Für eine Kultur der Reparatur

Ein österreichisches Industriedenkmal von internationalem Rang soll eine neue Nutzung erfahren: die ehemalige Linzer Tabakfabrik, 2009 von der Stadt Linz erworben. 80.000 Quadratmeter auf der Suche nach einer Bestimmung.

Zukunftsorientierte Gemeinwesen sollten – die erste Ölkrise war 1973 – längst dem dogmatischen Glauben an die autogerechte Stadt abgeschworen haben. Nicht so die Stadt Linz und das Land Oberösterreich. Die führenden Politiker forcieren den Bau des umstrittenen „Linzer Westrings“ (A26), wobei der Bund den 85-prozentigen Löwenanteil der geschätzten 530 Millionen zahlen soll. Linz zählt seit vielen Jahrzehnten ziemlich konstant rund 190.000 Einwohner, seit 1956 aber haben sich die Einpendler auf 100.000 vervierfacht. Diese hohen Pendlerströme müssen als Argument für den Westring herhalten.

Das breite, kreuzungsfreie Asphalt-Beton-Band mit neuer vierter Donaubrücke und Tunnel kritisieren Initiativen als gravierenden Eingriff in Landschaftsbild wie Ökosystem und als Quelle zusätzlicher Lärm- und Schadstoffbelastung. Die auf eine individualverkehrshörige Planung von 1972 zurückgehende A26 ist nicht zukunftsträchtig. Linz muss am bewährten Modell der kompakten Stadt der kurzen Wege weiterbauen, in der Region den öffentlichen Verkehr attraktiver machen und an diesen Achsen die Siedlungsentwicklung konzentrieren.

Der Zentralraum Linz wächst planlos. „Gemeindeautonomie und Finanzausgleich“ führen leider – so Stadtentwicklungsdirektor Gunter Amesberger – zu oft „nicht wirklich befriedigenden Ergebnissen“. Bereits 1925 (!) kritisierte Curt Kühne, der als erster Stadtbaudirektor zwischen den beiden Weltkriegen Linz äußerst umsichtig weiterentwickelte, das Fehlen eines über die Stadtgrenzen reichenden „Zweckverbandes“, „um Siedlungsfragen mit Rücksicht auf das große entstehende Ganze in Bezug auf Verkehr und Verbauung von einer Zentralstelle aus begutachten zu lassen“. Die Festlegung geschützter Grünzonen im „regionalen Raumordnungsprogramm Linz-Umland“ (1999) war ein wichtiger struktureller Schritt, dringend notwendig bleibt die Etablierung eines mit Kompetenzen bei Siedlungsentwicklung und Verkehr ausgestatteten Regionalverbandes. Dialog und Kooperation zwischen Stadt und Umlandgemeinden wären für den Linzer Zentralraum, der mit anderen Stadtregionen im Wettbewerb steht, sehr fruchtbar. Anstelle vorgestriger Projekte wie der Stadtautobahn könnte zum Beispiel eine attraktive Stadtbahn von Linz tief ins Mühlviertel führen.

Salzburg nutzt mit dem neuen, komfortablen und umweltfreundlichen S-Bahn-Netz lange ungehobene Potenziale, die es auch im Zentralraum Linz gibt. Die überfällige Beschleunigung der Mühlkreisbahn zur Regio-Tram zwischen Kleinzell im Mühlkreis (Endausbau Rohrbach) und städtischem Bahnhof Mühlkreisbahn/Linz-Urfahr bis 2015 – im Wahlkampf 2009 von der ÖVP noch als „Schnapsidee“ diffamiert – scheint in greifbare Nähe gerückt zu sein. Die innerstädtisch weitergeführte Tram soll über die Eisenbahnbrücke Richtung Süden einschleifen. Dort bindet eine Haltestelle die zur Zeit leer stehende Tabakfabrik ein. Sie soll künftig – wie auch „Pauhof Architekten“ fordern – „eine neue Wirkung auf die Gesamtstadt generieren“.

