Der virtuelle Patient

virtuelle Patient
virtuelle Patient(c) AP (Dave Thompson)
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Das System der Vorsorgeunter- suchung und Früherkennung hat einen riesigen, viele Euro- milliarden schweren Markt eröffnet. Und unser Leben zu einer Krankheitspräventionsexistenz gemacht.

Vorspiel beim Internisten.– Natürlich mache ich Bewegung, sage ich zu meinem Internisten, als er mich fragt, ob ich Bewegung mache. Jetzt schaut er mir direkt in die Augen, das fürchte ich am meisten. Er schaut mir in die Augen und fragt: Bewegung? Mache ich, sage ich, ich gehe spazieren. Da gibt mein Internist ein Geräusch von sich, das ich nochnie bei ihm gehört habe. Er lacht. Dann sagt mein Internist: Spazierengehen ist keine Bewegung.

Und dann zeigt er mir, was eine Bewegung ist. Sitzend hebt er abwechselnd seine Arme hoch über den Kopf, während sich unter dem Tisch, an dem er sitzt, seine Beine gegenläufig heben und senken, linker Arm, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Arm. Das ist eine Bewegung, sagt er. Aber Spazierengehen ist auch eine, erwidere ich starrsinnig. Spazierengehen, sagt jetzt mein Internist, indem er mich entlässt, Spazierengehen ist nicht Nordic Walking...

Nordic Walking also, das ist der Fortschritt. Der Fortschritt erst macht, dass aus dem Spaziergänger von einst einer wird, der sich bewegt. Doch wie schon Nestroy zu berichten wusste, hat der Fortschritt außerdem an sich, dass er größerausschaut, als er wirklich ist. Warum? Weil
jeder Fortschritt mitunerwünschten Folgenzu kämpfen hat – mitNebenfolgen, die unterUmständen einen Teildes Fortschritts zunichtemachen. Das gilt auch für die ärztliche Kunst. Fünf Thesen sollen das Nestroysche Phänomen im Folgenden schlaglichtartig beleuchten.

1. These: Umso mehr Medizin es gibt, umso mehr fühlen sich die Menschen krank oder durch Krankheit bedroht.

Durch verfeinerte Diagnosemethoden undverschärfte Grenzwerte, bei deren Überschreitung eine krankheitsvorbeugende Behandlung empfohlen wird, treten immer mehr Personen in immer jüngeren Jahren in den Kreis derer ein, die sich bereits als Patienten – sozusagen als Patienten in spe – fühlen. Das gilt besonders für Gesellschaften, wo das System der Vorsorgeuntersuchung und Früherkennung einen riesigen, viele Euromilliarden schweren Markt eröffnet hat.

Die Anhebung des Gesundheitsbewusstseins hat zur Folge, dass die Freizeitaktivitäten zu Krankheitsvermeidungsaktivitäten werden, ob man sich nun gesund ernährt, legale Drogen meidet oder Ausgleichs- und Fitnesssport betreibt. Wir leben in einer Kultur, in der ganze Industrien davon profitieren, dass Menschen, statt sich als gesund zu erfahren, sich als „noch nicht krank“ definieren und dementsprechend ihr gesundes Leben als eine Krankheitspräventionsexistenz führen. So entsteht der – wie ich sagenmöchte – virtuelle Patient, der lebt, um nicht krank zu werden.

Ferner: Mit dem rapiden Anstieg der Behandlungsmöglichkeiten steigt die Wahrscheinlichkeit, als Patient in eine schier endlose Behandlungskarriere einzutreten nach dem Motto: „Da lässt sich immer noch etwas machen.“ Dabei lernt man, selbst wenn die Krankheit überwunden ist, sich als Patient, nämlich als virtueller Patient, zu fühlen. Man lebt eben nicht mehr einfach als Genesener, sondern als Exkranker, im Schatten eines temporären Krankheitsstillstandes. Der forcierte, profitable Ausbau der medizinischen Risikoforschung verstärkt außerdem das Gefühl, dauernd irgendwie ungesund zu leben, bis einem der Umstand, dass etwas auf die überkommeneWeise genossen wird, an sich verdächtig vorkommt. Sollte man nicht, bevor man genießt, die Ernährungsberaterin konsultieren? Dass die Franzosen im Durchschnitt größere Mengen Rotwein trinken als wir, wird inzwischen nicht mehr mit der spezifisch französischen Kultur, sondern volksgesundheitlich erklärt: „Rotweintrinker leben länger.“

