„Lieber Lenin, mach mich fromm!“

Wir lebten in Bukarest, hatten alles verloren, unser Vater war in Sibirien. Wir wohnten bei einem freundlichen Herrn, der uns aufgenommen hatte, weil er in meine Mutter verliebt war. – Erinnerungen an das Rumänien meiner Kindheit.

Eine kleine blaue Schale (Kobalt mit Goldmuster) erinnert an eine Frau, die mir, als ich ein Kind war, ein großes Schokolade-Ei geschenkt hatte. Darin waren Pralinés versteckt, und in den Pralinés lag, eingepackt in Seidenpapier, die blaue Schale mit winzigen Bonbons darin. Das Osterei stammte aus einer jener vielen, mit Süßigkeiten überfüllen Konditoreien in Bukarest, in denen es auch Éclaires, (mit Vanillecrème gefüllt) gab und „Mohrenköpfe“, mit Schlagobers gefüllte flaumige, schokoladeüberzogene runde Kuchen.

Wir lebten in der Strada Crişani in Bukarest, hatten alles verloren, unser Vater war in Sibirien. Wir wohnten bei einem freundlichen Herrn, der uns aufgenommen hatte, weil er in meine Mutter verliebt war. Und die Frau mit dem Osterei, den flachen Schuhen, den grauen Wollstrümpfen und dem Häubchen auf dem Kopf war unser „Schutzengel“ – eine vornehme rumänische Dame, die für das Internationale Rote Kreuz arbeitete. Sie bezahlte meinen Unterricht in der Klosterschule und kaufte mir ein weißes Kleidchen für die Heilige Kommunion. Wir warteten auf eine Ausreisegenehmigung: vom nun feindlichen Rumänien in das zerstörte Deutschland, unsere Heimat. Damals, Ende der 1940er-Jahre, hatten wir das Schlimmste schon hinter uns.

Einige Jahre vorher, am 23. August 1944, war der „Umsturz“, wie meine Mutter das nannte. Es hieß, die Russen seien in Rumänien einmarschiert. Über Nacht wurden die „Reichsdeutschen“, die in Rumänien lebten und arbeiteten, zu Feinden. Sie verloren ihren gesamten Besitz und durften das Land nicht verlassen. Oh doch, mein Vater musstedas Land sogar verlassen: im Viehwaggon Richtung Sibirien. Gemäß den „russisch-rumänischen Waffenstillstandsbedingungen“ wurde er aus dem Konzentrationslager Tîrgu-Jiu nach Russland zur Zwangsarbeit verpflichtet. Abgeholt wurde der Kaufmann Hellmuth Hetzer in unserem Sommerdomizil in den Karpaten um vier Uhr früh durch die rumänische Miliz. Abschiedsbilder sind schwer aus der Fantasie zu löschen. Es ist dieses Sich-noch-einmal-Umdrehen, der letzte Blick, an den man sich später erinnert. Als Kind weiß man nicht, warum Eltern weinen.

Wenige Stunden später flüchteten wir. Aber wohin? Irgendwo in den Bergen wollte meine Mutter sich mit uns verstecken. Wir waren dreifach angezogen und hatten viel zu große Rucksäcke. Bauern gaben uns zu essen, versteckten uns in Scheunen, aber nach kurzer Zeit schickten sie uns wieder fort. Wir waren ja nun „Feinde“. Alle hatten Angst vor Denunziation. Meinem älteren Bruder rasierten sie die verdächtigen „deutsch“-blonden Haare ab. Er sah äußerst komisch aus. Aus Protest verweigerte er „mămăligă cu lapte“ (Maisbrei mit Milch). Ich, ein kleines dickes Kind, habe alles gegessen, was auf dem Teller war.

