Ihr zahlt drauf, und es tut uns eh leid

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Wollen wir es uns möglichst bequem machen im „Kriserl“, im „Apokalypserl“, das dereinst schon vorbeigehen wird? Motto: Bloß keine Experimente, ändern kann man ja doch nix. – Wider dieSuderanten: eine Kritik unserer politischen Ökonomie in Zeiten der umfassenden Systemkrise.

Alexander Kluge hat in seinem jüngsten Buch, „Das Bohren harter Bretter“, eine kurze Geschichte über die „Politik der Wörter“ publiziert. Sie handelt davon, dass sich die Wörter seit Urzeiten als Funktionsträger betrachten ließen, bis sie sich von den Zwängen der Menschen befreiten und die Revolution versuchten. Denn klar sei, so Kluge: Wörter wollen und können sich nicht auf Dauer versklaven lassen. „Wie will man uns unterdrücken, wenn wir der Grund dafür sind, dass es die Menschheit und deren Verfassung überhaupt gibt? Wir sind selbstbewusste Lebewesen, man darf uns, die Wörter, nicht unterschätzen.“

Ohne die widerspenstigen Wörter und ohne Kultur gibt es keine brauchbare Vergesellschaftung, finden wir zu keiner Verständigung, zu keinem Ausgleich. Von einer vernunftgebundenen Verfassung ganz zu schweigen. Die Wörter und die Bücher sind unweigerlich Ausgangspunkte und Bedingungen für Aufklärung und Humanismus, aber auch für Krisen – und zugleich die Chance zu deren Bewältigung. Umso mehr überrascht es, wenn die Versuche, sich über die teils dramatischen Umstände unserer Gegenwart einen Überblick zu verschaffen, oft von Sprach- und Gedankenlosigkeit künden. Das eine bedingt, so meine ich, das andere: Gedanken finden ihre Worte – und umgekehrt finden die Worte ihre Gedanken, unterstützen die Tat. Wenn dem so ist, geht es stets auch um die Rolle des Intellektuellen in der Politik – und vice versa.

Es erstaunt immer wieder die Sprach- und Theorielosigkeit der Politik, teilweise auch des Journalismus und der Wissenschaft, angesichts der größten Krise nach 1945, die diesmal tatsächlich weltumspannend und -durchdringend ist, kurzum: tatsächlich global. Verschärft wird diese Krise, die mehr als nur ein grippaler Infekt unseres ökonomisch-kulturellen Systems ist, durch die schon vor Jahren erfolgte Ansage eines Endes der Moderne, ohne dass entsprechend taugliche Ersatzkategorien vorgelegt worden wären. Soweit ich es sehe, haben wir es mit einer Krise des Systems an sich zu tun, ohne dass ausgesprochen viele Alternativen sich aufdrängen würden. Aber anstatt sich mit Subsystemen und Umwelten auseinanderzusetzen und diese zu stärken, bestätigt man die emanzipationsphilosophische Problematik der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Da ist viel Wahres dran, und dennoch gibt es Möglichkeiten. Stepháne Hessel spricht etwa von einem notwendig durchzusetzenden „Prinzip des Experiments“: „Experimente sind überhaupt das Wichtigste für uns. Wir sollten in Demokratien soziale und politische Experimente befürworten, damit die Leute Freiheit empfinden.“

In der (nicht alleine) österreichischen Sicht scheint es jedoch so zu sein, dass man es sich möglichst bequem im „Kriserl“ oder „Apokalypserl“, das dereinst schon wieder vorbeigehen wird, zu arrangieren versucht. Motto: Bloß keine Experimente, ändern kann man eh nix, und außerdem bitte noch ein Achterl vom reschen Weißen, wir haben schon immer alles runtergeschluckt.

