Von der Liebe zum Moloch

(c) AP (Mustafa Quraishi)
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In Asien, Afrika, Lateinamerika wachsen mit den Megacities neue globale Player heran. Die humanitäre und die ökologische Zukunft des Planeten wird in diesen Städten entschieden.

Er ist Katalane und mit der listigen Selbstsicherheit eines FC-Barcelona-Kickers ausgestattet: Allerdings ist Joan Clos kein Fußballer, dafür war er neun Jahre Bürgermeister der Stadt, einer der bestfunktionierenden und schönsten der Welt. Barcelona hat sich in den vergangenen 25 Jahren neu erfunden, der kommerzielle Erfolg als wichtigstes Power-Zentrum Spaniens gibt den infrastrukturellen und architektonischen Interventionen der Stadtväter der vergangenen Dekaden recht. Jeder Platz ist eine Augenweide, jeder Mistkübel Design, knapp fünf Millionen Menschen leben und arbeiten im Großraum Barcelona, das System Stadt funktioniert wie eine geölte Maschinerie. Barcelona ist eine der großen Städte, die vorzeigen, wie es geht.

Jetzt hat Clos die eleganten Lederschlüpfer gegen Gummistiefel getauscht und besichtigt Städte, die vorführen, wie es nicht geht: Seit Herbst vergangenen Jahres ist er Chef des United Nations Human Settlements Programme, kurz UN-Habitat, mit Hauptsitz in Nairobi. Gleich neben seinem neuen Amtssitz liegt eine der schlimmsten Siedlungen des Erdenrunds: Im Stadtteil Kibera lebt eine halbe Million Menschen ohne Kanalisation, ohne Fließwasser, ohne einen einzigen Arzt, ohne Hoffnung auf eine bessere, menschenwürdige Zukunft. Die Menschen hier kippen ihre Fäkalien in Plastiksäcke und reichen sie über die Dächer weiter bis an den Rand des Hüttenmeers, um nicht im eigenen Dreck zu ersticken. Man müsse sich nur kurz umschauen, sagt Clos in einem Englisch, das klingt, als ob einer Karotten raspelt, und man würde verstehen, dass es schwierig sei, solche Konstruktionen überhaupt Stadt zu nennen. 70 Prozent der Bewohner afrikanischer Städte leben in Slums. In den kommenden 15 Jahren wird sich die urbane Bevölkerung Afrikas verdoppeln. Was das bedeutet, sollten wir uns besser jetzt schon klarmachen, sagt Klos.

Dabei waren von Anbeginn aller Zivilisationen gerade die Städte die Motoren des Fortschritts. Wo sich viele Menschen zu Gemeinschaften zusammenballen, wird erfunden, getauscht, Wissen transferiert, wird das Zusammenleben optimiert und an der Zukunft gefeilt. Doch die Beschleunigung, mit der die Menschheit unterwegs ist, macht auch vor den Metropolen nicht halt, im Gegenteil: 1900 lebten gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung in der Stadt, heute sind es an die 53 Prozent, in 40 Jahren werden es 75 Prozent sein.

Die Städte, so Clos, seien in den vergangenen 100 Jahren mit exponentieller Geschwindigkeit gewachsen, bis vor Kurzem sei die damit verbundene Steigerung der wirtschaftlichen Leistung noch Hand in Hand gegangen mit dem Ausbau der urbanen Infrastrukturen. Das sind: neue, funktionierende Stadtteile mit Fließwasser, Kanalisation, Elektrizität, öffentlichem Verkehr.

Doch damit ist seit rund zehn Jahren Schluss. In Afrika, aber auch in Teilen Südamerikas und Asiens wachsen die Metropolen in einem Tempo, mit dem der Städtebau, wie wir ihn bislang kannten, nicht mehr mithalten kann. 58 neu ankommende Bewohner in jeder einzelnen Stunde zählt Lagos, 42 Mumbai, 24 São Paulo. Kein Bürgermeister dieser Welt kann für 40.000 neue Mitbürger pro Monat eine funktionierende Stadt hinstellen. Die überwältigende Mehrheit der Stadtareale wird also von den Zuwanderern selbst gemacht – je nach stadtpolitischen Rahmenbedingungen besser oder schlechter. Mehr als ein Drittel der Menschen in den Städten lebt schon jetzt in informellen, also illegalen Siedlungen oder Slums. Tendenz rasant steigend. Clos: „Die Menschheit hat nichts weniger als verlernt, Städte zu bauen.“

