Nur Europa steht zur Wahl

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Ein neuer Nationalismus lebt auf. Das europäische Projekt befindet sich auf der Kippe. Retten wir es! Schaffen wir die nationalen Demokratien ab! – Eine Rede für Europa.

Sehr geehrte Damen und Herren! Ichhabe, wie mir nachdrücklich gesagt wurde, zehn Minuten Redezeit. Dasist sehr kurz, gemessen daran, was alles gesagt werden muss – aberzehn Minuten sind andererseits auch sehr lange, wenn man bedenkt, dass es fünf vorzwölf ist. Denn das europäische Projekt befindet sich, sachlich betrachtet, auf der Kip- pe. Allerdings besteht kein Anlass für Alarmismus: Wir wissen vom großen Historiker Theodor Mommsen, dass nach dem Untergang Roms Jahrzehnte vergingen, bis die Römer begriffen haben, dass sie untergegangen sind. Es wird also, selbst wenn ich meine Redezeit dramatisch überziehe, und erst recht, wenn Sie und wir alle noch jahrelang reden oder schweigen, auch zehn nach zwölf business as usual geben, ganz einfach weil es über alle Epochenbrüche hinweg immer business gab, das ist es, was usual ist, erst recht heute, da man sich darauf verständigt hat, dass es ein „Spiel“ ist, und das ist es doch, sonst würden wir nicht diejenigen, die den Reichtum der Welt abschöpfen, Global Player nennen.

Aber lassen wir die Schnörkel! Nur noch neun Minuten! Alles, was ich im Folgenden sagen werde, ist also notwendig verkürzt. Leider besteht der Europa-Diskurs seit geraumer Zeit bloß aus Verkürzungen, allerdings aus nicht notwendigen, die Frage ist jetzt über kurz oder lang, ob die Not wendig macht.

Warum ist das europäische Projekt gefährdet? Ich brauche zwei Minuten, um zunächsteinmal in Erinnerung zu rufen, was die Europäische Gemeinschaft und schließlich die Europäische Union sein sollten. – In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte der europäische Nationalismus zu zwei verheerenden Weltkriegen und zum größten Menschheitsverbrechen, zu Auschwitz, geführt. Aus diesen Erfahrungen musste eine Lehre gezogen werden, dies sollte nie wieder geschehen können. Die Frage war, wiees gelingen könne, die verfeindeten Nationennachhaltig auszusöhnen und den Nationalismus zu überwinden, sodass ein friedliches und freies Zusammenleben auf diesem geschichtsverwüsteten Kontinent möglich wird. Die Gründerväter des vereinten Europa hatten die Idee, die Ökonomien der Nationalstaaten so zu verflechten, dass ein System wechselseitiger Abhängigkeiten, schließlich eine Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer Interessen entsteht, die nationale Sonderwege, die sich historisch als gemeingefährliche Irrwege erwiesen haben, verunmöglicht. Es begann bekanntlich mit der Kohle-und-Stahl-Union – warum? Kohle und Stahl sind kriegswichtige Güter, zugleich waren sie Anfang der 1950er-Jahre maßgeblicheProduktionsfaktoren für den Wirtschaftsaufschwung. Sie zu vergemeinschaften und ei- ner gemeinsamen Kontrolle zu unterwerfen sollte den innereuropäischen Frieden sichernund ein gemeinsames Prosperieren gewährleisten. Mit der Gründung einer Hohen Behörde, die gemeinsame Regelungen für die Mitgliedsstaaten der Montanunion treffenkonnte, war die erste supranationale Organisation geschaffen und die nachnationaleEntwicklung eingeleitet.

Es war damals perspektivisch klar, und diese Einsicht bleibt klar, auch wenn sie heute in Vergessenheit zu geraten droht: Der Nationalismus, mit dem auf unserem Kontinentdie schrecklichsten Erfahrungen gemacht worden sind, kann nur an der Wurzel besiegt werden, das heißt letztlich durch die Überwindung des Nationalstaats.

