Erst der Hass, dann die Lager

Anna liest atemlos die Inschriften in den Räumen nahe der Gaskammer. Phillipp ist von den Baracken enttäuscht, weil sie so klinisch sauber gefegt sind. Berufsschüler aus Wien auf Besuch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen: eine Begegnung.

Es war ein Schultag wie jeder andere. Einmal wöchentlich müssen die Berufsschüler des Gast- und Hotelgewerbes in die Längenfeldgasse zum Unterricht. Doch heute versammelten sich die Lehrlinge kurz nach sieben Uhr früh nicht in der Klasse, sondern im Stiegenhaus. Ein schlichter, grellblauer Bus wartete auf die 22 Jugendlichen, um sie zur Gedenkstätte Mauthausen in Oberösterreichzu bringen. Der Schulbesuch ist Pflicht, die Fahrt ins ehemalige KZ nicht.

Die Strickmütze sitzt streng auf dem kleinen Kopf. Die rote Daunenjacke wirkt voluminös, der schlanke, große 16-Jährige stützt sich auf zwei Krücken. „Wird er die drei Stunden durchhalten?“, fragt leise und besorgt Waltraud Eberharter, der Mauthausen-Guide, jene junge Lehrerin, die zur Begleitung der Schüler abgestellt wurde. „Ja, er will unbedingt mitfahren“, versichert Tina Koppitz, die an der Berufsschule für politische Bildung zuständig ist.

Patrick Kröll, der seine Stützen später im Autobus liegen lässt, ist schon zum dritten Mal in Mauthausen. Das erste Mal kam er mit der Hauptschule, da war er erst 13: „Damals habe ich das Ganze etwas lockerer genommen. Obwohl mir meine Großmutter vor der Fahrt gesagt hat, dass der Großvater in Mauthausen gedient hat, in der SS.“ Ganz ungezwungen sprudelt das aus Patrick heraus. „Die Oma hat mir auch gleich erzählt, dass dieser Opa bei der Befreiung des Lagers erschossen worden ist. Mein richtiger Großvater war der zweite Mann von der Oma.“ Das klingt ziemlich erleichtert. Bei Patricks Ausbildung zum freiwilligen Rotkreuzhelfer vor einem Jahr stand der Besuch in Mauthausen auch auf dem Programm. Und heute also ein drittes Mal Mauthausen.

Im wohlig warmen Bus haben die Jugendlichen noch die Chance, sanft in den Tag zu gleiten oder die erste Morgensemmel hinunterzuschlingen. Manche tratschen munter miteinander. Beide Begleitpersonen lassen sie in Ruhe. „Ich gehe dann später durch die Reihen und spreche mit den Jugendlichen. Aber das Mikrofon nehme ich nicht in die Hand. Wir sind ja nicht auf einem touristischen Trip“, erläutert Waltraud Eberharter. Die attraktive dunkelhaarige Tirolerin klingt sehr bestimmt.

Den Weg, den die Häftlinge ab Spätsommer 1938 im Lager gegangen sind, werden auch die Berufsschüler abgehen. Im Besucherzentrum, das 2003 außerhalb des ehemaligen Lagers errichtet wurde, sammelt man sich. „Bitte Handys abschalten und auch nicht rauchen, wir sind auf einem Friedhofsbesuch“, erklärt Waltraud Eberharter. Der jugendliche Tross hält auf einer hügeligen Anhöhe. Der Blick schweift über leere Felder. Im Hintergrund und doch ganz nah stehen schmucke Familienhäuser. Die ersten Zahlen und Fakten folgen erst hier: Die Beschreibung des Ortes für das KZ Mauthausen, die Sichtbarkeit im Umland, nichts ist versteckt. Erste Hinweise auf das Nebeneinander von „normalem“ Leben und Todeslager. Nicht nur die Häftlinge sahen da hinunter, auch die Bewohner konnten Einsicht haben, wenn sie wollten. „Hier entstand zuerst das Russenlager, das später zum Sanitätslager umfunktioniert wurde. Auf diesem Feld waren in den Baracken 12.000 Häftlinge untergebracht, das ist die Größe einer Kleinstadt.“

