Kein Sohn soll mehr sterben

Bootsflüchtlinge: wie Bayam Diouf dem Tod auf dem Meer ein Ende setzen will. Ein Lokalaugenschein in Senegal.

Drei Jahre ist es her. Eines Abends rief er an, erzählt Madame Diouf. Er sagte, er sei in Mauretanien. Am kommenden Tag würde er nach Spanien weiterfahren. Er hat noch gesagt, ich solle für ihn beten. Danach, sagt die Mutter, habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.

Il a disparu. Verschollen im Meer.

In der Ecke ihres kleinen Büros steht ein großes Bild von Aloune, so hieß ihr einziger Sohn. Mit ihm starben 80 weitere Männer. Ein zweites Boot erreichte die Kanaren. Alle Emigranten auf den zwei Booten waren aus Thiaroye sur Mer. Das ist heute längst kein idyllisches Fischerdorf mehr, sondern ein Vorort von Dakar, eine Banlieue der pulsierenden westafrikanischen Metropole. Täglich pendeln Zigtausende Menschen aus solchen Vororten ins Zentrum von Dakar und wieder zurück, was die Ausfallstraßen hoffnungslos verstopft. Immer wieder wischt sich unser Taxifahrer den Schweiß vom Gesicht. Die Luftfeuchtigkeit beträgt 85 Prozent, die Temperatur 34 Grad, die schwarzen Auspuffgase, die die rostigen Autos, Busse und LKWs in enormen Wolken auspusten, hüllen Augen und Lunge in Nebel.

In ihrem Wohnhaus in Thiaroye sur Mer betreibt Madame Diouf ihre NGO. Kein Sohn soll mehr sterben. Sie will andere davon abhalten, übers Meer zu fahren. Das ist jetzt ihr Lebenszweck. Hinter dem Haus hat sich eine dicke grüne Lacke gebildet, so groß wie ein Tümpel. Überbleibsel der schweren Überschwemmungen, die Westafrika in diesem Jahr heimgesucht haben. Das Gebräu gärt seit Wochen in der Hitze, es stinkt zum Himmel. In einem Hof neben der Lacke trocknen Frauen in großen Bottichen Fisch. Sie schwitzen, aber sie freuen sich über den Besuch und scheinen guter Dinge. Andere Frauen fertigen bunte Puppen oder anderes Kunsthandwerk. Für den Start ins Business vergibt Madame Diouf Mikrokredite. Die erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. In den alten Buchhaltungsbüchern im Büro wird jeder Teilnehmer fein säuberlich registriert und geführt. Nach der Eintrittsgebühr kostet das Ganze 1000 westafrikanische Franc pro Monat, eineinhalb Euro. 120 Mitglieder gibt es schon.

Die Frau mit den schicken eckigen Brillen hat viel gelernt, war in Europa und in einigen Ländern Afrikas. Der kleine weiße LKW vor der Tür ist ein Geschenk der französischen Sozialistin Ségolène Royal.

Die Frauen, sagt Madame Diouf, sind der Schlüssel. Wir müssen ihre Haltung ändern. Jede Mutter, die einen Sohn in Europa hat, steigt im Ansehen. Deshalb ermuntern die Mütter ihre Söhne. Sie tun alles, um ihnen die Überfahrt zu ermöglichen. Sie sparen, verkaufen ihren Schmuck, um die Schlepper bezahlen zu können. Bis zu 700.000 Franc kann die Fahrt kosten, mehr als 1000 Euro. Doch egal wie viel, die Investition lohnt sich. Wenn alles gut geht, kommt bald Geld zurück. Und zwar Monat für Monat. Mit dem Geld kommt der Ruhm. Man ist dann eine bessere Mutter als die anderen, sagt Madame Diouf. Genau diese Einstellung müssen wir ändern. Und außerdem: Wichtige Entscheidungen in den Familien treffen die Männer. Das können wir Frauen nicht mehr hinnehmen, sagt sie und ballt die Faust.

Von Thiaroye sur Mer fahren schon lange keine Boote mehr weg, darauf ist Bayam Diouf stolz. Dort, wo sie wegfahren, hat sie Zweigstellen eröffnet: in Yoff, in Hann, in Ziguinchor und selbst im fast 300 Kilometer entfernten Saint Louis, einst alte französische Hauptstadt Westafrikas und heute Weltkulturerbe. Insgesamt bald 700 großteils weibliche Mitarbeiter, arbeiten in den verschiedenen Büros. Sie alle helfen, Madame Dioufs Lebenswerk mitzutragen.