Irgendwann landeten wir mit dem Zug in Bukarest. Ehemalige jüdische Freunde, denen mein Vater in der Zeit des Nationalsozialismus in Rumänien geholfen hatte, nahmen uns auf, mussten uns aber – zur eigenen Sicherheit – der Polizei melden. Es folgten drei Lageraufenthalte (in ihrem winzigen Tagebuch nennt meine Mutter unter anderem Văcăreşti). Es lag am Rand der Stadt. Petroleumgeruch! Entlausung, Stockbetten, Krankenstation unter Polizeischutz. Aber auch Erinnerungen an freundliche Menschen, wie unseren ehemaligen Kinderarzt, Doktor Fingerhuth, der uns zur Flucht aus dem Lager verholfen hat. Wo sind all diese Menschen geblieben? Immer wieder Abschiede...

Meine Mutter kam wieder in ein Gefängnis in Bukarest, während wir bei Menschen auf dem Land untergebracht waren. Sie hatten eine kleine Farm: Hühner, Gänse, Enten, Schweine und fünf Hunde. Seit damals weiß ich, was Landarbeit bedeutet: Kartoffelkäfer sammeln und umbringen, in Gummistiefeln den Hühnerstall putzen, beim Schweineschlachten zuschauen, Bohnen putzen und Gänseleber essen, weil es keine Kartoffeln gab. Im Dorf trugen die Frauen Kleider aus zweierlei Stoffen. Alle geblümt. Das war die jährlich zugeteilte „neue Mode“. Unsere Kuh gab sensationelle 28 Liter Milch täglich, Zigeuner kamen mit ihrer Wagenkolonne und wollten mich mitnehmen. Aber ich durfte nicht. Sie hießen noch nicht „Roma“, waren aber in Rumänien schon damals so verhasst wie heute. Bären drehten sich auf dem Marktplatz, ein Zigeuner spielte Geige. Es war eine geheimnisvolle, aufregende kleine Welt, in der ich mich arrangiert hatte. Und es gab immer viel zu essen. Nur mein aufsässiger Bruder sah die Welt weniger materialistisch. Er ging ja auch schon in die Schule und betete abends: „Lieber Lenin, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“.

Trommler, dörfliche Nachrichtensprecher, trommelten abends im Dorf und brüllten mit heiserer Stimme die neuesten Bezirks-Informationen. Von der „großen Welt“ erfuhren wir nichts. Es fällt schwer, eine zeitliche Chronologie herzustellen. Erinnerungen stellen sich nicht chronologisch ein. Manchmal entsteht eine Verbindung zur Vergangenheit durch Musik, durch Sprache, durch Fotos aus der Kindheit – und durch Speisen oder Gerüche.

Wann war die Zeit unseres Hungerns in Bukarest? Als mein Bruder und ich mit einer Scheibe Brot aus dem Fenster einer schäbigen Unterkunft hingen und den Duft von „carne la grătar“ (Fleisch am Grill) und „Mititei“ (scharfe kleine Fleischlaberln) einsaugten? Überall in der Stadt gab es diese offenen Grillstationen. Der scharfe Geruch von Knoblauch und „ţuică“, dem schweren rumänischen Schnaps, benebelte uns.

Im Zimmer saß meine Mutter und nähte an der Nähmaschine weiße Lammfellschuhe,die sie bestickte und verkaufte. Davon lebten wir. In der Zeit vor dem „Umbruch“ war sie eine elegante Dame mit kleinen Pelz-Tuffs, oder Körbchen-Hüten mit Schleier auf dem Kopf. Der Pariser Chic war auch in Bukarest eingekehrt. Damals vor dem Einmarsch der Russen.