Allgemein gilt, dass das Wohlbefinden des virtuellen Patienten bei der Konsumierung von immer neuen Diäten, Gesundheitssportarten, spirituellen Aktivitäten etc. pp. prinzipiell zweideutig bleibt. Denn insgesamt verdüstert sich die Stimmung durch die ständige Ängstigung, gesundheitspräventiv niemals genug zu tun und für den Fall, dass man alt genug wird, das Leben eines multiplen Dauerkranken, der zu nichts nütze ist, fristen zu müssen.

2. These: Umso mehr abstrakte ethische Prinzipien in der Medizin Platz greifen,umso weniger ist die Rolle des „guten Arztes“ noch verfügbar.

„Der gute Arzt“, so heißt ein Buch des Psychiaters Klaus Dörner. Dieser Typus ist dadurch definiert, dass der Arzt seinem Patienten ein Wohlwollen entgegenbringt, welches über die professionelle Rolle hinausgeht. Der „Hausarzt“ handelt eher wie ein guter Freund der Familie und weniger wie ein Handwerker, der ins Haus kommt, um einen technischen Defekt zu reparieren. Wo indes Beziehungen zusehends verrechtlicht werden, dort kann ein Wohlwollen, wie es für den Typ des guten Arztes prägend ist, kaum noch praktiziert werden. Wohlwollen, „benevolence“, wird stattdessen zu einer abstrakt ethischen und gesetzlichen Kategorie.

Darüber hinaus wird Wohlwollen in Begriffen des Dienstleistungsgewerbes erfasst. Anlässlich einer Werbekampagne im ORF war vor einigen Jahren der Schauspieler Tobias Moretti zu sehen, wie er auf einerWirtshausbank im Grünen sitzt und den Zuschauer fragt: „Wissen Sie, was die besten Gasthäuser der Welt sind?“ Seine Antwortnach einem Schluck Rotwein: „Hospize.“ An diesem Beispiel sieht man, wie das Fehlen des guten Arztes und die Schönfärbung des Sterbens miteinander zusammenhängen.

Zum „guten Sterben“, könnte man sagen, gehört der gute Arzt – und für manche auch der Priester – mit dazu. Fehlen diese Begleiter, dann muss die Fantasie der Lebenden aus dem Sterben etwas machen, was dem Verbringen eines schönen Sommernachmittags in einer Buschenschank ähnelt. Unnötig zu sagen, dass dieses Szenario mit der Realität des massenhaften, sich aufgrund der Überalterung unserer Gesellschaft verdichtenden Alterselends – bis hin zum Sterbebett – nichts zu tun hat.

Derlei Entwicklungen erklären auch einen Teil des Medizinethik-Booms. Während die Macht bei den Geräten, der Geschicklichkeit der Ärzte und den ökonomischen Ressourcenliegt, braucht man Ethiker und Ethikkommissionen, um das Fehlen des guten Arztes und der ihm eigenen Autorität auszugleichen. Außerdem führt der technische Fortschritt zusammen mit der Verrechtlichung des Arzt-Patienten-Verhältnisses immer wieder zu einer Fülle moralisch sensibler Fragen, die sich bisher nicht stellten.

Ein extremes Beispiel bildeten die sogenannten Wrongful-Life-Prozesse. In diesen Verfahren klagten (meistens vertreten durch einen Elternteil) Menschen, die aufgrund eines vorgeburtlichen Diagnosefehlers nicht als schwerstbehindert erkannt und abgetrieben, sondern ins Leben gebracht worden waren. Der Gemeinverstand der Juristen befand letztlich unisono, niemand habe ein Recht darauf, nicht geboren zu werden.

3. These: Umso mehr auf die „Patientenautonomie“ geachtet wird, umso weniger rationale und psychische Bewegungsfreiheit bleibt unter Umständen dem Patienten.