Zu tun gibt es genug. Jeder in Dakar weiß doch, wann wieder Schiffe losfahren, sagt Jean-Paul an der Petite Cote, den vornehmlich von Franzosen bevölkerten Urlauberstränden wenige Autostunden von Dakar entfernt. Jean-Paul ist seit 35 Jahren in Afrika. Die jungen Männer sehen das alle positiv, sagt er, auch wenn sie das Weißen gegenüber kaum zugeben. Diejenigen, die es wagen, sind mutig und beneidenswert. Sie sind Helden. Auch die Gebildeten wollen weg, für sie ist das so etwas wie ein existenzielles Muss. Hier gibt es keine Herausforderung für sie, keine Zukunft.

Es gibt Vermutungen, dass seit 1992 mehr als 10.000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind. Doch es könnten auch viel mehr sein. Fest steht nur: Europa will sie nicht. Allein in zwei Booten, die vergangenen März vor der Küste Libyens versunken sind, waren geschätzte 300 Menschen. Die Abschreckungsstrategie der EU hat dazu geführt, dass afrikanische Bootsflüchtlinge immer weitere Wege auf sich nehmen. Immer mehr nehmen auch schlechte Wetterbedingungen in Kauf und wagen die Überfahrt im Winter. Nähern sie sich der Küste, fahren sie oft nur nachts, um nicht entdeckt zu werden. All das macht die Reise weit gefährlicher. Das Meer ist zum Massengrab geworden.

Geschätzte 67.000 Menschen versuchten im vergangenen Jahr, Europa auf dem Seeweg zu erreichen. Die EU-Organisation Frontex führt einen regelrechten Krieg gegen diese Menschen. Vor vier Jahren ist die Grenzschutzorganisation gegründet worden. Seither ist sie bemüht, dem Problem der Bootsflüchtlinge Herr zu werden. Mit Drohnen, Infrarot-Technologie, mit Satellitenaufklärung und biometrischer Erkennungstechnik. Im Meer kreuzen Kriegsschiffe. Europas Antwort auf klapprige Holzboote. Wenn die Flüchtlingsboote geortet werden, werden sie oft zurückgeschickt. Eine Praxis, die Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International heftig kritisieren. Als klaren Verstoß sowohl gegen die europäische Menschenrechtskonvention als auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Oft sind die Verzweifelten tatsächlich verfolgt, oft kommen sie aus Kriegsgebieten wie Somalia, doch die Chance auf einen Asylantrag wird ihnen verwehrt. Stattdessen werden sie zum Abdrehen gezwungen, egal, ob der Sprit für die Rückfahrt reicht, egal, wie verbrannt und verätzt ihre Haut ist von der sengenden Sonne auf dem Meer. Egal, ob die Menschen Hunger leiden oder ob sie bei der Weiterfahrt verdursten werden.

Verdursten oder Ertrinken, das kratzt die doch nicht, sagt ein Rückkehrer. Horrorberichte gibt es viele. Madame Diouf gestaltet Informationsabende mit den Rückkehrern. Unter den 1000 Jahre alten Baobabs und dem warmen Himmel der untergehenden Sonne spielen Laiendarsteller Theater, berichten Flüchtlinge von den Schrecken der Fahrt, von Hunger und Durst, vom unfreundlichen Empfang und der Kälte Europas. Es sind Berichte vom Scheitern, dazu gehört Mut.

Wir müssen versuchen, sie zu überzeugen, hier zu bleiben, wir müssen ihnen helfen, hier Arbeit zu finden, auch wenn das schwierig ist. Denn wenn ich selbst genügend Wasser im Haus habe, muss ich ja nicht zum Nachbarn, um ihn darum zu bitten, sagt Madame Diouf. Aber wie gelingt es ihr inmitten all der gefestigten Meinungen und Traditionen die Einstellungen der Mütter und Söhne zu ändern? Mit dem, antwortet die resolute Madame lächelnd, was man in Afrika am liebsten tut, mit Reden, Reden und wieder Reden. Vor der Tür des Büros in Thiaroye sur Mer lehnt Babacar Diop, er ist 19. Ob er nach Europa will? Nein, sagt der schüchterne junge Mann. Ab und zu finde er Arbeit bei Madame Diouf. Nein, er werde bleiben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2009)

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