Was bei uns alles passieren kann

alles passieren kann
alles passieren kann(c) Michaela Bruckberger
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Wahlverfälschung mittels Briefwahl? Verspätung beim Budget? Verhinderung zweisprachiger Ortstafeln? – Verfassungsbruch das alles? Na geh, wird schon nicht so schlimm sein! Das kleine Augenzwinkern: über die Na-geh-Republik Österreich.

Die Aufregung war vorhersehbar. Und sie war groß. Die Veröffentlichung einer Studie als Teil einer Doktorarbeit in Österreich schlug Wellen bis nach Deutschland. „Islamlehrer sind Feinde der Demokratie“, titelte die „taz“ in Berlin und rechnete gleich einmal hoch. Statt „jeder fünfte“ Islamlehrer wie in Österreich lehnte in diesem Bericht jeder vierte die Demokratie ab. Gefahr in Verzug für Österreich, war die unterschwellige Botschaft.

Tatsächlich aber haben 200 von rund 400 muslimischen Religionslehrern einen Fragebogen beantwortet. Von diesen 200 haben 21,9 Prozent die Frage, ob sie die Demokratie ablehnen, weil sie sich nicht mit dem Islam vereinbaren lässt, mit Ja beantwortet. Selbst wenn man diesen Prozentsatz auf 400 überträgt, hätten nur etwas mehr als 80 Islamlehrer „die Demokratie abgelehnt“, wie in Österreich darüber berichtet wurde.

Wer fürchtet sich vor so kleinen Zahlen? Sie können die Öffentlichkeit nur deshalb in Schrecken versetzen, weil sie dort auf eine latent vorhandene Bereitschaft treffen, den Islam als die Gefahr für die Demokratie, wie wir sie kennen, zu sehen. Sie werden gewissermaßen als Bestätigung einer unbestimmten Furcht angesehen, die sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den Herzen und Hirnen der Bürger westlicher Demokratien festgesetzt hatund sich aus der Verwirrung der Begriffe Islam, Islamisten, Terroristen, Moslems, Asylanten, illegale Zuwanderer et cetera nährt. Wer Begriffenicht klar zuordnen kann, der überfrachtet sie schnell mit Angst. Daraus wiederum ziehen Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Demokratien ihren politischen Vorteil, indem sie bewusst diese Angst verstärken.

In Österreich aber ist die Ironie – nicht der Geschichte, sondern der Gegenwart – die Fixierung auf die vermeintlichen Gefahren, die vom Islam drohen, während von den eigentlichen Gefahren für unsere demokratische Verfasstheit abgelenkt wird. Wir erschüttern die Grundpfeiler unserer Demokratie schon selbst; für deren Aushöhlung benötigen wir gar keinen Anschlag auf unsere Lebensweise. Wir besorgen das selbst – und noch dazu in allergrößter Gelassenheit. Der Feind ist in uns.

Wir schwächeln demokratiepolitisch dahin und können nur hoffen, dass keine existenzielle wirtschaftliche, soziale oder sicherheitspolitische Krise ein demokratiepolitisches Organversagen verursacht. Sogar Bundespräsident Fischer ist aufgefallen, dass die Demokratie in einem Staat, in dem sie erst vor 65 Jahren wirklich begonnen hat, „nicht unzerstörbar“ ist, wie er im September bei einer Festveranstaltung zum 90. Geburtstag der Bundesverfassung meinte. Schon zwei Monate davor hatte er in seiner Antrittsrede zur zweiten Amtszeit gewarnt: „Es stimmt schon, dass eine gewachsene Demokratie unter normalen sozialen und wirtschaftlichenVerhältnissen ziemlich belastbar ist, aber auch sie braucht Pflege, Respekt und sorgsamen Umgang.“ Er sagte es und fand kein Gehör. Alle stellten sich taub. Das Parlament wie auch die Öffentlichkeit. Ein Diskurs über Beständigkeit oder Schwäche der österreichischen Demokratie fand einfach nicht statt.