Aber auch wenn man nicht den sturzheiteren Phäaken alpenländischen Zuschnitts mit depressiver Grundtendenz bemüht, kann man einer anderen Versuchung zur Polemik kaum entkommen. Denn wenn man die angelegentlichen Diskussionen verfolgt, hat es den Anschein, als stünden wir in der Theorieentwicklung immer noch vor den „Ökonomisch-philosophischen“ beziehungsweise „Pariser Manuskripten“ von 1844 und entdeckten, frappiert von dieser unserer Erkenntnisfähigkeit, die Entfremdungsproblematik und das „ausgebildete System des erlaubten Betrugs“ gerade ganz neu.
Postmoderne, Postrukturalismus, Posthistoire, Postkolonialismus . . . Immer wenn sich Theoriegebäude und deren allerneueste Protagonisten abzuheben versuchen, wird unfreiwillig auch ein Quantum Trost in Form von Komik geboten. Weniger komisch ist es jedoch, wenn parallel dazu die schrittweise Freigabe der Märkte im Zeichen avancierter Deregulierung erfolgt, zunehmend die Faszination des globalen Blicks aufkommt (als wären wir noch im 19. Jahrhundert und würden die Welt im Panorama erfahren), die „neuen“ Theorieprojekte im Gegensatz zu den von ihnen verabschiedeten jedoch nicht mehr dazu ermächtigen können, tatsächlich wirksam politisch und sozial zu denken. Rasch sprechen und schreiben sie von der „Macht“ – und es rinnt ihnen ein verführerisch wohliger Schauer über den Rücken, als wären sie Jedi-Ritter in einer „Star-Wars“-Inszenierung. Diese Gedankenströmungen entschlagen sich der Moderne und deren Erkenntnispotenzialen, sie sind nichts anderes als jammernde Begleiterscheinungen für die tatsächlich schlagenden Verhältnisse. Wer sich statt in die vielmehr der Aufklärung begibt, kommt in der Gegenaufklärung um – so, als wäre dieser Nachweis notwendig gewesen.
Die Theoriegebäude scheinen dereguliert, als wären sie nervöse Märkte und allesamt anthropomorph. Die Kritik an den Banken erfordert aber wenigstens die Feststellung, dass sie das auch von anderen Akteuren angetriebene Rad der Spekulation und Weiterentwicklung immer hybriderer Finanzprodukte eifrig mitgedreht und dessen Lauf beschleunigt haben. Dabei gingen sie zwangsläufig (und die meisten wohl sehenden Auges) ihrer eigentlichen Funktion – Finanzdienstleister der realen Wirtschaft zu sein – verlustig. Den Ausgang aus dieser selbst verschuldeten finanzpolitischen Unmündigkeit musste nun der Staat leisten. An ihm und seinen handelnden Kräften würde es nun liegen, die Wiederaufnahme des tollen alten Spiels zu unterbinden. Doch dafür braucht es mehr als die Rufe nach Kürzungen und Einsparungen.

Griechenland, Spanien und andere vergleichbare Staaten werden immer tiefer in eine Krise schlittern, da es keine Perspektiven mehr gibt, die hier Auswege anbieten würden, ohne die Würde und die Lebensqualität der Einwohner massiv zu beeinträchtigen. Was wir hier erleben – und Spaniens Regierung wurde in Kommunalwahlen erst kürzlich dafür exemplarisch abgestraft – ist unter anderem eine echte Massenarbeitslosigkeit, die in Spanien sich beispielhaft in über 45 Prozent Jugendarbeitslosigkeit ausdrückt.

Demgegenüber stehen anscheinend keinerlei moralische, politische Bedenken, sodass es fast angebracht erscheint, sich in Zynismus zu ergehen, betrachtet man die neuen Renditen und die Ablenkungsmanöver von denselben. Verantwortlicher wäre jedoch, in beinahe Kohlhaasscher Manier auf den wirtschaftspolitischen Hauptwiderspruch hinter den aktuellen Entwicklungen immer und immer wieder hinzuweisen: die Verhältnisse von Kapitalrendite versus Beschäftigung oder auch Vermögensverzinsung versus Wachstum. Denn vor allem deshalb wirken heute die automatischen Stabilisatoren im Falle Griechenlands negativ (bei einer schrumpfenden Wirtschaft erhöht sich das Verhältnis der Staatsschulden zum BIP trotz aller Sparmaßnahmen laufend).