Menschen, die ernsthaft erkrankt sind, suchen ärztliche Hilfe auch in dem Sinne, dass sie nach einem autoritativen Rat verlangen, was für sie das Beste sei. Sie möchten, dass ihnen die Last der Entschei-
dung, die sie als Laien nicht kompetent treffen können, abgenommen wird. Der Rat des guten Arztes, der fachlich versiert und zugleich menschlich besorgt ist, statt sich ausschließlich an allgemein ethischen und juristischen Normen zu orientieren, hilft dem Patienten nämlich erst, so etwas wie Autonomie gegenüber den existenziellen Untiefen des eigenen Leidens zu entwickeln.

Desto weniger jedoch der Typus des guten Arztes zur Verfügung steht, desto größeres Gewicht wird auf den „informed consent“, die unterrichtete Zustimmung des Patienten, gelegt. Das Modell ist dabei der Vertragsschluss, der zwischen wohlinformierten Parteien zum wechselseitigen Vorteil stattfindet. Doch der „informed consent“, der auf den Patienten die Last der Risikoabwägung überträgt, macht schon deshalb keine autonome Entscheidung möglich, weil sich Risiken und Chancen oft gar nicht „abwägen“ lassen. Dafür gibt es – bildlich gesprochen – keine Waage, deren sich der Laie bedienen könnte.

Soll er zum Beispiel nach der Lektüre eines seitenlangen Aufklärungsformulars über die Modalitäten der operativen Entfernung eines Aneurysmas im Gehirn eine Entscheidung treffen, dann wird diese trotz der objektiv beratenden Stimme einer ärztlichen Kontaktperson in erster Linie Ausdruck der jeweiligen Persönlichkeit, der familiären Unterstützung oder sozialen Isolation des Patienten sein. Man kann so eine Entscheidung aufgrund der Informationsprozedur formal „autonom“ nennen; aber das ist dann eher ein sprachliches Etikett zum Zwecke der Rechtfertigung ärztlichen Handelns als ein von der Sache her berechtigtes Urteil.

Der Autonomiemangel des auf seine Freiheit festgelegten Patienten spiegelt sich auch darin, dass er, wo sein Lebenswille ihn antreibt, noch jenseits aller Sinnhaftig-
keit jeden pharmakologischen und chirurgischen Strohhalm ergreift. Unvermeidlich wird der Patient jenseits der Hilfestellung des guten Arztes zu einem Sklaven der medizintechnischen Möglichkeiten, dieihm von den Spezialisten der Zunft pflichtgemäß offeriert werden. Deshalb ist, abgesehen vom Rechtsinstitut der Patientenverfügung, der verbreitete Wunsch nachaktiver Sterbehilfe immerhin verständlich. Er bringt angesichtsder Angst, noch als Todkranker medizinisch weitergeschleppt zu werden, ein berechtigtes Verlangen zum Ausdruck: Man will im Angesicht des Todes jene Autonomie über sein Leben ausüben dürfen, die auszuüben von einem die ganze Zeit verlangt wurde.

Ob man deshalb für die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe plädieren sollte, ist allerdings wieder eine andere Frage. Ihre Beantwortung hängt, lässt man religiöse Bedenken einmal beiseite, von der Missbrauchsanfälligkeit einer liberalen Regelung und von anderen unerwünschten Nebenfolgen ab – Stichwort: „soziale Verrohung“.

4. These: Umso mehr sich – mangels des „guten Arztes“ – ganzheitliche Besorgtheit im nichtärztlichen Bereich der Pflege findet, umso größer ist die Gefahr der Entgleisung, falls die Beziehung zum Patienten nicht professionell distanziert bleibt.