Und dennoch: Die Stadt ist für die Neuankömmlinge oft die einzige Chance zu überleben. Selbst wer in Mumbai nachts auf dem Gehsteig schläft und tagsüber auf den Straßen Müll sammelt, hat immer noch ein besseres Auskommen als im umgebenden indischen Bundesstaat Maharashtra, wo sich in den vergangenen zehn Jahren an die 150.000 Bauern das Leben nahmen, weil sie von der Landwirtschaft nicht mehr leben, ihre Familien nicht mehr ernähren konnten.

Stichwort Mumbai: Neun Metropolen hat das „Urban Age Programme“ der renommierten London School of Economics (LSE) in den vergangenen sieben Jahren genau unter die Lupe genommen, hat sie statistisch seziert und interdisziplinär studiert. Von all diesen Megacities ist die indische 14-Millionen-Einwohner-Metropole das interessanteste Beispiel für eine Stadt, die sich ebenfalls neu erfindet – doch gänzlich anders als das durchgestylte Barcelona. Denn gerade Mumbai zeigt vor, dass es keine festgeschriebenen Regeln gibt, wie Stadtfunktioniert, dass jede menschliche Super-Agglomeration nach eigenen, bis dato viel zu wenig erforschten und beachteten Gesetzmäßigkeiten lebt – und funktioniert.

Mumbai ist unvergleichlich. Es ist eng, es ist schmutzig. Die Luft ist so versmogt, dass man auch ohne zu rauchen täglich das Dreckäquivalent von zwei Zigarettenpackungen inhaliert. An keinem Ort der Welt leben mehr Leute auf so engem Raum zusammen, 55 Prozent davon in informellen Siedlungen, auf den Straßen, in Slums. 65 Prozent aller Einwohner Mumbais arbeiten ohne Versicherung, ohne westliche Selbstverständlichkeiten wie 40-Stunden-Woche oder gar Kündigungsschutz und Urlaubsanspruch – und dennoch liebt die überwältigende Mehrheit der Mumbaikans ihren Moloch: 80 Prozent der von Urban Age Befragten gaben an, sich mit Mumbai als „ihrer“ Stadt zu identifizieren, ja hier sehr zufrieden zu sein. Ausgerechnet das als Stadt der Gehsteigbewohner und der Slumdweller verrufene Mumbai bekam von allen Urban-Age-Städten die beste Note von ihren Bewohnern.

Warum das so ist, beschreibt der Autor und Mumbaikan Suketu Mehta in seinem Essay für das nach „The Endless City“ (Phaidon 2007) nunmehr zweite von Urban Age herausgegebene Buch, „Living in the Endless City“, das kommende Woche in London präsentiert wird. Mehta: „Mumbai ist ein Ort, an dem es egal ist, welcher Kaste du angehörst, ein Ort, an dem eine Frau allein in einem Restaurant zu Abend essen kann, ohne belästigt zu werden, und wo man sich die Person, die man heiraten will, selbst aussuchen kann. Für einen jungen Menschen in einem indischen Dorf ist Mumbai nicht nur ein Ort, an dem man Geld verdienen kann, sondern auch einer, an dem man frei ist.“ Mumbai sei wie ein „goldener Vogel“, hat ein alter Mann Mehta erklärt: „Versuch ihn zu fangen. Er ist schnell und listig, und du musst sehr hart arbeiten, willst du ihn fassen, doch wenn du ihn in der Hand hältst, tun sich ungeahnte Möglichkeiten für dich auf.“

LSE-Professor Ricky Burdett hat das Urban-Age-Programm ins Leben gerufen und mit der Deutschen Bank einen mächtigen Finanzier an Land gezogen. Er selbst ist in Rom aufgewachsen, wo jeder Ziegel Geschichte atmet und wo Leute wie Michelangelo Städtebau betrieben haben. Die Umstände prägen den Menschen. Burdett lebt jetzt zwar in London, fährt aber immer noch mit der Vespa ins Büro. Nach sieben Jahren intensiver Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Metropolen wie São Paulo, Mumbai, Mexico City, Johannesburg, New York City kommt er unter anderem zu dem ernüchternden Schluss: „Weltweit zeigt sich in schmerzlicher Weise eine deutliche Entwicklung: Die Reichen verschanzen sich zunehmend hinter Betonmauern in hermetisch abgeschotteten Vierteln, was eine vorgestrige und sozial brisante Entwicklung darstellt.“