Die Fabrik ist nicht nur Endpunkt der Uferzone Kunstmuseum Lentos, Brucknerhaus und Parkbad, sondern bildet mit der östlich benachbarten ehemaligen Fleischmarkthalle mit ihrem spektakulären wie flexiblen Großraum ein hochpotentes „Brückenkopf“-Ensemble. Bei der nach Plänen von Stadtbaudirektor Kühne 1928/29 realisierten Halle schlagen „Pauhof Architekten“ die Haltestelle dieser teilweise hoch und tief geführten Stadtbahn vor und wollen die Trasse näher zum Hafengebiet geführt sehen. Das künftige Quartierzentrum aus Fabrik und Halle (heute Reifenlager) könnte Brücken in den Osten der Stadt und an die Donau schlagen – gemeinsam mit einer Neustrukturierung der Räume entlang der Donau hin zum attraktiven Winter- und Stadthafen.

Der vom ehemaligen Baudirektor F. X. Goldner Mitte der 1990er-Jahre formulierten Sorge, dieses wertvolle Hafenareal „falsch – weil zufällig und ohne Konzept“ zu nutzen, müssen offensive Weichenstellungen entgegenarbeiten. Die Absiedelung eines Gewerbebetriebs, der das Quartier stark (geruchs-)belastet, wäre ein wichtiger erster Schritt. Vielleicht kann ein Teil der jetzigen Barriere Mühlkreisautobahn eingehaust werden und ihr Dach einen verbindenden Landschaftspark aufnehmen, wie dies beim „Bindermichl“ weniger Kilometer südlich beeindruckend gelungen ist.

Hier, im Osten, eröffnet sich eines der großen Potenziale zur Entwicklung von Linz nach innen, auch für erschwinglichen innerstädtischen Wohnraum als Alternative zum Schlafgürtel in der Region. Daher muss das Land Oberösterreich in der Stadt deutlich mehr geförderte Wohnungen als die zur Zeit jährlich rund 600 ermöglichen. Möglichst vielfältige Wohnmilieus sollten durch attraktive, öffentliche und vernetzte Freiräume an den urbanen Qualitäten der Tabakfabrik andocken.

2009 kaufte Linz zum Glück den alten Standort der Austria Tabakwerke, der im selben Jahr seine Produktion einstellte. Die denkmalgeschützten rund zwei Drittel des Gebäudebestands entstanden 1929/1935 und gehören – so Friedrich Achleitner – „zu den großen internationalen Leistungen des Industriebaus der Dreißigerjahre“. Der elegante, von markanten Fensterbändern betonte Schwung der 230 Meter langen Zigarettenfabrik, des ersten großen Stahlskelettbaus Österreichs, ist am bekanntesten, aber auch zwei Lagerbauten, die Pfeifentabakfabrik sowie die beeindruckende Kraftzentrale entstanden nach Plänen von Peter Behrens und Alexander Popp. Als einer der Ersten in den frühen 1920er-Jahren hatte Popp beim aus Deutschland stammenden Behrens an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert. Obwohl das Gesamtkonzept des Duos nur zu drei Vierteln realisiert wurde, blieb bei späteren Bauten die besondere Qualität des Hofs erhalten.

Linz besitzt nun diese beachtlichen 80.000 Quadratmeter, ohne aber für künftige öffentliche (Bau-)Vorhaben konkreten Nutzungsbedarf zu haben. Parallel mit dem Kauf vor zwei Jahren arbeitete die Johannes-Kepler-Universität eine Vorstudie zur Nutzung mit den Szenarien „Kreativstadt“ und „Exzellenz“ aus.

Beide Schwerpunkte setzen auf einen technologisch orientierten Zugang zu Kunst und Kultur, zweiter zudem auf die Ansiedlung einer Universität und postgradualer Bildungseinrichtung. Das dritte Szenario, „Jugend, Toleranz und Material“, will produzierende Kreativwirtschaftsunternehmen, geschützte Werkstätten und Bildungs- und Kultureinrichtungen für die Jugend vereinen.

