine Empörung als Leser galt der Formulierung: „Wir hatten ziemliche Böen.“ Ichwar bis dahin noch in keinem Flugzeug gesessen, aber ich stellte mir das Fliegen jedenfalls aufregender vor, als es diesersimple Satz fasste, und ich stellte mir auch unter Literatur etwas anderes vor, als dass es Böen bloß „hat“ und zu deren näheren Beschreibung ein plattes „ziemlich“ ausreichte.

Als Nächstes kehrte ich zwei, drei Tage später mit einem roten Buch der Bibliothek Suhrkamp nach Hause, wahrscheinlich weil ich darin blätternd jene andere Sprache gefunden hatte, die ich damals für kunstvoll, der Kunst würdig erachtete. Auch in Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“ stoße ich auf Sätze, von denen ich mir kaum mehr vergegenwärtigen kann, warum ich sie mir zumutete, so gestelzt schreiten sie einher. Für die bedächtige Erzählweise konnte ich, der ich seit je als ungestümes Kind galt, doch kaum ein Sensorium gehabt haben; und in dem Helden, einem Scholaren, der zwar in meinem Alter war, aber mit den Autoritäten nicht haderte, sondern sich nach der Unterweisung durch einen geistlichen Mentor sehnte – wie hätte ich mich mit diesem identifizieren können! „Es war sein ehrlicher Wunsch und Wille, ein guter Schüler zu sein, bald ins Noviziat aufgenommen und dann ein frommer stiller Bruder der Patres zu werden.“ Mit zwei wacker blasphemischen Schulkameraden spielte ichin einer lauten Band, die Haare trug ich schulterlang, was damals manche Erwachsene noch zur weltgewandten Schmähung reizte: „Lange Haare, kurzer Verstand“, und nicht nur mit der Obrigkeit der Schule lag ich in einem immerwährenden, von mir geradezu als Auszeichnung empfundenen Konflikt. In den Schulferien aber vertiefte ich mich in die Geschichte eines frommen wissbegierigen Schülers des Mittelalters, der sich aus freien Stücken in die Zucht des Klosters begibt.

Als Nächstes erstand ich ein Buch mit auffallendem gelbem Umschlag der Reihe Hanser, dessen Titel mich anzog und in dem ich schon auf dem Heimweg über den Mönchsberg zu lesen begann. In diesem Sommer des Jahres 1970 bin ich öfter auf den von unserer Wohnung nicht weit entfernten Mönchsberg gegangen, auf dem ich einst Skifahren gelernt hatte und auf dem ich nun im Schatten eines Baumes lesend dahinglitt und mein Leben vorausträumte. Das Lesen war mir immer eine Ermutigung gewesen; so düster konnte die Welt in den Büchern gar nicht dargestellt werden, so schlecht konnten die Geschichten gar nicht enden, dass ich mich von ihnen nicht ermutigt fühlte, in meiner Auseinandersetzung mit den äußeren Mächten und dem inneren Angsthasen, und zu dieser Ermutigung gehörte auch, dass ich mich gegen manchen Autor, den ich schätzte, und gegenmanches Buch, das mich fesselte, zu behaupten versuchte.

Auch in Canettis Reisebildern „Die Stimmen von Marrakesch“, die eine lang anhaltende Wirkung auf mich hatten, finde ich etliche Anstreichungen vor, darunter ein paar, in denen sich der Einspruch des 16-Jährigen manifestierte. „Gr.“, meine Abkürzung für„Grammatik“, setzte ich schulmeisterlich neben dem in der Tat bis heute fehlerhaften Satz Canettis: „Immer war einer unter ihnen der Eifrigste, seine Bewegungen die hitzigsten.“ Wie für den, der ich heute bin, hat der junge Leser, der ich war, zwei Sätze durch wellenförmige Striche der inneren Distanzierung hervorgehoben, in denen Canetti seine Lehre von der Macht der Überlebenden formulierte, die mir schon damals verdächtig war: „Auf den Grabsteinen liest er die Namen von Leuten; jeden einzelnen von ihnen hat er überlebt. Ohne dass er es sich gesteht, ist ihm ein wenig so zumute, als hätte er jeden von ihnen im Zweikampf besiegt.“ Das Boxerhafte, das für Canetti das Verhältnis des Lebenden zu den Verstorbenen ausmacht, hat mich als Jugendlichen, der sich mit dem Tod viel inniger beschäftigte als später der Erwachsene, moralisch aufgebracht, ohne mich freilich von diesem Autor abzubringen, wie es mich noch heute befremdlich, nachgerade infantil anmutet, ohne dass ich mir die Freude rauben ließe, alle Zeiten seine Aufzeichnungen irgendwo aufzuschlagen und ein wenig darin zu lesen.