Taubheit der Politiker und der Bürger ist in diesem Zusammenhang überhaupt das zentrale Problem. Damit ist nicht (nur)Schwerhörigkeit gemeint, welche die Aufnahmefähigkeit sämtlicher Warnrufe verringert. Niemand hat sich zum Beispielauch nur annähernd so über die Rede Fischers oder des ehemaligenPräsidenten des Verfassungsgerichtshofs, Adamovich, beim Verfassungsfestakt vor einigen Wochen aufgeregtwie über die Umfrage unter 200 Islam-Lehrer, obwohl das „ungute Gesamtbild“ von Demokratie und Rechtsstaat, das Adamovich seinen Zuhörern vorlegte, weit mehr Grund zur Sorge gibt. Allein der Titel seiner Rede „Von der Missachtung bis zur Verhöhnung“ der Bundesverfassung hätte eingeschworene Demokraten aufhorchen lassen müssen. Aber wieder haben sich alle taub gestellt. – Doch die Taubheit, die gemeint ist, geht über Hören und Zuhören hinaus. Taubheit wird hier im Sinn von Empfindungslosigkeit oder Gefühlstaubheit verwendet. Das heißt, wir haben in den vergangenen 65 Jahren nicht genügend Sensibilität für Aushöhlung und Gefahren der Demokratie entwickelt. Dieser Mangel an Empfindung, diese Gefühlstaubheit demokratischen Werten gegenüber, sie sind auch die Ursache, warum sich Österreich so bequem in der Kluft zwischen der Bundesverfassung und Realverfassung eingerichtet hat. Für Verstöße der Realverfassung gegen den Buchstaben der Verfassung fehlt uns jede Sensibilität. Seit Jahrzehnten werden sie augenzwinkernd hingenommen. Die Realverfassung ist die eigentliche Grundlage der österreichischen „Na-geh“-Demokratie. Diese Na-geh-wird-schon-nicht-so-schlimm-sein-Mentalität ist die eigentliche Gefahrenquelle.

Man muss in Gegenwart und Vergangenheit nicht lange nach Beispielen suchen. Am besten eignet sich wohl der aktuellste Fall: Die Bundesregierung beschließt im Frühjahr 2010, das Budget des Folgejahres erst nach dem zwingend vorgeschriebenen 20. Oktober dem Parlament zu übermitteln. Empörte Eliten in Staatsfunktionen und Opposition sowie alle Medien nennen die Entscheidung beim Namen: Bruch der Bundesverfassung. Parlamentspräsidentin Prammer ist unglücklich, mahnt wiederholt, zieht aber keinerlei Konsequenzen – auch jene nicht, die ihr eigentlich in der Verfassung vorgegeben sind: Im Fall der Säumigkeit der Bundesregierungmuss das Parlament einen eigenen Entwurf zum Staatshaushalt vorlegen, der später durch jenen der Regierung ersetzt werden kann. Na geh, wer wird denn die Abgeordneten dazu anhalten, in den Sommermonaten ein Budget auszuarbeiten, für das sie nicht genügend Sachkenntnisse haben. Somit doppelter Bruch der Verfassung. Na geh, was soll die düpierte Prammer schon machen?

Bundespräsident Fischer erinnert die Bundesregierung daran, dass eine Verspätung beim Budget ein Verstoß gegen die Verfassung wäre. Er droht aber nicht mit der Verweigerung seiner Unterschrift unter das Budgetgesetz, obwohl eine seiner wichtigsten Kompetenzen die Beurkundung des verfassungsmäßigen Zustandekommens einesGesetzes ist. Verfassungsbruch kann nicht gleich Verfassungsmäßigkeit sein – außer eben in Österreich. Fischer hätte es in der Hand gehabt, die Bundesregierung zu verfassungskonformem Handeln zu zwingen. Er hätte ihr auch Entlassung androhen können und wäre dabei immer noch unter dem Verfassungsbogen gestanden. Aber geh, wer wird denn wegen eines Budgets und einer ihre Erklärungen im Monatstakt wechselnden, ratlosen Bundesregierung eine Staatskrise heraufbeschwören?