Noch sieben Minuten.Die Überwindung des Nationalstaats ist einezähe Angelegenheit, eszeigte sich, dass sie nur in kleinen Schritten erfolgen kann. Und weitere kleine Schritte wurden beharrlich gesetzt. Ökonomisch durch die immer konsequentere Verflechtung der Volkswirtschaften, den freien Kapitalverkehrund den gemeinsamen Markt, organisatorisch durch den Ausbau der supranationalen europäischen Institutionen. Lange Zeit wurde diese Entwicklung in der öffentlichen Wahrnehmung als vernünftig und faszinierend angesehen und schließlich als so geschichtsmächtig, dass eine Umkehr unvorstellbar schien. Aber die Stimmung ist gekippt. Die Nationen haben zwar weitgehend Souveränitätsrechte an die supranationalen europäischen Institutionen abgetreten, aber der Nationalismus lebt in den Mitgliedsstaaten neu auf. Der historische Basiskonsens der Europäischen Union, dass die Überwindung des Nationalismus notwendig, dass dasVorantreiben der nachnationalen Entwicklung vernünftig ist, ist selbst den politischen Eliten in Europa heute weitgehend abhandengekommen. Dadurch ist das Projekt in den Grundfesten gefährdet.

Ich brauche jetzt zwei Minuten, um darauf hinzuweisen, dass der neue Nationalismus nicht bloß von gestrigen Rechtspopulisten getrommelt wird, die bedauerlicherweiseimmer mehr Zulauf haben – der neue Nationalismus ist vielmehr eine Bedrohung, die von der sogenannten Mitte der Gesellschaften der Mitgliedsstaaten ausgeht. Solange dasnicht erkannt ist, wird man keine Antwort auf die gegenwärtigen Probleme der Europäischen Union finden, im Gegenteil: Dann istder Kollaps vorprogrammiert.

Denn das Problem ist ja nicht, dass die nationalistischen Parteien, von den „WahrenFinnen“ bis zu den „Österreich-zuerst“-Österreichern, aus irgendwelchen Gründen für viele Wähler überzeugender sind als die staatstragenden bürgerlichen oder sozialdemokratischen Parteien, die noch die Regierungen der meisten europäischen Staaten bilden. Das Problem ist vielmehr, dass die nationalistischen Parteien und die Regierungsparteien der sogenannten Mitte eineÜberzeugung teilen: nämlich dass die nationale Karte eine Trumpfkarte ist, wenn es um innenpolitische Legitimation geht. Die nationalen Rechten überzeugen nicht, sie holen bloß die Überzeugten ab, und überzeugt wurden sie längst von ihren Regierungen.

Die Regierungschefs und Minister, die regelmäßig nach Brüssel fliegen und im Europäischen Rat Entscheidungen treffen, streifenbekanntlich während des Heimflugs den Europäer ab, setzen sich die nationale Clownsmaske auf und berichten, wie großartig sie gegen die böse EU die nationalen Interessen verteidigt, was sie gegen die Zumutungen der „Großen da draußen“ verhindert und was sie gegen die Widerstände der „Bürokraten in Brüssel“ für das eigene Land durchgesetzt haben. Die Botschaft ist: Wir sind zwar Mitglied der Europäischen Union, das muss irgendwann einmal ein historischer Unfall, zumindest so ein blöder Sachzwang gewesensein, aber wir kämpfen darum, dass „uns“ in unserer kuscheligen Nation das nicht zum Schaden gereicht! Das passiert in allen Mitgliedsstaaten, und man wundert sich, dass esüberhaupt noch eine Gemeinschaft gibt bei so vielen national durchgesetzten Sonderregelungen und Ausnahmen beziehungsweise angesichts der Tatsache, dass es immer wieder unmöglich ist, brennende gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen. Das Problemder Europapolitik heute ist, dass sie nur nochals nationalistische Mimikry auftritt, der gegenüber sich die nationalpopulistischen Parteien nicht in Opposition befinden, sondern bloß ihr Lautsprecher sind. Ich könnte jetzt sehr lange die Beispiele aufzählen. Sie kennen sie.