„Form follows function“: Der Gestaltungsleitsatz der Moderne hat auch die Struktur der Tabakfabrik geprägt. Nun muss er seine Logik wechseln, damit das nachgenutzte Baudenkmal seine Qualitäten erhalten und ausspielen kann. Die Funktion hat jetzt der Form zu folgen: Möglichst viele Stockwerke sollten Charakter und Großzügigkeit – meist als helle, dreischiffige Produktionshallen – bewahren. Die engagierte, 2004 fertiggestellte Revitalisierung der Tabakfabrik Van Nelle von 1925/1931 in Rotterdam zeigt unter anderem Möglichkeiten auf, wie mit gläsernen Zwischenwänden Büroeinheiten, Substanz schonend, integrierbar sind.

Denkmalpflegerisch ungleich problematischer ist der auch wesentlich aufwendigere Wohnungs- oder Hoteleinbau. Falsche Nutzungsszenarien generieren kostspielige Kraftakte, welche die Bausubstanz malträtieren, statt mit ihren Potenzialen zu arbeiten. Unter Denkmalschutz stehen zwei Drittel des Komplexes, der Rest steht zur Disposition. Mit dem Neubaupotenzial soll nicht nur ein architektonisch zeitgemäßer Dialog mit dem Fabrikensemble aufgebaut werden, sondern es sollen auch denkmalinkompatible Nutzungen „ausgelagert“ werden. Hier kann Gestaltung wie Nutzung besonders der Erdgeschoßzone helfen, den einst introvertierten Hof als öffentlichen, kommunikativen Raum zu entwickeln.

Das von Docomomo Austria (Documentation and Conservation of Buildings, Sites and Neighbourhoods of the Modern Movement) in Kooperation mit Icomos Austria und der Tabakfabrik Linz Entwicklungs- und Betriebsgesellschaft m. b. H. veranstaltete Symposium „Starkes Rauchzeichen“ Anfang Mai widmete sich der städtebaulichen Kraft der Tabakfabrik – eine Insel schlägt Brücken. Zentrales Thema war aber die Bausubstanz. Ihr räumliches Potenzial und ihr ideeller wie konkreter Wert bedürfen einer gründlichen Bewertung und Analyse, um dann die Substanz adäquat zu nutzen und weiterzuentwickeln. Ein zu hoher Nutzungsdruck, absolut gesetzte Energiekennzahlen oder starre Förderbedingungen würden die Denkmalqualitäten und damit den besonderen Reiz vieler Details gefährden.

Der Bestand muss auch bauphysikalisch genau untersucht werden, was bald geschehen soll. Bereits von 1995 bis 2005 nutzte die Linzer Kunstuniversität nach „bescheidensten Adaptierungsmaßnahmen“ und ohne „nennenswertes Budget“ – so Architekt Roland Gnaiger – die großzügigen und inspirierenden Räumlichkeiten der ehemaligen Pfeifentabakfabrik. Probleme im Gebrauch machten die mäßig gedämmten Außenwände sowie die Erschütterung und der Verkehrslärm durch die Untere Donaulände.

Ungleich ruhiger liegt die mehrfach so große Zigarettenfabrik. Ihre dreischiffigen Hallen wurden für die Produktion bei feuchtwarmer Klimatisierung deutlich besser gedämmt. Faszinierend einfach und perfekt gelöst ist das System aus sonderangefertigten Kastenfenstern, detailliert bis hin zur Kunststeinrinne für das Kondenswasser. Diese Fensterbänder tragen zur besonderen Aura der Hallen viel bei.

Ebenfalls Kastenfenster aus Stahl bietet die bauphysikalisch wohl vergleichbare, „sehr werthaltige“ Bausubstanz der meisten Gebäude in der „Spinnerei“ in Leipzig. Mit dieser Außenhaut konnten die privaten Immobilienentwickler in den vergangenen zehn Jahren Schritt für Schritt die einstige Fabrik schonend wiederbeleben. Oft ging es ihnen „sogar mehr ums Konservieren als ums Sanieren“. Aus den beschränkten finanziellen Mitteln der Developer entwickelten sie die Prämisse, „möglichst viel zu bewahren und trotzdem gute Bedingungen für die neuen Mieter zu schaffen“.