Nur mit einer besonders ausgeprägten Empfindungslosigkeit kann man über das demokratiepolitisch Absurde in diesem Fall hinwegsehen: Der Bundespräsident als oberster Hüter der Verfassung erweist sich als personifizierter Aber-geh-Demokrat. Das lässt sich auch mit einem zweiten aktuellen Beispiel beweisen. Seit Jahren liegt ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs zur Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln in Kärnten vor. Es wurde von Politikern wie Haider und all seinen Sympathisanten verhöhnt und wird weiter negiert. Die Exekution eines Spruchs des Höchstgerichts obliegtaber dem Bundespräsidenten, sobald ihm das Urteil zur Durchsetzung vorgelegt wird. Das ist nie geschehen. Und selbst, wenn das Höchstgericht es in die Hofburg expediert hätte, Fischer könnte jahrelang „prüfen“, um ja nicht handeln zu müssen. Na geh, wer wird schon das Bundesheer nach Kärnten zur Aufstellung von zweisprachigen Ortstafeln entsenden wollen. Ironie in diesem Fall: Fischer sprach die Ortstafeln in seiner zweiten Antrittsrede an, sogar auf Slowenisch, wasihm die größte mediale Aufmerksamkeit von allen Aussagen brachte. Allein, Worte, in welcher Sprache immer, ersetzen verfassungskonformes Handeln nicht. Aber: Na geh, wer wird das so eng sehen?

Diese Art von Mentalität hat auch einen der schwersten Anschläge auf den Kern jeder demokratischen Grundordnung, auf das Wahlrecht, zu verantworten. Die Briefwahl mit der Möglichkeit der Stimmabgabe auch nach Vorliegen des Wahlergebnisses, weil der Zeitpunkt des Ankreuzens nicht überprüft werden und der Stimmbrief erst Tage nach der Wahl bei der Behörde einlangen kann, ist ein Verstoß gegen die in der Verfassung vorgesehenen Regeln. Aus rein parteipolitischen Überlegungen hatten sich SPÖund ÖVP 2006 auf ein Tauschgeschäft geeinigt. Die Sozialdemokraten erhofften sich Stimmen von Jungwählern und wünschten sich die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Die ÖVP träumte von mehr Stimmen der bürgerlichen und mobilen Wählern und wünschte sich die schon lang ersehnte Briefwahl. Das Gesetz war offenbar dermaßen schlampig ausgearbeitet, dass es missbrauchsanfällig war. Na geh, wird schon nicht ausgenützt werden! Es wurde – sogar mit freundlicher Unterstützung der Wiener ÖVP, die per Inserat nach der Gemeinderatswahl auf die Nach-der-Wahl-ist-vor-der-Wahl-Variante aufmerksam machte. Wie gesagt, wir beschädigen unsere Demokratie schon in Eigenregie!

In Wahrheit hätte nämlich schon die Nationalratswahl 2008 vor dem Verfassungsgerichtshof aufgrund der fehlerhaften Briefwahl angefochten werden müssen; hätte es bei allen Wahlen seither einen Aufschrei der Medien und Wähler geben müssen. Es hat sich aber kein empörter Bürger bisher gefunden, die Unversehrtheit seines Wahlrechtes beim Höchstgericht einzuklagen. Dieses kann in solchen Fällen nur nach erfolgtem Urnengang tätig werden. In unserer Na-geh-Demokratie gibt das Unterlaufen des Grundrechtes der Wahl aber nicht genug Empörungspotenzial her. Na geh, was ändert das schon am Ausgang der Wahl?