Ich habe nur noch vier Minuten. Ichkomme zum Punkt. Hier zeigt sich, dass die Krise des europäischen Projekts das Produkt einer politischen Schizophrenie ist, die, weil es zunächst gar nicht anders denkbar war, leider auch institutionell verankert wurde: Um die nachnationale Entwicklung zu beginnen und voranzutreiben, mussten ja zunächst einmal die Nationen in die Gemeinschaft eintreten. Das konnten, demokratisch legitimiert, nur die nationalen Regierungen tun. Und sie schufen sich in der Gemeinschaft eine supranationale Institution: den Europäischen Rat. Der Beitritt bedeutete die Preisgabe nationaler Souveränität. Aber im Rat sehen die nationalen Regierungen es wieder als ihre Aufgabe an, die nationale Souveränität zu verteidigen. Der Rat kann al-so jetzt nur behindern, was er der Idee nach befördern sollte: die Überwindung des Nationalismus. Denn solange es nationale Regierungen gibt, die ihre Legitimation durch nationale Wahlen erhalten, so lange bleibt der Nationalismus eine Lebensversicherung der politischen Eliten schlechthinund so lange muss dieVerteidigung nationaler Interessen in der supranationalen InstitutionEuropäischer Rat zurAufhebung der Idee führen und zur Dauerblockade des nachnationalen Prozesses.

Man könnte jetzt fragen: Was ist gegen die Verteidigung nationaler Interessen einzuwenden? Dazu nur ein Satz: Es kann, und dazu bräuchte es gar nicht unsere historischen Erfahrungen mit den Auswirkungen des Nationalismus, in grundsätzlichenMenschheitsfragen keine vernünftigen „nationalen Interessen“ geben, so wie es etwa auch bei den Menschenrechten keine nationalen Sonderrechte geben darf.

Man könnte jetzt auch die Frage stellen, ob ein nachnationaler Kontinent, der sich immer deutlicher als eine „bloße“ Wirtschaftsgemeinschaft zeigt, den Menschen mit ihren vielfältigen Sehnsüchten, Ansprüchen, Hoffnungen und Ideen, die doch alle irgendwo kulturell verwurzelt sind, Heimat und Identität geben kann? Ist das nachnationale Europanicht bloß ein Europa des Kapitals, das eben seine nationalen Fesseln gesprengt hat, und nicht ein Europa der Menschen und ihrer Kulturen? Ja, das „Kapital“, das sollte man wieder einmal lesen.

Zur Beantwortung dieser Frage eine Minute: Die Europäische Union war nie eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft, denn sie gingvon Anfang an von einer sozialen und gesellschaftlich vernünftigen Idee aus: diesen Kontinent zu befrieden und Freiheit, Rechtszustand und Wohlstand zu gewährleisten. Das war und bleibt eine Idee, die nicht von Kapitallogik und Verwertungsinteressen abgeleitet ist. Aber die Europäische Union war auch nie bloß ein luftiges utopisches Projekt,denn es war von Anfang an in der ökonomischen Realität geerdet. Das ist ihr Vernunftgrund. Denn die Linken wissen seit Marx, dass die Ökonomie die Basis ist, und die Rechten sagen streng antimarxistisch: „It's the economy, stupid!“ Ach, wenn nur in allen Fragen eine solche Einigkeit bestünde! Das Problem der EU ist also nicht, dass sie in ihrer Basis ein Wirtschaftsprojekt ist – denn es gibt keine andere Basis, und es gibt keine andere Ökonomie, als die, die Menschen für sich beschließen, und die Produktivkräfte werden dafür sorgen, dass sich vieles ändert, worüber noch Einigkeit zu bestehen scheint –,das Problem ist vielmehr, dass die Idee, die dieser Wirtschaftsgemeinschaft zugrundeliegt und die heute der schöne Baldachin dieser Gemeinschaft sein sollte, in Vergessenheit geriet und von einem Nationalismus verdrängt wird, der durch die Konstruktion der Europäischen Union, nämlich durch den Rat, diese Blockade zwischen Europäischer Kommission und Europäischem Parlament, sogar noch befördert wird.