Wachstum und Beschäftigung auf möglichst breiter Basis scheinen also als gemeinschaftliches Ziel abgesagt, die Folge daraus könnte sein, dass es Richtung soziale Revolution gehet. Den Menschen zu vermitteln, dass sie leiden müssten, weil „die Märkte“ nervös seien, ist keine ausreichende Hinhaltetaktik. Denn was verstanden wird, ist, dass es kein bloßes Börsentheater ist, dem man allenfalls erste Reihe fußfrei zusehen kann, sondern dass man selbst auf der Bühne – besser noch: in der Arena – steht. Und das Drehbuch ohne Mitbestimmungsrecht einem eine nicht so wirklich glückliche Rolle zugewiesen hat.

Wenn man wissen will, wie Staaten aussehen können, die bereits auf der Zielgeraden des neu eingeschlagenen Weges sich befinden, braucht man nur nach Ungarn oder Italien zu schauen. In beiden Staaten wurden die nunmehrigen Zustände und Verhältnisse durch schrittweise Zerlegung sozialer Erfahrungen und Bedürfnisse, durch sozialgesellschaftliche Prioritäten und die Abschaffung von deren Erfordernissen durch angewandtes Ignorantentum vorbereitet. Hier wurden erfolgreich milliardenschwere Raubzüge durch Einzel- wie auch Gesellschaftsvermögen unternommen. Die gegenwärtige Verfasstheit der je herrschenden Politik und ihrer Medien (mitunter gilt dies in noch stärkerem Ausmaß vice versa, was simpel dem Diktat des Geldes geschuldet ist), vor allem aber: ihrer Marktzugriffe und Vermögensakkumulationen, erscheint hegemonial und nicht ohne jahre-, teils jahrzehntelangen Einsatz zu brechen.

Apropos „Brechen“: Was passiert eigentlich gegenwärtig beim „Arab Spring“? Natürlich stand am Beginn dieser Ereignisse ein nicht mehr unterdrückbar gewesenes soziales und politisches Aufbegehren der Bevölkerung einer zunehmenden Müdigkeit des Machtsystems gegenüber. Doch es ging nicht allein um diese Konfrontation, denn zu viele teils divergierende Kräfte mischten und mischen hier mit. Und somit kann niemand zuverlässig sagen, was auf diese durchaus auch sozialrevolutionären Bewegungen folgen wird. Schließlich stellen die Fundamentalisten in diesen Ländern oft die am besten vernetzten und hochgradig organisierten Kräfte, die stellenweise den Charakter staatlicher Einrichtungen erreichen. Das stets dort, wo sich der Staat aus seiner Verantwortung gestohlen und das Feld „freien Kräften“ überlassen hatte. Nein, auch da werden wir nicht so schnell Vorstufen zu „Westminister-Demokratien“ sehen, mit denen sich zumindest auf einer Basis von Geben und Nehmen verhandeln ließe. Hier gilt es, weitaus komplexere Kräfteparallelogramme im Auge zu behalten, als man aus dem europäischen Blickwinkel zweckoptimistischer Teilnahmslosigkeit meinen möchte.

Es braucht eine fundierte und der Überlegung von Alternativen verpflichtete Kritik der derzeitigen politischen Ökonomie und ihres Umfeldes respektive ihrer Konsequenzen. (Und man beachte dabei den Unterschied zwischen dem bloßen „Sudern“ und einer konkreten Kritik, die an Behebung von erkannten Missständen ernsthaft interessiert ist: Letztere ist in der Wahl ihrer Mittel so präzise wie möglich, will ein Mehr, begreift die nicht wünschenswerten Zustände in all ihrer Komplexität. Sudern ist dagegen ein Akt emotionaler Selbstbefriedigung, theoriefrei und ohne Perspektive. Damit ist es latent selbstbeschädigend – und weil der Suderant im Innersten davon weiß, muss er ganz grundsätzlich eine Schuldzuweisung an andere auf sein schlapp in den Winden seiner Empörung flatterndes Fähnchen schreiben.)