Nicht alles spielt sich nur auf Bundesebene ab. Die Landesregierung in Kärnten hat unter einem Landeshauptmann Haider drei Jahre lang keinen Rechnungsabschluss vorgelegt, wie es in der Landesverfassung vorgeschrieben wäre. Dieser Verstoß gegen geltendes Gesetz blieb ohne jede Konsequenzen, weil Sanktionen nicht vorgesehen sind und niemand den Kontrollmechanismus der Bundesregierung mittels Ministeranklage des Landeshauptmanns vor dem Verfassungsgericht in Gang setzen wollte. Lokale Journalisten schrieben sich jahrelang die Finger wund, um darauf aufmerksam zu machen, doch weckte dies eine in der Kluft zwischen Verfassung und Realverfassung dahindämmernde Bevölkerung keine Sekunde lang auf. Die Opposition in Kärnten wurde regelrecht vorgeführt. Kontrollmechanismen versagen, und keiner merkt es. Aus diesem Grund kann Kärnten bereits jetzt als Beispiel dafür herhalten, wie unmerklich es in einer bestimmten Situation zu einem demokratiepolitischen Organversagen kommen kann: Einem charismatischen Politiker gelingt es, durch Brot, Spiele und finanzielle Hemmungslosigkeit unter Missachtung gesetzlicher Bestimmungen und durch Ausnutzung der Schwäche ehemals großer Parteien wie ÖVP und SPÖ die Mehrheit der Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen. Die Rest-Opposition ist personell und politisch nicht in der Lage dagegenzuhalten. Die übrige politische Elite der Republik hüllt sich aus Angst vor der Popularität des Charismatikers und aus politischem Kalkül in Schweigen. Die Kärntner ÖVP wurde von Haider „bedient“, in mehr als einem Wortsinn, die einst mächtige SPÖ begleitete ihren Niedergang mit falscher Personalwahl. Alles ganz demokratisch... Kärnten ist „nur“ an den Rand der wirtschaftlichen Insolvenz geschlittert, die von der übrigen Republik abgewendetwerden musste. Was jedoch, wenn in einer solchen politischen Situation, in der die parteitaktischen Hasardeure,nunmehr die Erben des Charismatikers, jedes Mittel zum Machterhalt einsetzen – wennalso in einer solchen Situation eine weltweite Wirtschaftskrise das Land in eine soziale Zerreißprobe treibt? Wenn schon unter guten wirtschaftlichen Bedingungen und mit sozialer Stabilität Gesetzesbrüche der Regierenden toleriert werden, wie ist es dann mit der demokratiepolitischen Robustheit in einer schweren Krise bestellt? Na geh, wird schon nicht so schlimm werden! Wer sich allerdings an die Missachtung demokratischer Spielregeln gewöhnt hat, wird sie bald nicht mehr vermissen. Oder noch schlimmer: Er wird ihre Abschaffung gar nicht bemerken, weil er für Rechtsverstöße gefühlstaub geworden ist.

Der Fall des Landes Tirol, der erst jüngst einige Publizität erhalten hat, macht noch deutlicher, wie verfassungswidriges Verhalten von Landesregierung und Politikern jahrzehntelang einfach hingenommen werden kann. Ab den 1950er-Jahren waren Grund und Boden im Besitz von Gemeinden mit Nutzungsrecht für Gemeindemitglieder an sogenannte Agrargemeinschaften übertragen worden. In der Folge wurden Grundstücke zu niedrigen Preisen von Großbauern und deren Familien – Politiker inbegriffen – erworben und später nach Einsetzen des Urlaubs- und Touristenbooms mit megasatten Gewinnen veräußert. Seit diese Praxis beim Höchstgericht als verfassungswidrig eingeklagt und erkannt worden ist, versucht sich die politische Elite Tirols aus der Anerkennung des Urteils herauszuwinden.

Die Frage, warum sich in mehr als 40 Jahren niemand rechtlich dagegen gewehrt hat, ist überflüssig: In dem Geflecht von Parteipolitik, lange Zeit absoluter Macht einer Partei in Komplizenschaft mit der anderen Partei und Abhängigkeit der Bürger von jenen Politikern, die oft selbst von dem verfassungswidrigen Vorgehen profitiert hatten, hätte es wahrscheinlich den Mut eines Andreas Hofer benötigt, um den Rechtsbruch anzuprangern. Na geh, wer wird gegen die Mächtigen im Dorf was tun?

Am Fall Tirol lässt sich hervorragend demonstrieren, wie in einer bestimmten politischen Konstellation die Stützpfeiler der demokratischen Ordnung ohne viel Aufsehen zersetzt werden können. Wenn die notwendige Sensibilität für das Verwerfliche unterentwickelt oder nicht ausgebildet ist, bleibt der Zersetzungsprozess lange Zeit unbemerkt. Eine Bedrohung von außen, von Immigranten oder Extremisten etwa, erübrigt sich. Wir graben uns das demokratische Wasser schon ganz alleine ab. Das Zusammentreffen von politischer Schluderei, nonchalanten Gesetzesbrüchen und moralischer Fragwürdigkeit unter den Augen einer gefühlstauben Öffentlichkeit muss nicht, kann aber zu jenem demokratiepolitischen Organversagen führen, von dem dann die Bevölkerung mehrheitlich überrascht sein wird.