Es gibt eine berühmte Luftaufnahme, die einen Stadtausschnitt von São Paulo zeigt. Rechts im Bild: eine vielgeschoßige Wohnhausanlage, auf jedem Balkon ein privater Swimmingpool für die betuchte Klientel. In der Mitte: eine hohe Mauer samt Stacheldraht. Links im Bild: Hütten dicht an dicht, ungepflasterte Wege und Straßen. Bilder wie dieses, sagt Burdett, könne man mittlerweile überall auf der Welt aufnehmen.

Leuten wie Enrique Penalosa missfallen derartige Bilder der Ausgrenzung ganz besonders. Bilder wie dieses, sagt er, sind der „Beweis für einen Mangel an Demokratie“. Slums, ungepflasterte Straßen und von Autos zugeparkte Gehsteige demonstrieren für ihn das Unvermögen von Stadtregierungen, das Zusammenleben vieler Menschen unterschiedlicher Einkommensschichten gerecht zu regeln. Der Kolumbianer selbst schaut aus wie George Clooney, aber sein Geschäft ist es nicht, den Menschen etwas vorzumachen. Als er in den 1990er-Jahren für das Amt des Bürgermeisters von Bogotá kandidierte, machte er dem Wählervolk von vornherein klar, wofür er antrat: für eine Demokratisierung des Stadtraums. Zweimal scheiterte er, beim dritten Anlauf setzte er sich durch und nahm die Rückgabe des öffentlichen Raumes an die Bewohner Bogotás in Angriff. Penalosa erklärte, so drückt er das aus, den Automassen auf den Straßen und auf den Gehsteigen den Krieg.

Nachdem eine Studie der Weltbank ergeben hatte, die massiven Verkehrsprobleme Bogotás seien nur mit U-Bahn-Netzen und ähnlichen Infrastrukturmaßnahmen in den Griff zu bekommen, allerdings um die Kleinigkeit von zwei Milliarden Dollar, erklärte Penalosa dieses Ansinnen für verrückt und beschloss, dass das Problem auch mit einem Zehntel dieses Geldes zu lösen sei. Er ließ kurzerhand mehrere Fahrspuren jeder der Stadtautobahnen für den Privatverkehr sperren. Er überantwortete jeweils einer Gruppe von Buschauffeuren einen städtischen Omnibus, erteilte ihnen den Auftrag, unternehmerisch zu denken und von exquisiter Pünktlichkeit zu sein. Wer heute in Bogotá im Stau steckt, kann diese schönen roten Omnibusse hurtig links und rechts an sich vorbeiziehen sehen. Das Transmilenio-Bussystem Bogotás wurde zum internationalen Vorzeigebeispiel.

Der Verkehr ist das große Schlüsselthema in allen großen Städten, und zwar sowohl in ökologischer als auch in sozialer Hinsicht: Die Automassen verstinken den Globus, beschleunigen den Treibhauseffekt auf katastrophale Weise. Doch schlechte Verkehrsinfrastrukturen bedeuten auch schlechte Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen für die millionenstarke Arbeitsfront, die in den Slumvierteln an den Stadträndern wohnt. Dieses Bild zeigt sich überall: In São Paulo, in Mexico City, in den afrikanischen Großstädten sowieso. Mumbai funktioniert nicht zuletzt deshalb besser als manch andere Megacity, weil das vormals koloniale, (übrigens mit privatem Kapital errichtete) Eisenbahnsystem ein mächtiges Vehikel für täglich mehr als sechs Millionen Pendler darstellt. Während in São Paulo 368 Autos pro 1000 Einwohnern gezählt werden, sind es in Mumbai lediglich 35,9. Das hoch entwickelte London mit seinem 1393 Kilometer langen U-Bahn-System kommt vergleichsweise auch nur auf 344,7 Karossen pro 1000 Einwohnern.