Die Manier, Bücher reichlich mit zustimmenden oder ablehnenden Urteilen, mit ergänzenden Anmerkungen zu versehen, in ihnen also Zeichen meiner Lektüre zu hinterlassen, ist mir geblieben. Noch heute setze ich mich nicht zum Lesen, ohne einen Bleistift zur Hand zu haben. Der Eifer, mit dem ich den Schriften anderer meine Kommentare hinzufügte, ist mir eine Zeit lang selbst nicht ganz geheuer gewesen, ich fürchtete, mich so zum Besserwisser auszubilden. Heute bin ich überzeugt, dass sich in diesen Bekundungen des Lesers der Autor äußerte, der ich werden wollte, ohne es mir oder gar anderen einzugestehen, denn lesend habe ich von Anfang an gewissermaßen immer mitgeschrieben, das Gelesene fortgeführt oder kritisiert in der unbewussten Überzeugung, dass ich dieses oder jenes hätte besser sagen können. Die besten Ideen für Bücher kommen mir noch heute nicht beim Spazierengehen, Reisen, Erstellen von Listen, Nachdenken, sondern beim Lesen, beim Lesen neuer Bücher, alter Reiseführer, der Vermischten Nachrichten in der Zeitung von gestern, halb vergessenen, aber gut archivierten Aufzeichnungen von mir selbst.

Am Mönchsberg las ich in jenem Sommer der Erleuchtung auch in einem grünen Lederband, den ich in der Bibliothek der Eltern entdeckt hatte, in den Erzählungen Adalbert Stifters, unter denen es mir namentlich „Der Hagestolz“ angetan hatte. Was, um Teufels willen, konnte mir die Geschichte eines Mannes, der einsam durch ein Leben ohne Frau ging, bedeutet haben, mir Jüngling, der keineswegs von der Entsagung träumte und an der Kurvendiskussiondurchaus nicht im mathematischen Sinne interessiert war?

Als Nächstes griff ich mir in der Buchhandlung einen Band des Urvaters der Beatniks, „Unterwegs“, von Jack Kerouac. Heute kommt mir vor, dies wäre das einzige Buch gewesen, das meinem Drängen und Sehnen damals entsprochen haben müsste, aber genau das Gegenteil war der Fall. Ich plante mit Gleichgesinnten auf dem Schulhof, der Enge unserer Stadtbestimmt schon morgen oder übernächste Woche zu entrinnen und als Gammler fröhlich durch Europa zu ziehen, kam aber ausgerechnet bei der Lektüre dieses Buches nicht voran, in dem es doch um den Auf- und Ausbruch, um die Freiheit des Aussteigens ging. Ich wäre damals nicht auf die Idee gekommen, mir eine eigene Theorie des Lesenszurechtzulegen, und so habe ich nicht weiterdarüber gegrübelt, warum mir, der ich mich für einen Rebellen hielt, der Klosterschüler des Mittelalters, der unbeweibte Einzelgänger des 19. Jahrhunderts, der Ingenieur der Fünfzigerjahre jene Figuren abgaben, in deren Lebenswegen ich mich auf die meinen zu setzen vermochte.

Heute weiß ich, dass die Literatur die Kraft hat, uns nicht nur mit dem Ähnlichen, sondern auch mit dem Fremden, dem ganz Andersgearteten auf uns selbst zu bringen. Dass alle Bücher der Welt geschrieben wurden, damit ich sie auf mich und meine Lebensproblematik beziehen könne, schien mir selbstverständlich zu sein. Gegen dasseinerzeit geforderte Lesen aus der kritischen Distanz habe ich das identifikatorische Lesen praktiziert, mit dem die Leser sich ohne Vorbehalt in jener Welt orten, von der jeweils erzählt wird, und sei es, dass sie sich dafür in die griechische Sagenwelt, auf ein russisches Landgut des 18. Jahrhunderts, in ein Raumschiff der Zukunft versetzen müssen.