Auch die Na-geh-Demokratie ist nicht erst in den letzten Jahren entstanden. Als Erster hat Hannes Androsch davon profitiert. Heute wandelt er als viel gefragter Elder Statesman durch die Republik und leitet seinen privatwirtschaftlichen Erfolg – das sei anerkannt – in das eine oder andere gemeinnützige Projekt ab. Als in den 1970er-Jahren aber die Unvereinbarkeit zwischen seinem Amt als Finanzminister und seiner Teilhaberschaft an einer Steuerberatungskanzlei (mit Aufträgen von Firmen im Besitz der Republik, vertreten durch den Finanzminister) nicht mehr zuübersehen und der Vorwurf der Steuerhinterziehung nicht mehr beiseitezuschieben war, dahörten sich die Reaktionen der Eliten anfangsso an: Na geh, Steuernhinterzieht doch jeder in Österreich. Warum sollte da der amtierende Finanzminister untragbar sein?

Es wäre eine lohnende Aufgabe für die Politikwissenschaft in Österreich, zu erforschen, wann und warum die Gefühlstaubheit politischer, rechtlicher und auch moralischer Fehlentwicklungen im öffentlichen Raum entstanden ist. Jetzt kann man nur deren Existenz befunden und nach Sensibilisierungsprogrammen für eine wirksame Therapie suchen, solange am Gesamtbild, das in jüngster Zeit durch zu viele Einzelfälle entstanden ist, noch Retuschen möglich sind. Wenn einmal die Arbeit daran in einem wohlbestallten, friedlichen und kleinen Landwie Österreich mit seinen überschaubaren und daher lösbaren Problemen von einer Megakrise behindert wird, könnte es zu spät sein. Das Wichtigste wäre vorerst einmal das offene Eingeständnis der fatalen Gleichzeitigkeit einer Glaubwürdigkeitskrise der Politik, einer Vertrauenskrise der Justiz und einer Krise der Moral im öffentlichen Raum. Einemsolchen Eingeständnis aber steht die besagte Na-geh-Mentalität entgegen. Na geh, wer wird denn so übertreiben?

Es ist aber keine Übertreibung, wenn sich alle Bürger an Verfassung und Gesetze halten müssen; nicht aber eine Bundesregierung, eine Landesregierung; ein Landesrat, der nach gerichtlicher Verurteilung sein Amt nicht zurücklegt; ein Bürgermeister, der Wahlfälschung betreibt, dafür von seinem Gemeinderat das Vertrauen ausgesprochen bekommt und erst auf Druck seiner Bundespartei seinen Rücktritt in Aussicht stellt; ein Landtagsvizepräsident, der schwer alkoholisiert am Steuer erwischt wird, somit ein Gesetz verletzt hat und dennoch keinen politischen oder moralischen Grund für einen Rücktritt sieht; ein Finanzminister, der bei Freunderlwirtschaft und Show-Politik keine Grenzen für sich akzeptiert hat. Na geh, er ist doch so fesch!

Es ist keine Übertreibung, wenn der staatliche ORF sich nicht um das Urteil eines Wiener Oberlandesgerichts kümmert, wie im Fall der Bänder „Vom Schauplatz“, und Urteil wie Verweigerung keine Konsequenzen haben; oder wenn Staatsanwälte nicht einmal mehr fähig sind zu prüfen, ob ein Rechtshilfeansuchen aus dem Ausland rechtens ist oder nicht, sondern umgehend zur Einvernahme – noch dazu in dem sensiblen Bereich der Medien – schreiten, wie im Fall Hypo Alpe-Adria und „profil“. Na geh, das kann passieren. Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass die Korrektur eines Urteils durch die Generalprokuratur (Stichwort: Bawag-Prozess) eigentlich rechtsstaatliche Normalität sein sollte und nicht politische Sensation, nur weil überraschenderweise aufdie Ex-Richterin als Justizministerin nicht Rücksicht genommen wurde.

Mit dem offenen Eingeständnis unserer eigenen Empfindungsstörung wäre schon etwas erreicht. Es könnte mit der Therapie begonnen werden. Danach müssten sich die Österreicher nur noch mehrheitlich zur Erkenntnis durchringen, dass „Demokratie keinZuschauersport“ ist und und ihr nicht aus dem radikal-islamistischen Eck die größte Gefahr droht, sondern von den Tribünen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2010)

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