Andernfalls werden wir unaufhaltsam ein weiteres Kapitel – diesmal wird es ein sehr ausführliches und bitterböses werden – in jenem Buch schreiben, das in seiner grundsätzlichen Zweiteilung von der Geschichte und ihrer Wiederkehr handelt, von Tragödie und Farce.
In Zeiten der umfassenden Systemkrise – denn genau damit haben wir es zu tun – verdrängen Christlichsoziale und Sozialdemokratien ihr jeweils zu hütendes Erbe der Aufklärung. Die Aufklärung wird hier ohne weitere Bemühung von Sinn und Verstand über Bord geworfen, das Segel wird gehisst, aufs Steuerrad kann man verzichten, und ansonsten „Gott befohlen!“. Vielleicht noch ein paar Hekatomben ans Schicksal, etwa in Form der Verstaatlichung von Pleiteunternehmen und der Ausverkaufs-Privatisierung von gut gehenden, renditestarken Staatsbetrieben, dann kann man sich dem System, dem neuen Primat des Raubtierkapitalismus, ganz und gar überlassen, sich auf die tragikomische Rolle eines Moderators nach seinen besten Jahren zurückziehen und den Dingen aus einer wohlbestallten Pension im Geiste heraus ihren Lauf lassen. Auch die Heizdeckenbewerbung im Bus bei der Fahrt zum Billigschnitzel nach Bratislava braucht stets jemanden, der am Bordmikrofon das Beste für den jeweils stattfindenden Moment und dessen Zukunft verspricht.

Die Aufklärung wird also endgültig abgesagt (was war das gleich noch mal?), ohne dass dem etwas Begründetes, auch theoretisch und praktisch Brauchbares folgen würde.
Lässt sich all diesen Entwicklungen tatsächlich mit einer Trias aus Aufklärung, Buchkultur (im umfassenden Sinne verstanden), Moderne (als noch lange nicht abgeblasenes Projekt) entgegenhalten? Ich meine, dass dies den ernsthaften Versuch wert wäre – bei allem Wissen um die diagnostizierbare Dialektik der Aufklärung und unter Einbeziehung etwa auch der Säkularismus-Thesen von Charles Taylor. Wir werden sehr harte Bretter bohren müssen – und wir haben uns darüber zu verständigen, wie dick diese Bretter eigentlich sind. Mit anderen Worten: Wie komplex ist die Lage, und was muss ich aufgrund dieser Lageanalyse berücksichtigen?

Wir müssen uns um Fragen des sozialen Ausgleichs, gerechter Umverteilung, umfassender Bildung und regulierter marktwirtschaftlicher Parameter auf Basis vernunftgebundener politischer Prämissen verständigen. Im Rahmen tragfähiger kultureller Bezugnahmen und unter Miteinbeziehung der Schwachen in Gesellschaften. Kurzum: Wir müssen uns um die humanistischen Wurzeln unserer Existenz kümmern, um auf einen grünen Zweig von ausreichender Tragkraft zu gelangen.

Wie läuft es derzeit? Staaten und ihre diversen kapitalistisch unregulierten Instrumentarien wie Banken verschulden sich dramatisch; der wahre Raubzug kommt allerdings beim Schuldenabbau (und das lässt sich nun wahrlich ohne Mühe weltweit beobachten): Wer für diese Miseren und Fehlspekulationen nicht verantwortlich war, kommt in vollem Umfang dafür auf. Die Politik zieht sich aus den Marktfragen zurück (die Märkte sind ja beinahe schon so nervös wie die Politiker selbst, angesichts von folgerichtig nervösen Umfragekonstruktionen hinsichtlich ihrer Beliebtheits- und Beliebigkeitswerte). Sie gibt ihre diesbezüglichen Primate jetzt auch expressis verbis auf und kann dann tatsächlich nur mehr die Moderation der Mängelverwaltung betreiben. Wenn überhaupt. Den Umverteilungsprozess im ganz großen Stil, den von unten nach oben, beobachtet sie dann nur mehr aus der Deckung, ahnend die Sprengkraft, die sich hierbei aufbaut, fürchtend nicht durchzudenkende Konsequenzen.
Und das ist – um einem weitverbreiteten, wirklich dummen Fehler zu begegnen – kein Kommunikationsproblem. Denn sehr wohl ist eine Botschaft angekommen, glasklar und unwiderlegt: Ihr zahlt drauf, und es tut uns eh leid, aber da können wir euch nicht helfen. Woraufhin viele Leute in ihrer Verzweiflung noch stärker die Orientierung verlieren – und dann reif sind für die wahren Untergeher, die bauernschlauen und völlig skrupellosen Demagogen und Populisten. Das ist widerlich, aber so nimmt sich das politische Geschäft derzeit aus.