Zur Erinnerung: 1989 gestehen Waltraud Wagner und drei andere Hilfsschwestern, eine Vielzahl von Patienten im Alterspavillon V der 1. Medizinischen Abteilung des Krankenhauses Lainz ermordet zu haben. Wagner war anfangs eine überdurchschnittlich engagierte, tüchtige Krankenschwester, die das besondere Vertrauen der Ärzte genoss, welche sich freilich kaum Sorgen um die psychische Situation Wagners machten. Es fehlten hinreichende Begleitmaßnahmen, um den Schwestern zu helfen, mit ihren destruktiven Impulsen, ihrer Einsamkeit und ihrer Erschöpfung umgehen zu lernen. – Auch wenn sich die Lage unterdessen entscheidend gebessert hat, so bleibt die ganzheitliche Betreuung eine der komplexesten Aktivitäten, dieim Spitalsbereich zumTeil unter höchstem Belastungsdruck stattfindet – einem Druck übrigens, dem heute zusehends die Turnusärzte ausgesetzt sind. Es gibt Berichte in der neueren Literatur, die zeigen, wie das Pflegepersonal zu Maßnahmen des rituellen Selbstschutzes vor dem Betreten und nach dem Verlassen einer Altersstation greift: „Die Mitarbeiter(innen) einer mir bekannten Station bauen sich jeden Tag nach dem Frühdienst eine rituelle Suchtschleuse ein“, schreibt Erich Schützenhof in seiner Abhandlung „Das Recht der Alten auf Eigensinn“: „Bevor sie die Welt der Pflege verlassen, wird eine Flasche Wein geöffnet, und jeder Pflegende trinkt ein Glas. So spülen sie geradezu symbolhaft den Dreck, den Lärm und die Gerüche weg und stimmen sich auf ihre Normalität ein.“

Gerade weil Altersstationen ein empfindlicher Sonderfall sind, besteht in ihnen das Grundproblem der „guten Hilfe“ besonders drastisch. Wer dem Patienten gegenüber menschlich anteilnehmend agiert, ohne dabei vom ganzen Spitalsmilieu einschließlich der Ärzte unterstützt zu werden, setzt sich zugleich der Gefahr seelischer Verletzungen aus, die umgekehrt für den Patienten schlimme Folgen haben können.

Katharina Gröning schildert in ihrem Buch„Entweihung und Scham“ pflegerischeGrenzsituationen: „Ein alter Patient beschmierte sich mit seinem Kot, worauf die Pflegekräfte ihn in folgender Weise bestraften: Sie säuberten seinen Körper, nicht jedoch sein Gesicht, sodass er längere Zeit mit einem kotbeschmierten Gesicht im Bett lag.“Dazu Gröning: „Ganz offensichtlich haben die Schwestern das Sich-mit-Kot-Beschmieren des Patienten als Angriff auf ihre Ehre und als Verunreinigung des sauberen Krankenhauses erlebt.“

Man erkennt, in welch hohem Maße der Patient gerade von denen als Person wahrgenommen wird, die sich vermutlich leichter täten, in ihm eine Art neutraler Arbeitssituation zu sehen, die wieder in Ordnung gebracht werden muss. Wäre die Fähigkeit zur Distanzierung hier nicht ein Zeichen größerer Professionalität? Die Frage ist zweischneidig. Denn obwohl Distanzierung im Pflegebereich zur Professionalität derRolle gehört, kann siedoch – Stichwort: „Verdinglichung“ – die Fol-
ge der Unfähigkeit oderdes Unwillens sein, sich dem Patienten ganzheitlich, sowohl mit dem nötigen Respekt als auch mitmenschlich besorgt, zuzuwenden.

5. These: Je stärker die Forderung nachdem „autonomen Sterben“ wird, umso lebensfixierter wird die Gesellschaft und umso sinnloser erscheint der Tod.

Das Modell des selbstbestimmten Lebens legt fest, dass eine Person, sobald sie genügend Vernunft besitzt, einen eigenen Willen hat und ihre Vorlieben kennt, über alle wichtigen Aspekte ihres Lebens selbst entscheiden können sollte. Doch wenn dieses Modell für Gesundheit, Bildung, Religion, Beruf, Einkommen und Sexualität gilt, dann ist nicht einzusehen, warum akkurat Sterben und Tod dem autonomen Entscheidungsbereich einer Person entzogen werden dürften. Dennoch gibt es immer wieder Einwände gegen die Autonomie am Lebensende: Es wird die Meinung vertreten, dass im Sterben und beim Tod niemand wirklich „frei“ sei. Denn an die Stelle des eigenen Willens trete zunehmend die menschliche Natur. Man hänge an der Kette des Lebens. Manchmal wird gesagt, mit Bezug auf den Tod sei die Forderung nach Autonomie Unsinn, weil der Tod schon seiner Bedeutung nach etwas sei, wozu es keine Alternative gebe; man könne sich seinen Tod nicht aussuchen.

