„Nicht genug Verstand“

Durch eine Kukuruz-Wette mit Leopold Figl wurde Nikita Chruschtschows Österreich-Besuch des Jahres 1960 Teil des hiesigen Anekdotenschatzes. Worum es damals wirklich ging, erzählen Chruschtschows bislang auf Deutsch unveröffentlichte Memoiren.

Sechster Juli 1960, nachmittags. Wir standen an der Packer Bundesstraße in Kärnten. Die Aufregung war groß: Chruschtschow auf Staatsbesuch in Österreich. Und er würde auf seiner Rundfahrt auch hier vorbeikommen, hieß es. Tatsächlich, da war die Kolonne: Mit Blaulicht, den „weißen Mäusen“, den Begleitautos. Und mittendrin: der Bus mit Nikita S. Chruschtschow, jenem Kreml-Herrn, der kurz davor den US-Aufklärungsflieger Gary Powers über dem Ural hatte abschießen lassen und der im Kalten Krieg die Schalthebel zur Atombombe in der Hand hielt. Heute wissen wir, dass er für den atomaren Angriff mit Flugzeugen eine eigene Kommandozentrale nahe am Kreml, tief unter der Moskauer Erde, gebaut hatte.

Für wenige Sekundenbruchteile fuhr der Bus ganz dicht an uns vorbei. Ja, wir hatten ihn gesehen – oder glaubten es zumindest. Dieser Staatsbesuch, zu einer Zeit, als der Kalte Krieg sehr heiß wurde, sorgte auch international für großes Aufsehen. Eben erst hatte Chruschtschow den Pariser Gipfel wegen des U2-Überflugs von Powers abgebrochen und von Eisenhower eine Entschuldigung verlangt, die dieser nicht lieferte. Dann kam die Sache vor die UNO, wo die Sowjets den Kürzeren zogen. Der Westen schien geeint wie selten.

Und es war ein ungewöhnlich langer Staatsbesuch. Eine internationale Konferenz auf der Schallaburg rückte ihn jetzt wieder ins Blickfeld. Neun Tage tourte der Kreml-Chef in einem zu einer Art Salonwagen umgebauten Postbus durch die Bundesländer, besuchte Fabriken und Kulturstätten und wettete mit Leopold Figl, dass der russische Mais mehr an Ertrag abwerfe als der österreichische. Die Wette verlor Chruschtschow, eingelöst hat er sie nicht. Auf Russisch liegen die Erinnerungen Chruschtschows nun vierbändig vor. Er hat sie auf seiner Datscha bei Moskau diktiert. Frisch von der Leber weg, impulsiv, wie es seine Art war. Streckenweise ungehobelt, undiplomatisch. Sie geben uns den Blick frei hinter das Offizielle. Und alles, was so ferne klingt, taucht wieder auf: Budapest 1956, Berlin 1961, Kuba 1962, der erste Mensch im All, der Russe Gagarin, der Wiener Gipfel mit John F. Kennedy.

Ein Kapitel widmet er darin seiner Reise durch und seiner Sicht auf Österreich. Chruschtschow beginnt sein Österreich-Kapitel mit den Staatsvertragsverhandlungen von 1955. Er hatte dabei wesentlich Regie geführt. Und er erinnerte sich an das abschließende Staatsbankett im Kreml:

Neben mir – Raab. Ich zu ihm: „Zum ersten Mal in meinem Leben, Herr Raab, komme ich neben einem Kapitalisten zu sitzen. Als ich noch ein Arbeiter war, da hatte ich nur mit den Handlangern des Kapitals zu tun. Da gab es in unseren Fabriken, wo ich arbeitete, Streiks. Ich verhandelte mit der Betriebsführung. Dort stieß ich direkt auf die Handlanger der Kapitalisten. Die Kapitalisten selber waren große Bosse und lebten in St. Petersburg oder sonst wo, wir bekamen sie jedenfalls nie zu Gesicht. Aber jetzt sitze ich an ein und demselben Tisch mit einem leibhaftigen Kapitalisten, und ich kann ihn, wie man so sagt, sogar anfassen.“ Raab lachte und antwortete: „Herr Chruschtschow, natürlich bin ich ein Kapitalist, aber ein kleiner, sogar ein sehr kleiner.“ „Sie sind dennoch ein Kapitalist. Für Sie arbeiten Arbeiter, und ich bin ein Arbeiter. Wäre ich Österreicher, so würde ich vielleicht bei Ihnen arbeiten.“ „Ja, sehen Sie“, so Raab darauf, „sogar wir beide kommen zu einer Vereinbarung. Ein Kapitalist und ein Arbeiter haben etwas vereinbart, und gemeinsam haben sie ein gutes Werk getan.“ Alles endete mit einem gut gemeinten Toast.