Auf einem vergilbten Foto sehe ich unser Haus in der Aleea Alexandru 44. Schräg gegenüber von uns wohnte Madame Lupescu,die Geliebte von König Caroll II. – Gregor von Rezzori, in Rumänien geboren, beschreibt in einem seiner Bücher die Gegend meiner frühen Kindheit. Ja, ich erinnere mich wieder! So hat es damals ausgeschaut. Wir wohnten in der Nähe eines Triumphbogens, gleich um die Ecke der Sosea Khisseleff. Ein Diplomatenviertel mit breiten Boulevards und wunderschönen Villen – und dazwischen die Hütten der Zigeuner mit ihren Kindern. Bukarest war immer eine Stadt der Gegensätze, ist es auch heute noch. Eine Verbindung von Okzident zum Orient. Mein erster Schmerz als damals noch wohlbehütetes Kind: Kinder hatten mir meine große Baby-Puppe gestohlen.

Lange hat es gedauert, bis wir Rumänien verlassen konnten und eine „Zuzugsbewilligung“ nach Deutschland bekamen. Dort trafen wir am Bahnhof von Hamburg unseren Vater wieder. Er war „Spätheimkehrer“, ein kranker, gebrochener Mann. Wie bei unserem Abschied von sechs Jahren weinte er. Diesmal vor Freude.

Das deutsche „Wirtschaftswunder“ der Fünfzigerjahre hat er nicht lange genießen können. Kurz vor seinem Tod hat mein Vater die kleine Kobaldschale mit Goldmuster in meinem Zimmer in Hamburg entdeckt. Meine Mutter und ich haben ihm die Geschichte unseres „Schutzengels“ erzählt: die Geschichte der Frau mit dem Osterei und dem Kommunionskleidchen. Eines Tages war sie verschwunden. Die Schulleitung erklärte meiner Mutter, dass kein Schulgeld mehr eintreffen würde. Ich musste das Kloster verlassen und kam in ein Waisenhaus. Dort trugen wir, als Zeichen der Unschuld, weiße Kleidchen und mussten immer ganz dankbar sein. Wo ist sie geblieben, diese wunderbare Frau, Tante Therezia, vom Internationalen Roten Kreuz?

Als Fernsehjournalistin habe ich immer wieder, auch vor 1989 und oft unter großen Schwierigkeiten, Filmbeiträge in Rumänien gedreht. Heimatgefühl und Sprache gehen nie ganz verloren. Sie helfen beim Verstehen eines Landes, das Jahrzehnte aus Europa verschwunden schien. – Bei meiner letzten Dienstreise vor einigen Monaten war ich erstmals seit unserer Vertreibung wieder in der Aleea Alexandru 44. Es war kein freundliches Erlebnis. Zwei alte Menschen haben mich weggejagt. „Immer wieder kommen Leute hierher, die behaupten, sie hätten hier gewohnt. Das ist eine Lüge! Sie wollen uns das Haus wegnehmen!“ „Nein, ich will Ihnen gar nichts wegnehmen. Es sind nur die Erinnerungen an meine Kindheit. Man hat uns damals von hier vertrieben. Es war eine schwere Zeit“, verteidigte ich mich. „Wir haben eine noch viel schwerere Zeit hinter uns!“ Wütend haben die beiden Alten die Haustür zugeschlagen.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 850.000 Juden in Rumänien. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Jüdische Gemeinde zur Hälfte ausgelöscht. Ein Holocaust-Denkmal wurde vor Kurzem in Bukarest eingeweiht.

Im Kommunismus wurden die damals dort lebenden „Reichsdeutschen“ als „Kriegsverbrecher und Kollaborateure“ in Gefängnisse und Lager gesteckt. Der neue Polizeistaat warf ihnen/uns „Spionage und Sabotage“ vor. Die Männer wurden nach Sibirien deportiert. „Volkssicherheit“ war das Motto der neu gegründeten „Securitate“.

Auch Zehntausende von Rumänen verschwanden in dieser Zeit. Politische, soziale und intellektuelle Eliten wurden verschleppt, eliminiert. Auch Therezia Ghica war plötzlich nicht mehr da. Sie stammte aus einem alten Fürstengeschlecht. Ja, sie war sogar eine wirkliche Prinzessin. Sie hätte mich nie im Stich gelassen! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2010)

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