Die ökologische Zukunft des Planeten, das steht für die Urban-Age-Stadtforscher ebenso fest wie für UN-Habitat-Chef Clos, wird in den Städten entschieden. Nur zwei Prozent der Erdoberfläche nehmen sie ein, 60 bis 65 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes wird in den Städten erwirtschaftet, aber auch – je nach Berechnungsart – bis zu 75 Prozent aller Treibhausgase. Wenn man an den Schrauben drehen will, die dieses System drosseln, dann muss man vor allem in den Städten ansetzen. Doch in Sachen Dreckschleudern haben die hoch entwickelten Superstädte Europas, Nordamerikas, aber auch Metropolen wie Shanghai mit ihrem Konsumirrsinn die Nase immer noch weit vorne: Pro Einwohner schickt Shanghai beispielsweise 10.680 Kilogramm Kohlendioxid in die Atmosphäre, in London liegt man bei 5599 Kilo, in Mumbai bei – noch – lächerlichen 371. Die reichen Länder, sagt Clos, machen ihre infrastrukturellen Fortschritte durch übermäßigen Konsum mehr als wett. „Die Armen wollen reich werden, und sie haben auch jedes Recht dazu“, meint er, „deshalb müssen wir dringend das gesamte Energiesystem erneuern – nicht nur in den entwickelten Ländern, sondern auf der ganzen Welt.“

Der zunehmende Autoverkehr ist also bloß ein Teil des Problems. Nur durch unendlich viele Maßnahmen, kleine wie große, kann es in den Griff bekommen werden. Enrique Penalosa ließ nicht umsonst Hunderte Kilometer von Fahrradwegen anlegen und mehr als 100.000 Bäume pflanzen. Über der vergleichsweise baumlosen Betonwüste von São Paulo erhitzt sich die Luft so stark, dass die Druckunterschiede die wasserreichen Luftmassen des Atlantik regelrecht ansaugen, was regelmäßig katastrophale Überschwemmungen zur Folge hat. Betroffen von diesen Fluten sind die Armen, die an den übergehenden Flüssen und an den unter den Wassermassen abrutschenden Berghängen Quartier bezogen haben.

Viele kleine Schritte also, und viele dieser Schritte werden nicht von den Stadtregierungen, sondern gerade von den ärmsten Stadtbewohnern selbst gesetzt. Das ist die positive Erkenntnis, die Burdett aus den Jahren der Stadtforschung zieht: „Auch angesichts der Ohnmacht, die globalen Kräfte zu verändern, findet man überall kleine, aber ungeheuer kraftvolle Initiativen, die das Leben der Menschen verbessern.“ Die Alfred-Herrhausen-Stiftung der Deutschen Bank, die das Urban-Age-Programm finanziert, hat aus diesem Grund einen mit 100.000 Dollar dotierten „Urban Age Award“ gestiftet. Die Leute nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, verbünden sich, bauen, wie zum Beispiel in Mumbai, Klos.

2,6 Milliarden Menschen weltweit haben keinen Zugang zu Toiletten, in Indien ist es knapp ein Drittel der Bevölkerung. Einer der ersten „Urban Age Awards“ ging folgerichtig an ein Projekt in einem Slum in Mumbai, in dem sich eine Gruppe von Leuten aus eigener Kraft eine öffentliche Toilettenanlage für ihren Stadtteil gebaut hat. Diese einfache Toilettenanlage wurde zu einem Kristallisationspunkt für das gesamte Viertel. Die Frauen hatten im Raum über den Klos plötzlich einen Ort, an dem sie ungestört und unter sich waren. Sie begannen sich über die größten Probleme ihres Viertel auszutauschen. Gemeinsam etablierten sie in der Folge mit geringsten Mitteln eine Küche, in der für die Kinder arbeitender Eltern für ordentliches Essen gesorgt werden konnte. Den Männern erging es offenbar ähnlich. Sie organisierten ein paar ausgediente Computer vom nahe gelegenen Flughafen, installierten in einem weiteren Raum neben den Klos Internetzugänge, schlossen die Gemeinschaft an die Wissensströme des modernen Zeitalters an, holten die Jugendlichen von der Straße, bauten schließlich ein kleines Kultur- und Schulungszentrum für ihren Nachwuchs auf.