Das Gespräch mit Kreisky gefiel mir auch. Ich zu ihm: „Ich unterstütze die Idee ihres Chefs, des kleinen Kapitalisten, des Herrn Raab!“ Er zu mir: „Genosse Chruschtschow“ (doch, ja, er redete mich in der Manier der Arbeiterbewegung an), „ja wissen Sie denn überhaupt, was das Wort Raab heißt?“ „Nein, das weiß ich nicht.“ „Und dennoch gefällt Ihnen Raab?“ „Ja, wir machen mit ihm ein gutes Werk.“ „Raab heißt auf Russisch: die Krähe.“ Da sah ihn Raab an und lächelte. Ich fuhr fort: „Na und? Dann machen wir eben mit einer Krähe ein gutes Werk. Sie sind doch dabei?“ „Selbstverständlich, ich unterstütze Sie beide.“ Diese Schnurren demonstrierten die gegenseitige Sympathie und Zwanglosigkeit der aufgebauten Beziehungen.

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Österreich spürten wir noch stärker die Notwendigkeit, unser Vermögen dort zu liquidieren, was für uns besonders schwierig war, weil wir doch die Interessen der KPÖ berücksichtigen mussten. Einige ihrer Funktionäre arbeiteten in unseren Fabriken und hatten dort Einfluss und unsere Unterstützung. Wir haben die KPÖ-Führung von unseren Vorhaben unterrichtet und ihr unsere Gründe für diese Entscheidung dargelegt: Ohne einen technologischen Schub könnten wir das Lohnniveau nicht mehr halten. Und wenn in unseren Werken die Löhne niedriger sind als in den kapitalistisch geführten Betrieben, so wäre dies eine Diskreditierung des sozialistischen Systems und würde der politischen Arbeit der KPÖ schaden. Oder wir schreiben Verluste, was auch nicht geht. Die KPÖ-Führer akzeptierten unseren Beschluss.

Dann verhandelten wir mit der Regierung über den Verkauf der (USIA-)Betriebe. Wie verhielt sich die österreichische Regierung dazu? Ich meine, zwiespältig. Einerseits, das gilt für die bürgerlichen Parteiführer, wollte man, dass wir die Betriebe verkaufen und überhaupt aus Österreich verschwinden, inklusive unserer Betriebsleitungen. Die Sozialdemokraten wollten zwar auch, dass Österreich unsere Betriebe kauft, doch hatten sie auch eigene Interessen. Wie wir später erfuhren, wollten sie diese Betriebe nicht privatisieren, sondern weiter verstaatlicht halten. Ich verstehe nicht, welchen Vorteil sie sich davon versprachen. Kann sein, dass sie damit rechneten, dort sozialistische Kader aufzustellen und ihre Leute dort unterzubringen. Vielleicht hofftensie, aus diesen Betrieben irgendwelche materiellen Vorteile für ihre Partei zu ziehen. Das alles sind meine eigenen Vermutungen. Ich weiß jetzt nicht mehr, auf welche Summe wir uns geeinigthaben, aber es war keine große Summe. Wir haben auch unsere Truppen aus Österreich herausgenommen. Für das österreichische Volk wurde das zu einem Fest. Als Resultat des Abzuges der ausländischen Besatzer bekam Österreich die volle Souveränität und ist jetzt für sich selber verantwortlich. Und die Kommunisten konnten ihre Stimme erheben und die friedliebende Politik der Sowjetunion als beispielhaft hinstellen und die kommunistischen Ideale propagieren. Mit einem Wort: Alle waren wir zufrieden.

Bald fühlte Wien bei uns vor, wie wir denn zu einer Einladung stünden, mit einer sowjetischen Regierungsdelegation Österreich einen Freundschaftsbesuch abzustatten. Wir meinten einhellig, dass so ein Besuch nützlich wäre, und gaben unser Einverständnis. Die Delegation sollte vom Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR angeführt werden. Das war damals schon ich selber. Zur Delegation gehörten Außenminister Gromyko und andere verantwortliche Entscheidungsträger.