Wie konnte man hier zum Häftling werden, lautet die rhetorische Frage des Guide. Waltraud Eberharter gibt selbst die Antwort: „Im Vergleich zu anderen KZs waren in Mauthausen relativ wenige jüdische Opfer, dafür politische und anders determinierte aus rund 30 Nationen. Wörtlich hieß es damals im NS-Erlass, die härteste Lagerstufe III, also Mauthausen, sei ,für schwer belastete, unverbesserliche und auch gleichzeitig kriminell vorbestrafte und asoziale, das heißt kaum noch erziehbare Schutzhäftlinge‘.“ Auch heute könne man sehr schnell als „asozial“ gelten, so Waltraud Eberharter. „In der NS-Zeit reichte es, krank, homosexuell oder ein sogenannter Zigeuner zu sein. Und heute geht man wieder sehr leichtfertig mit dem Begriff ,asozial‘ um“: So versucht der Guide die Brücke zum Heute zu schlagen. „Aber die Hartz IV-Empfänger in Deutschland sind asozial“, murrt ein Lehrling aus den hinteren Reihen. „Doch nicht alle“, versucht Waltraud Eberharter abzuschwächen.

Wie kam die gelernte Schneiderin aus dem Zillertal dazu, sich zum Mauthausen-Guide ausbilden zu lassen? „Meine Familie war eher unpolitisch. Man ist zwar brav wählen gegangen, aber das war's schon“, erzählt Waltraud Eberharter, die ausgerechnet am kommenden 20. April – an „Führers Geburtstag“ – ihren Dreißiger feiern wird. Nach ihrem Lehrabschluss als Damenkleidermacherin arbeitete sie von 1999 bis 2003 bei der Firma Geiger-Fashion in Vomp. Hier wurde die politisch Interessierte sehr bald aktiv. „Erst Jugendvertrauensrätin, bin ich bald zur Betriebsrätin gewählt worden. Fünf Jahre war ich dann Jugendsekretärin des ÖGB Tirol. Ich habe mir das meiste Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus selbst angeeignet, vor allem sehr, sehr viel dazu gelesen.“ Seit knapp zwei Jahren arbeitet sie nun in Wien, zuerst war sie Sekretärin in der Bildungsabteilung der ÖGB-Zentrale, zurzeit ist sie Referentin für Lehrausbildung der Arbeiterkammer Niederösterreich: „Für die Begleitungen nach Mauthausen – wir verwenden absichtlich nicht das Wort ,Führungen‘ – nehme ich mir Zeitausgleich oder einen Urlaubstag.“

Mehr als ein Jahr lang absolvierte sie in Wochenend-Blockveranstaltungen die Ausbildung zum Mauthausen-Guide. Diese Ausbildung wird vom „Mauthausen Komitee Österreich“ (MKÖ) organisiert und finanziert. Erst im November 2009 wurden 30 zusätzlich ausgebildete Mauthausen-Guides zertifiziert.

Das MKÖ wurde 1997 vom Österreichischen Gewerkschaftsbund und von der Bischofskonferenz der katholischen Kirche mit den israelitischen Kultusgemeinden als Partner in Form eines Vereins gegründet – als Nachfolgeorganisation der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen, der Organisation der ehemaligen Häftlinge. „Derzeit besuchen jährlich mehr als 200.000 Menschen die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Etwa die Hälfte von ihnen ist jünger als 20 Jahre, und der überwiegende Teil der Gruppen wünscht eine Begleitung – und die melden sich bei uns“, berichtet Willi Mernyi, Vorsitzender des MKÖ.

Die vom MKÖ ausgebildeten Guides setzen sich zur Hälfte aus Frauen und zu einem Fünftel aus Menschen mit migrantischem Hintergrund oder aus Opfergruppen wie Roma, Sinti oder Zeugen Jehovas zusammen. „Alle sind hoch motiviert, denn hier ist kein Körberlgeld zu machen“, betont Waltraud Eberharter. „Es gibt nur eine Aufwandsentschädigung.“ Die Inhalte der Mauthausen-Guide-Ausbildung wurden im Rahmen einer Projektgruppe entwickelt, bestehend aus Experten in den Bereichen Zeitgeschichte, Pädagogik, Kommunikation und Gedenkstättendidaktik.

„Die Jugendarbeit an Gedenkstätten steht seit Jahren vor völlig neuen Herausforderungen. Mittlerweile sind es die Jugendlichen der dritten Nachkriegsgeneration, die im Rahmen von schulischen und betrieblichen Bildungsmaßnahmen das ehemalige KZ Mauthausen besuchen“, so Willi Mernyi, Jahrgang 1968, dessen Vater als heimatvertriebener Donauschwabe nach Österreich kam. Mernyi sieht naturgemäß auch die Schwierigkeiten, für die Jugendlichen mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den NS-Verbrechen aktuelle Bezüge zur eigenen Gegenwart herzustellen und damit konkrete Erkenntnisse für den Alltag abzuleiten. Denn die türkischen Jugendlichen können auf keinerlei Erzählungen im familiären Umfeld zurückgreifen. „Da heißt es dann: Was geht mich das an? Erst wenn man auf die moslemischen Opfer in Mauthausen hinweist, erwacht das Interesse“, erzählt Mernyi, der die Führungen des Innenministeriums jahrelang kritisierte. „Die Zivildiener geben ihr Bestes. Wenn sie diese Führungen aber drei Tage hintereinander machen, wird es zum Abspulen einer Litanei.“