Das ist zwar alles richtig, aber irgendwie auch belanglos. Denn die Fragen der Autonomie beziehen sich, sofern sie sinnvoll gestellt sind, nicht auf den alternativlosen Tod, sondern auf die möglichen Alternativen des Sterbens (und dabei, wie im Falle der Patientenverfügung, häufig im Voraus): Wie, wo undwann möchte man sterben? Doch auch nach Beseitigung der üblichen Einwände bleibtvielfach ein Unbehagen. Dieses wird in die The-
se von der Todesverdrängung gefasst: DerTod werde kollektiv verdrängt; und wer ein Verdrängender sei, könne nicht zwanglos handeln. Aber worin besteht denn die viel beschworene Verdrängung eigentlich? Massenmedial wird der Tod dauernd vor Augen geführt, viele Menschen haben todkranke Anverwandte, ab einem bestimmten Alter findet man sich immer öfterauf Begräbnissen...

Dennoch: Gerade weil wir in einer medizinisch hochgerüsteten Gesellschaft leben, die das Postulat des autonomen Sterbens unterstützt, sind wir heute – stärker als in religiös geprägten Gesellschaften – mit einer existenziellen Notlage konfrontiert: Der Tod erscheint, alles in allem, als sinnlos. Heute wird das Leben als ein einziger Kampf gegen Alter und Verfall geführt; deshalb die mittlerweile ebenso modischen wie hilflosen Warnungen vor dem Gesundheitswahn, demSchönheitswahn, dem Sportlichkeitswahn.

In einer solchen Atmosphäre ist der Tod notwendig immer nur das, was nicht sein soll. Der Tod ist gleichsam der Schwarze Freitag des Lebens, nicht dessen möglicherweise friedvolles Ende nach einer sinnerfüllten Spanne an Zeit. Das erklärt, warum wir nolens volens am Leben hängen wie der Süchtige an der Nadel und dabei nach und nach, unweigerlich, zu virtuellen Patienten werden.

Nachspiel unterm Kalvarienberg. – Dauernd werden wir von hinten angeklingelt, weil wir als Fußgänger den Radfahrern im Weg sind, die in windschlüpfrigen Anzügen stecken, auf die sie sich gerne irgendwelche Firmenabzeichen kleben, damit sie wie Profis wirken. Und dabei wetzen sie, inmitten der schönen Naturdinge, hässlich verkrümmt auf ihren Sportsatteln herum, dieihnen mittendurch in den Hintern schneiden, und schnaufen und starren vor sich hin, in den Boden hinein, während sie nach unten weg strampeln, den Daumen an der Klingel wie am Abzug einer Waffe.

Und dann die Jogger, halb blind vor lauter Blut im Kopf oder einer Ohnmacht nahe wegen des Blutmangels im Gehirn, die Ohren zugestöpselt, die Blößen spärlich bedeckt. Meine Frau und ich scheinen die letzten Spaziergänger zu sein. Gerade stolpert ein vor Erschöpfung halb toter Läufer buchstäblich vor meiner Nase in die weit ausholende Stockspitze eines Nordic Walkers: „Tschuldigung, nix passiert!“

Was hilft's, „in the long run we are all dead“. Man muss den Tod ja nicht dauernd in Gedanken mit sich oder gar auf der Zunge tragen. Es reicht, wenn man spazieren geht. Spazierengehen und Vergänglichkeit gehören zusammen. Das eine macht das andere leichter, indem man die Dinge im Vorübergehen nicht achtlos beiseiteschiebt, nicht blind an ihnen vorbeistiebt, aber – an ihnen vorbeispazierend – sie doch sein lässt.

Unser Weg entlang der Mur-Auen führt uns über eine Brücke auf die gegenüberliegende Seite des Flusses. Der Kalvarienberg mit seiner hoch aufragenden, in der Abendsonne hell leuchtenden Kreuzesgruppe weicht seitwärts zurück. Man kann auch denTod sein lassen. Das sagt sich leicht und fällt nicht schwer, während wir, erfreut über das am Flussufer geschäftige Entenvolk, unseren Spaziergang fortsetzen.

Es lockt ja, gesäumt von Kastanienbäumen,unser Einkehr-Ort, das Café Grossauer, wowir gerne eine halbe Stunde verweilen, um uns, mit einem Blick in die hier aufliegendenBunten Blätter, über den aktuellen Kampf der Schönen und Reichen gegen Krankheit, Alter und Verfall zu informieren. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2010)

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