Die Begrüßung entsprach unserer Position und war prachtvoll. Dann begannen die offiziellen Empfänge und Verhandlungen. Wir hatten überhaupt keine Forderungen gegenüber Österreich, und Österreich hatte keine gegenüber uns.

Für uns war es interessant, Österreich zu sehen. Mich persönlich trieb auch die Chance, die bürgerliche Atmosphäre zu beschnuppern, diese selber zu erfühlen. Ich wollte einen Blick auf die Industrieproduktion werfen, durch das Land fahren, mich mit den Lebensbedingungen der Bauern bekannt machen. Insgesamt erwachte in mir ein großes Interesse, andere Länder zu sehen, besonders natürlich jenes Land, in dem wir selber früher Okkupanten waren.

In Österreich war ich ja schon früher gewesen: 1946 bat ich Stalin, nach Deutschland fahren zu dürfen, zu den Standorten unserer Truppen. Und von dort fuhr ich über die Tschechoslowakei nach Wien. Oberkommandierender unserer Truppen in Österreich war Generaloberst Kurassow. Mich interessierten die städtische Wirtschaft und Betriebe, die Konsumgüter erzeugten. Das alles war bald nach dem Krieg, als wir nichts hatten und wir sehen wollten, wie denn das alles in Österreich gemacht wird. Ich interessierte mich auch für die Wäschereien. Wir hatten noch keine modernen Wäschereien, alles wurde noch von Hand gemacht, wie zu Großmutters Zeiten. In Österreich gab es bereits Waschmaschinen in den Wäschereien. Ich sah sie und war entzückt, doch wir konnten damals bei uns so etwas noch nicht organisieren, unsere Technik war noch auf keinem hohen Niveau.

Dann zeigte mir Kurassow das Kaiserschloss Schönbrunn, sehr reich. Als wir an britischen Kasernen vorbeifuhren, übte eben eine Abteilung militärische Empfänge. Ich sah damals zum ersten Mal schottische Schützen in ihren Röcken. Noch lange machten wir uns über die Schottenröcke lustig. Ich fuhr damals ja inkognito als „General Petrenko“ und war in Uniform, um keine besondere Aufmerksamkeit hervorzurufen. Von unseren Militärs gab es dort jede Menge, und ich war unter ihnen – einfach ein russischer General mehr.

Wir fuhren in die US-Zone, eben da, neben dem Kaiserschloss. Wir betrachteten die Umgebung durch das Fernrohr, einige begannen sie zu fotografieren. Amerikanische Einheiten bauten Tribünen auf. Als unsere Leute zu fotografieren begannen, brausten sehr rasch Motorradfahrer heran – die US-Militärpolizei. Doch sie kam nicht bis zu uns heran, sondern stoppte etwas weiter entfernt und beobachtete unser Tun. Ich war auch in der Wiener Oper mit den wunderbaren Stimmen. Das hat mir sehr gut gefallen.

Ich erinnere mich auch an den Wienerwald mit einer sommerlichen Anlage in der Art eines Restaurants. Der Kommandierende zeigte auf die herausgekratzten Wandbeschriftungen. Einige Familiennamen erschienen mir vertraut. Die Beschriftungen stammten von Teilnehmern der Schlacht um Wien. Offenbar wollte jeder seine Unterschrift an den Wänden hinterlassen. Dort haben sich viele unserer Iwanows verewigt . . .

Nun aber kam ich dorthin als Chef der sowjetischen und als Gast der österreichischen Regierung. Speziell erinnere ich mich an den Besuch in Salzburg. Der Bürgermeister der Stadt war ein linker Sozialdemokrat (Alfred Bäck). Man sagte mir, dass er den kommunistischen Positionen Verständnis entgegenbringe, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und ein Partisan war. Ein Linker nach Art des Westens – das ist kein Linker in unserem, dem kommunistischen Verständnis. Doch jedenfalls war er besser als viele andere Sozialdemokraten.

Ich erinnere mich auch an den Besuch eines Stahlwerkes (Vöest-Linz), nicht weit von Wien entfernt. Österreich – das ist kein großes Land, so dass man die Bestimmungsorte schnell erreichen kann. Das Werk war nach sowjetischen Maßstäben klein, dochmich zog es richtiggehend dahin, denn dort gab es den Konverter-Stahl (das LD-Stahlverfahren) zu sehen. Ich habe viel von diesem Stahl gelesen und hörte mir die Argumente unserer Ingenieure an, die diese Produktionsmethode befürworteten.