Versuche ich mich an die Bücher zu erinnern, die ich mir auf unsystematische Weise aneignete, indem ich mich die Regale der Buchhandlung und zu Hause mit einem Hunger entlangfraß, der immer größer wurde, je mehr Nahrung ich mir zuführte, ist mir das Glück fast körperlich präsent, das ich dabei empfand. Als die Nachprüfung bestandenwar, blieb ich bei der Lektüre als Form, mir die Weltanzueignen und mich raumgreifend in ihr zu bewegen. In der siebten und achten Klasse desGymnasiums galt ich bereits als leidenschaftlicher Leser, und diese Tatsache begründete damals unter den Gleichaltrigen eineArt von Ruhm, die nichts mit dem prekären Status des misstrauisch respektierten Außenseiters zu tun hatte. Im Gegenteil, wäre ich nicht aus innerem Antrieb auf die Bücher gekommen, hätte ich damals aus Berechnung eine Leidenschaft für sie vorgetäuscht.

Es geschah nämlich ungefähr zur selben Zeit, dass ich die Bücher entdeckte und mir eine Spezies auffiel, deren Existenz mir bis dahin zwar nicht unbekannt geblieben war, die ich aber erst jetzt wie die Bücher auf mich selbst zu beziehen begann, nämlich das andere Geschlecht. Es fügte sich wundersam, dass man bei den aufregenden Geschöpfen, die dieses hervorbrachte, vortrefflich mit seiner Belesenheit renommieren konnte. Bald, nein, sofort hatte ich heraus, dass dem Ruf, ein charmanter oder origineller Geselle zu sein, noch etwas fehlte, das mir erst die Aufmerksamkeit jener Mädchen sicherte, die mir als die begehrenswertesten erschienen. Von den Heutigen wird es kaum jemand glauben mögen, aber unter den Dingen, die den Einzelnen aus der Masse seiner langweiligen Altersgenossen herauszuhebenvermochten, zählte um 1970 die Literatur, und das Gerücht, dieser oder jener halte es mit dem Lesen oder gar mit dem Schreiben, war dazu angetan, ihn interessant erscheinen zu lassen.

Einige Jahre später erfuhr ich als Student der Germanistik von der sogenannten operativen Literatur, jener in die politische Realität eingreifenden Literatur, deren Ziel es ist, unmittelbare praktische Folgen zu bewirken. Alles in allem habe ich als Gymnasiast die Literatur nicht nur, aber auch in diesem operativen Sinne verstanden, wurde sie mir doch vom Selbstzweck immer wieder zum Mittel, mit dem ich auf mich aufmerksam zu machen wusste, und wenn ich mit einer gewissen eloquenten Dringlichkeit über traurig endende Romane oder umstürzlerische Pamphlete sprach, blieb dies nicht ohne Wirkung auf jene Repräsentantinnendes anderen Geschlechts, bei denen ich Eindruck schinden wollte. Wer als echter Leser angesehenwurde, der galt für einen Suchenden, der sich mit dem Leben, wie es war,nicht zufriedengab, für einen Grübler, der mutig in Abgründe schaute, für einen Menschen, auf dem ein besonderer Glanz lag. Operativ kam mir mein damals noch ausgezeichnetes Gedächtnis zugute, sodass ich wie nebenhin Gedichte von Trakl, Eichendorff oder Storm zu rezitieren vermochte – Heidegedichte, vorgetragen, während im Partykeller die Platten der Doors oder von Creedence Clearwater Revival gespielt wurden! Das Lesen hat mir jene Selbstsicherheit des Auftretens gegeben, um die es uns männlichen Heranwachsenden damals allen ging und die ein jeder auf andere Weise vorzutäuschen oder zu erreichen versuchte. Mir genügte es zu wissen, dass ich im Eros des Lesenden stand.

Was ich bis zur Matura auf herrlich unsystematische Weise alles las: natürlich Kafka, von dem damals nahezu jeder Gleichaltrige ein paar Erzählungen gelesen hatte, aber auch den kauzigen, die Ereignislosigkeit der Provinz ausschreitenden Wilhelm Raabe und Albert Camus, dessen Erzählung „Der Fremde“ mir zu Weihnachten 1971 das Christkind brachte, als wollte es mich endgültig zum Atheismus bekehren. Ich staune über die Routen, auf die mich die Klugheit des Zufalls in abgelegene Regionen führte, etwa zum Schweizer Ludwig Hohl, einem abweisenden Alleingänger der Literatur, dessen Erzählungen „Nächtlicher Weg“ mich mit ihrer Wucht erschütterten. Das Exemplar der „Menschheitsdämmerung“,dieser Sammlung expressionistischer Gedichte von zahllosen Dichtern, die oft herzergreifend jung gestorben waren, war bald schon zerlesen, weil es ein typisches Manteltaschenbuch war, wie ich immer eines zu meiner Unterstützung bei mir führte.