Ich komme ins Gedränge. Ich habe noch zwei Minuten, um einen Vorschlag zu machen, wie diese Aporie aufzubrechen wäre, dass die Europäische Union institutionell ei- ne nachnationale Entwicklung vorantreiben soll, dabei aber Nationalismen mitproduziert,die das Projekt immer mehr gefährden. Ich habe in der verbleibenden Zeit keine Chance: Ich sage Ihnen, notwendig verkürzt, meinen Vorschlag, ohne ihn ausführlich verteidigen zu können, Sie werden ihn als absurd zurückweisen, und ich werde einmal sagen können, dass ich es gesagt habe. So ist uns beiden gedient, Ihnen heute, mir morgen!

Das Problem ist eindeutig das Modell dernationalen Demokratie. Irgendwann, hoffentlich bald, wird es einen neuen Monnet geben müssen, der die Kühnheit und die Konsequenz hat, diese Utopie zu betreiben und durchzusetzen: ihre Abschaffung! Die Demokratie, wie wir sie kennen und die wir nicht einmal erkämpft haben, sondern die uns geschenkt wurde und die wir seither mehr schlecht als recht eingeübt haben, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts zur Organisation vonNationalstaaten. Aber wir werden im 21. Jahrhundert das 19. Jahrhundert endlich überwinden müssen – oder wir werden in das 19. Jahrhundert politisch zurückfallen, allerdingsam Stand der Produktivkräfte des 21. Jahrhunderts, und das wäre gemeingefährlich!

Es kann auf Dauer kein supranationales Europa auf der Basis nationaler Demokratien geben. Wir müssen Demokratie neu erfinden, wir müssen eine supranationale Demokratieentwickeln, wir glauben bloß, dass das nicht notwendig ist, weil wir ja „unsere Demokratie“ haben – und nicht gelernthaben, so wie die Gründerväter Europas in Epochenbrüchen oder überEpochen hinaus zu denken. – Noch eine Minute! Ich habe eine Frohbotschaft für Sie! Im Grunde ist die Lösung schon im EU-Verfassungsvertrag festgeschrieben: in der Formulierung „Europa der Regionen“. Die Regionen sind der Reichtum dieses Kontinents, die Nationen aber sind historisch erschöpfte Identitätsfantasien und die notwendig zu überwindende Bedrohung.

Europa braucht eine kompetente Verwaltung, das ist die Kommission, und ein Parlament, bei dem Wahlmodus und Kompetenzen wohl neu diskutiert werden müssen – aber was schnellstmöglich abgeschafft werden muss, ist der Rat, diese Verteidigungsburg des Nationalismus im Inneren des Gefüges des nachnationalen Europas. Utopisch? Ich wollte Ihnen in Erinnerung rufen, dass das Projekt von Anbeginn eine konkrete Utopie war. Wenn diese Utopie in Trümmern liegt, werden Sie sich vor den rauchenden Trümmern schwertun mit dem historischen Betroffenheitssatz: „Dies soll nie wieder geschehen dürfen!“ Dann wird er nämlich Höllengelächter auslösen.

Die konsequente Fortsetzung des europäischen Projekts, also des Friedens- und Wohlstandsprojekts in wachsender Demokratie, kann nur in einer politischen Aufwertung der Regionen, in einer Stärkung der Länder bestehen, in einem Zurückdrängen desBundes und der nationalen Repräsentation (und nicht umgekehrt, wie blinde und fantasielose „Staatsreformer“ fordern) und perspektivisch in einer Abschaffung des Rats, dieses Statthalters des Nationalismus in der Union. Die Nationen haben bereits weitgehend Souveränitätsrechte an die Union abgetreten, die Nationen werden absterben, welchen Sinn soll in dieser nachnationalen Entwicklung die Institution des Rats in dem Gefüge der Union haben? Wäre es nicht vernünftiger, gleich zu stoßen, was fallen soll?

Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie eintreten für ein demokratisches Europa der Regionen, oder wollen Sie nur Europaeuropa-europa sagen und Ihr persönliches Heil in der nationalen Politik suchen? Sie werden sich bald entscheiden müssen!

Das waren jetzt zehn Minuten. Neun acht sieben sechs fünf vier drei zwei eins null. Ihr Countdown, meine Damen und Herren! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2011)

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