Bei der Werksführung legte sich der Vizekanzler (Bruno Pittermann), ein Sozialdemokrat, der uns begleitete, besonders ins Zeug. Er machte damit klar, dass die Österreicher wollten, dass wir von ihnen die Lizenz und die notwendige Ausstattung abkaufen. Ich war tatsächlich ein großer Verfechter eines solchen Kaufes.

Ich erinnere mich nicht an das Fassungsvermögen der Konverter. Nach den jetzigen Maßstäben war der Konverter eher klein. Später las ich, dass wir jetzt Konverter bauen, die wesentlich stärker sind. So soll es auch sein. Die Zeit verging. Auch Österreich produziert heute viel stärkere Konverter. Details weiß ich nicht, weil ich jetzt ein Pensionist bin. Damals jedenfalls entschloss ich mich, dieses Produkt zu kaufen. Doch das war nicht durchzusetzen, selbst bei meinem offiziellen Status als Ministerpräsident. Da bin ich heute noch empört, wenn ich daran zurückdenke. Die einen meinten: „Bald werden wir selber unseren Konverter haben, mit mehr Fassungsvermögen und höherer Leistung. Warum also Geld ausgeben?“ Die anderen stellten überhaupt in Abrede, dass dies eine moderne Methode sei.

Wir haben damals die Lizenz nicht erworben. Doch letztlich haben wir mit großem Zeitverlust die Konverter-Stahlproduktion auch bei uns als die modernste akzeptiert. Nun, was soll's. Wie man eben sagt, da war nicht genug Verstand da.

Wir haben auch das KZ in Mauthausen besucht. Dort sahen wir den Platz, wo man General Karbyschew zu Tode gefoltert hat, indem ihn die Faschisten bei lebendigem Leib einfroren, mit Wasser übergossen und zu einer Eisfigur werden ließen. Wir sahen mit eigenen Augen die gesamte Technik zur Tötung der Menschen, die von den faschistischen Hirnen erfunden wurde. Der Innenminister (Josef Afritsch), der uns begleitete, zeigte uns auch die Zelle, in der er selbst einsaß und von der heraus er selbst durch die Alliierten befreit wurde.


Letztlich wurde das Besuchsprogramm gekürzt, Chruschtschow reiste vorzeitig ab. Der Grund dafür ist nicht ganz klar. Sicher scheint, dass Chruschtschow in Wien eine abhörsichere Telefonleitung brauchte: einerseits, um mit Moskau die Öllieferreduktion abzusprechen, vor allem jedoch um einen weiteren Zwischenfall mit den USA zu koordinieren. Am 1.Juli 1960, als Chruschtschow schon in Wien war, wurde von den Sowjets ein weiteres US-Spionageflugzeug über der Beringsee abgeschossen. Zwei US-Piloten überlebten und wurden gefangen genommen. Moskau hielt dies vorerst geheim, bis in Telefonaten eine Linie festgelegt und Chruschtschow wieder in Moskau war.

Für Österreich brachte der Besuch eine internationale Aufwertung und vor allem eine beträchtliche Verringerung der Erdöllieferungen an die Sowjetunion. Dies hatte Raab dem Kremlchef zu mitternächtlicher Stunde im Villacher Parkhotel abgerungen. Anwesend waren dabei nur noch Raabs Sekretär Herbert Grubmayr, der das Protokoll führte und bei den Übersetzungen von Raabs schwer verständlichen niederösterreichischen Dialektausdrücken mithalf, sowie ein Dolmetscher Chruschtschows.

Für die Reduzierung der Öllieferungen riskierte Raab sogar eine Verstimmung des Westens, weil er auf die Attacken Chruschtschows gegen die Vereinigten Staaten und BRD-Bundeskanzler Konrad Adenauer bei der Abschluss-Pressekonferenz nicht sofort, sondern erst nach der Abreise des Kremlchefs, reagierte. Bonn legte in Wien, zum ersten Mal seit dem Staatsvertrag, offiziell Protest ein, die USA reagierten in scharfem Ton, dass eine „Politik der Neutralität nicht nur Vorteile, sondern auch Verpflichtungen“ bedeute, etwa „zu verhindern, dass irgendeine Macht ihr Territorium benützt, um Angriffe nicht nur militärischer Art, sondern auch durch Worte auf Länder und Regierungen zu starten, mit welchen Sie vermutlich freundliche Beziehungen aufrecht erhalten“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2010)

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