Den Frühling vor der Matura brachte ich mit Knut Hamsuns „Hunger“ zu. Ich hatte, zehn Jahre nach Kriegsende in eine nicht gerade wohlhabende Familie von Heimatvertriebenen geboren, niemals Hunger gelitten, war als jüngstes Kind von Eltern und Geschwistern verwöhnt worden, und die halbherzige Sehnsucht des Heranwachsenden, anderswo zu leben, hatte mich in Gedanken und Träumen nie nordwärts geführt. Dennoch war ich überzeugt, dies wäre ein Buch, das Hamsun vor 80 Jahren für keinen anderen als mich geschrieben hatte. Ich ging durch den warmen Frühlingsregen von Salzburg und zog zugleich durch die schneebedeckten Straßen von Oslo, ich traf mich mit Freunden und Freundinnen in der Zwettler Weinstubeoder im Yankee Saloon, wir tranken und feierten den schönen Überschwang unserer Freundschaft, und ich litt zugleich die Einsamkeit von Hamsuns Erzähler, dem die warmen Gaststuben verwehrt waren, die Freunde davonliefen, die jungen Frauen unerreichbare Wesen aus einer anderen Welt waren und der peinlich zu verbergen trachtete, wie verlassen und rundum gescheitert er war.

Manchmal denke ich, ich müsste all die Bücher, die ich vor 30, 40, vor 45 Jahren gelesen habe, noch einmal lesen, jene, die mich beeindruckten, sodass ich für Tage und Wochen in ihnen lebte, und die anderen, die sich mir verschlossen, ich müsste sie mir alle noch einmal vornehmen, nicht um zu überprüfen, ob mein Urteil etwas taugte oder nicht, sondern um mir in der erneuerten Lektüre die Chance zu geben, jenem nahezukommen, der ich gewesen bin. Zu Dutzenden Büchern meines Lebens habe ich diese rätselhafte Beziehung: Den Inhalt mag ich vergessen haben, doch wenn ich die Titel höre, ersteht vor mir neuerlich jene Zeit, in der ich sie gelesen habe, gleich atme ich wieder die Atmosphäre der Zimmer, in denen ich wohnte, der Viertel, durch die ich zog, so viele Details meines Lebens, die ich vergessen hatte, werden mir in leuchtenden Farben gegenwärtig.

Wenn ich mich an sie nicht mehr erinnere, erinnern mich diese Bücher zuverlässig an mich selbst, eingebettet in meine Umgebung, meine Pflichten, meine Genüsse, in die kleine und die große Geschichte jener Jahre, und das gilt für die politischen Ereignisse, die mich empörten oder begeisterten, es gilt für die Menschen, die ich kannte und die mir aus den Augen und dem Sinn geraten sind, und für die Ängste, die mich damals einschnürten, wie für die hochfahrenden Pläne, die mich erfüllten: Alles, was mein Leben ausmachte, taucht aus der Vergessenheit empor, wenn ich nach Jahren an ein bestimmtes Buch erinnert werde.

Und dann kam der Tag, an dem wir maturierten und aus der Schule entlassen wurden, ein Tag, den ich ersehnt hatte, wiewohl ich in der Schule unter keinem Despoten, sondern nur daran zu leiden hatte, dass die Zeiger der Uhr, die neben der Tafel hing, in manchen Stunden einfach nicht weiterwanderten und die Zeit, die uns zur Freiheit führen sollte, schmerzhaft stillestand. Das Studium ist mir auch als die erhebende Zeit in Erinnerung, in der ich, endlich befreit vom Reglement der Schule, so lange lesen konnte, wie ich wollte, und in der ich lesen konnte, was immer ich wollte. Mir kommt vor, als hätte ich tage- und nächtelang gelesen und damit ein paar Jahre gar nicht mehr aufgehört. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2017)

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