Bei der Revitalisierung der Linzer Tabakfabrik könnte die öffentliche Hand dieses sparsam-ressourcenschonende Leitmotiv vorbildhaft vorleben. „Repair. Sind wir noch zu retten?“ war übrigens das Motto der Ars Electronica 2010, bei der eine niederländische Designplattform kreative Reparaturmethoden in der Zigarettenfabrik zeigte. Vor knapp 20 Jahren prägte Wilfried Lipp, der insgesamt 40 Jahre als Denkmalpfleger die Tabakfabrik begleitet hat, den Begriff der Reparaturgesellschaft. Die Kultur der Reparatur ist Teil denkmalpflegerischen Handelns. Konservieren, restaurieren, reparieren statt entsorgen und energie- und materialintensiv ersetzen bildet eine zeitgemäße Alternative zur Ideologie des permanenten Wachstums.

Die Tabakfabrik Linz Entwicklungs- und Betriebsgesellschaft m. b. H. will das künftige Branding der einstigen Produktionsstätte eng mit Peter Behrens verknüpfen. Im Schatten einstiger Mitarbeiter wie Le Corbusier, Mies van der Rohe und Walter Gropius zu stehen hat Peter Behrens (1868 bis 1940) nicht verdient. Ausgebildet als Maler, war er als Architekt Autodidakt.

Nach der Jahrhundertwende leistete Behrens unter anderem mit der Behrens-Antiqua einen wichtigen Beitrag zur modernen Schriftkultur, 1909 leitete er mit der bahnbrechenden AEG-Turbinenhalle in Berlin-Moabit die Erneuerung der Industriekultur ein und baute neben riesigen Industrie- auch Bürokomplexe.

Die von ihm entworfenen Leuchten und Ventilatoren konnten – weil robust produziert – relativ leicht repariert werden. Gleiches gilt für die Ausstattung der Tabakfabrik bis hin zur Türschnalle. Heute werden Produkte manchmal sogar mit „konsumfördernden“ Sollbruchstellen versehen, einfache Reparaturen sind so gut wie überhaupt nicht mehr möglich.

Etwa gleichzeitig mit der Tabakfabrik errichtete Behrens in Hohenlanke (Neustrelitz), weit außerhalb von Berlin, ein Landhaus. Er wollte hier auch selbst eine Landwirtschaft betreiben, eine andere bemerkenswerte Facette seiner Persönlichkeit. Diesem kulturellen Spektrum entsprechend, könnten Initiativen wie Nank (Neue Arbeit, neue Kultur), die kürzlich eine Teilnutzung der Tabakfabrik vorschlug, prinzipiell Platz finden. Sie will den Standort Linz als Impulsgeber für neue Arbeitskonzepte und „Green Technologies“ ausbauen. Um im Bereich des kulturell-kreativen Sektors – eine der Optionen in der Nutzungsvorstudie – Kreative anzusiedeln, sollten sich sowohl die Investitionen in die Bausubstanz wie auch die künftigen Mietpreise in moderaten Grenzen halten. Die Nutzersuche ist im Fluss.

Die Stadt Linz hat der Quadratmeter inklusive Grundanteil der Tabakfabrik rund 250 Euro gekostet. Private Investoren könnten die Fabrik – so die Nutzungsvorstudie – „trotz umfangreicher Denkmalschutzauflagen kommerziell attraktiv“ nutzen. Die Studienautoren erkennen das Engagement der Stadt bei Kauf, Adaptierung und infrastruktureller Aufrüstung (etwa mit einer Regio-Tram-Haltestelle) zu Recht „als Investition in die Stadtentwicklung“.

Es geht eben nicht um eine kommerzielle „Verwertung“, sondern um einen auf denkmalgeschützte und neue Gebäude richtig abgestimmten Nutzungsmix. Dabei entsprechen öffentliche Einrichtungen dem Ort als öffentlicher Raum und Nukleus der Stadtentwicklung. Die Stadt darf das Heft nicht aus der Hand geben und kann weiter auf die Unterstützung der lokalen Architektenschaft zählen.

Bei einer Diskussion der Ars Electronica 2010 schwärmte ein Stadtpolitiker vom Türschnallendetail, ein anderer sprach vom „Problem Denkmalschutz“. Auf einem unverbauten Stück Land gleicher Größe gäbe es dieses „Problem“ nicht, aber ebenso wenig diesen Mehrwert des Baudenkmals und wertvollen Potenzials für die Stadt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2011)

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