Den zweiten Kritikpunkt ortet Mernyi „im Durchschleifen der Jugendlichen in eineinhalb Stunden“: „Wenn uns ein Lehrer sagt, er hat nur eineinhalb Stunden Zeit, dann sagen wir, gut, dann gehts zu McDonald's!“ Auch didaktisch hat er etwas auszusetzen: „Die Zivis hören mit dem Datum der Befreiung am 8. Mai 1945 auf. Aber wir gehen weiter und fragen, was das für Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung von Menschen heute bedeutet.“ Vor drei Jahren hat Mernyi deshalb die Initiative ergriffen und – auch mit Mitteln aus dem europäischen Sozialfonds – die Guide-Ausbildung begonnen. „Als mich ein Lehrer gefragt hat: ,War die Gruppe eh brav? Die Schwierigen haben wir zu Hause gelassen‘, bin ich fast explodiert. Es geht es ja genau um diese jungen Menschen, wir haben gelernt, wie man sie einbaut.“

Das stimmt. Waltraud Eberharter überschwemmt die Jugendlichen nicht mit Zahlen. Vor der Station Jugenddenkmal, fragt sie die Gruppe, warum wohl der Sitz der Kinderschaukel nicht herunterhängt, sondern oben festgezurrt sei. „Weil die Kinder hier nicht frei waren und nicht schaukeln konnten“: Unerwartet schnell kommt die Antwort von Sarina. Erst jetzt liefert Waltraud Eberharter die Schreckenszahlen: Rund 15.000 Kinder gingen hier zugrunde, der Großteil im Alter zwischen 13 und 18 Jahren. „Ihr fragt euch vielleicht, was geht uns das heute – fast 70 Jahre danach – alles an? Aber Vernichtungslager waren nicht von heute auf morgen einfach da. Voran ging der Hass der Menschen, erst dann kamen die Lager. Hass und Hetze finden wir auch heute wieder – heuer im März wurde die Gedenkstätte zum zweiten Mal geschändet.“

Die blondgelockte Anna ist noch atemlos von den kleinen Fotos und Inschriften, die sie in den Räumen nahe der Gaskammer gesehen hat: „Ich habe die polnischen Texte lesen können, da ist so viel Traurigkeit drinnen. Den Frauen muss es besonders schlimm ergangen sein.“

Von den Baracken, die hier klinisch sauber gefegt sind, ist Phillipp aus dem ehemaligen Osten Deutschlands enttäuscht. „Als Schüler waren wir im KZ Buchenwald, da hat man viel mehr im Originalzustand belassen.“ Die Jugendlichen lassen ihren Emotionen freien Lauf, tauschen ihre Eindrücke unter sich aus – und ein Mädchen zahlt ihren wärmenden Kakao aus dem schicken Luis-Vuitton-Geldbörsl.

Patrick hat seine Strickmütze längst abgenommen. „Ungefähr 300 Häftlinge wurden am 8. August 1938 aus dem KZ Dachau für den Lageraufbau nach Mauthausen überstellt. Sie wurden von 80 Angehörigen des Dachauer SS-Totenkopfverbandes bewacht, die somit den Grundstock der SS-Bewachungseinheiten in Mauthausen bildeten“, teilt Waltraud Eberharter im Verlauf der drei Stunden emotionslos mit. Patrick, den Jungen mit dem „falschen“ Opa, fragt sie irgendwann zwischendurch: „Du weißt schon, dass man sich zur SS freiwillig melden musste?“ Patrick schweigt.

Erst auf der Rückfahrt nach Wien folgt die Reaktion. „Na ja, die Oma hat gesagt, es war damals nicht wirklich freiwillig“, flüstert er leise im Bus.

Dann wechselt er schnell zu seinen Berufsplänen, er möchte ins mittlere Management des Hotels Le Meridien aufsteigen, wo er jetzt Lehrling ist. Anna, Patrick, Sarina und Phillipp kehren morgen früh in den hektischen aber sicheren Schoß der Fünfsterne-Hotellerie zurück. Es war doch kein Schultag wie jeder andere. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2010)

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