Ein weiteres Beispiel: Als eine Soziologieprofessorin an der Fakultät für Architektur in São Paulo ihren Studentinnen und Studenten den Auftrag gab, den Besetzern eines verlassenen ehemaligen Bürogebäudes im Stadtzentrum zu helfen, entwickelte auch dieses Projekt eine Eigendynamik für den gesamten Straßenzug. Die Räume wurden unter den Hausbesetzerfamilien gerecht aufgeteilt: Diejenigen, die bereits länger als fünf Jahre hier waren, konnten, einer neuen Gesetzgebung der Stadt folgend, gesichert bleiben. Das Gebäude wurde an das Stromnetz angeschlossen, die Wasserleitungen wurden repariert, die Fassade gestrichen. Die Menschen, die jahrelang nie irgendetwas in das Gebäude investiert hatten, weil sie jederzeit hätten daraus vertrieben werden können, begannen plötzlich ihre Wohnungen liebevoll herzurichten: Das gesicherte Bleiben-Können ist ein Faktor, der die informellen Städte der Zukunft formen wird.

Wer die Gewissheit hat, nicht vertrieben zu werden, der investiert. Wer täglich mit der Abrissbirne rechnet, haust weiter unter Planen. Für die ungeheure kreative Kraft der informellen Siedler gibt es weltweilt genug Beispiele. Dharavi in Mumbai etwa, das mit knapp 600.000 Einwohnern als größter Slum Asiens gilt, ist ein kleinteiliger, funktionierender Mega-Organismus mit Tausenden florierenden Betrieben und Geschäften. Die Rocinha, ehemals die größte Favela Rio de Janeiros, hat sich ebenfalls über die Jahre zu einem florierenden Stadtteil emporgearbeitet. Weil die Menschen bleiben können, weil sie jeden Real, den sie investieren, in ihre eigene Zukunft stecken.

Mit der Publikation „Living in the Endless City“ ist die erste Phase des Urban-Age-Projekts abgeschlossen. Viele Daten, viele Zahlen, viele hochinteressante Zusammenhänge. Die großen Vorgaben, was eine Stadt funktionieren lässt, sind klar dargelegt. Erstens: Wo Städte über ihre organisatorischen Grenzen weit hinausgewachsen sind, müssen die Stadtgrenzen neu definiert werden, um die Megacities in ihrer Gesamtheit steuern zu können. Zweitens: Wichtige Entscheidungsinstanzen, die etwa Stadtplanung, Verkehr, Umweltpolitik, Energie steuern, müssen in den Kompetenzbereich der Stadt und nicht des Staates fallen, um effiziente Maßnahmen setzen zu können. Drittens: Städte müssen legislativ in der Lage sein, Geld aufzustellen, um diese Maßnahmen auch umsetzen zu können. Eine fiskale Autonomie, so die Stadtforscher, sei ausschlaggebend für jede Entwicklung.

In den kommenden Jahren müsse man sich die vielfältigen Beziehungen zwischen der gebauten Stadt und der sozialen Stadt genauer anschauen, sagt Ricky Burdett. Und Penalosa sieht die Sache ähnlich: Der Schutz der Umwelt sei in den vergangenen Jahrzehnten zu einem derart wichtigen Thema geworden, dass heute jedes zehnjährige Kind auf dieser Welt um den Fortbestand der Regenwälder, um das Überleben von Walen und Berggorillas besorgt sei. Eigenartigerweise sei ein ähnliches Interesse an den Umständen menschlicher Existenz nicht zu beobachten.

Als im Juli 2005 die schwersten je dagewesenen Monsunregenfälle Mumbai überschwemmten, zeigte sich die Stadt von ihrer fürchterlichsten und von ihrer besten Seite, schreibt Suketu Mehta in seinem Essay. Hunderte Menschen ertranken. Doch Hunderttausende halfen einander. Es gab keine Plünderungen. Es gab keine Panik. Menschen wateten durch die Wassermassen und versorgten ungefragt die 150.000 in den Zügen und Zugstationen Festsitzenden mit Nahrung. Menschenketten wurden gebildet, um in den Fluten Gefangene zu befreien. Das offizielle Mumbai versagte total. „Doch die Mumbaikans halfen einander, weil sie sowieso jeden Glauben an offizielle Hilfe verloren hatten. Auf diesem Planeten der Stadtsiedler werden im 21. Jahrhundert die meisten Menschen genau so leben und mit ihren Lebensumständen fertig werden.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2011)

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