Wenn man entgegen all der gegenwärtig zu beobachtenden Strömungen und Strudel, die sich zu einem durchaus überwältigenden Strom der Ereignisse vereinen wollen, dabeibleiben möchte, dass ein Zusammenhang von Marktwirtschaft und politischer Demokratie unabdingbar ist, dass der humanistische Grundkonsens einer als solcher verstandenen und sich verstehenden Gesellschaft zu erhalten ist, muss einem klar sein, dass Politik eine gestaltende Rolle haben muss für die Balance der Bedürfnisse der Bevölkerung und der Märkte. Wenn das nicht klappt, fliegen beide auseinander – denn das ist das besonders Zynische an dem „Spiel“: Nicht nur kann der Mensch des Menschen Wolf sein, sondern auch der Markt des Marktes Schließung (in dieser Hinsicht ist die Verwandtschaft des Homo sapiens mit dem Homo oeconomicus durchaus auffällig – wenngleich dem Letzteren stärkere Selbstzerstörungstriebe eingelagert sind). Letzteres ist im Übrigen absolut systemimmanent, denn die unbedingte Aufrechterhaltung und Bestärkung der eigennützigen Ansprüche und Begehrlichkeiten führt ohne Gestaltungsprimat in die Beliebigkeit und damit in den Schlund monopolistischer Leviathane noch selten gesehenen Ausmaßes. Es ginge mithin um die Frage, wie sich zugunsten eines Ausgleichs eingreifen lässt, mittels dessen der Raubtierkapitalismus (der noch nicht einmal in Ansätzen sein kannibalisches Potenzial zu erahnen scheint) eine rationale Zähmung im Sinne sozial funktionierender Gesellschaftssysteme erfährt.

Nach 1945 hatte man gelernt, dass Massenarbeitslosigkeit zwingend von Übel ist und in eine Katastrophe führt. Und so kamen wir in größeren Teilen der Welt zu Wohlstand, konnten wir wirtschaftliches Wachstum und steigende Beschäftigungsquoten zu einem brauchbaren Ausgleich zusammenführen. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten kam es jedoch, als hätte man aus der Vergangenheit nichts gelernt, zunehmend zu einer Zurücknahme von Regelungen, kam es zum Aufbau eines Raubsystems inklusive seiner Blasen und deren Platzen – und dem hochgradig gewinnträchtigen Umverteilen zugunsten neuer Blasen. Die einstige Balance ist jedenfalls passé, so viel ist gewiss.

Meines Erachtens wird man bei der Suche nach alternativen Szenarien, die es zu erarbeiten – möglicherweise: zu erkämpfen – gilt (abgesehen von Elementen der Aufklärung, des Humanismus, der Kultur des Buches und der umfassenden Bildung für alle sowie der wesentlichen Errungenschaften der Moderne), nur eine Möglichkeit gegenzusteuern finden. Diese Möglichkeit stellt die Europäische Union dar, nur aus dieser heraus kann die Verfasstheit für das Gegensteuern kommen, können abgesehen von nationalistischen Eitelkeiten ohne Sinn und Verstand auch Wirtschafts- und Ausbeutungsexzesse hintangestellt werden. Der Eingriff in die Ökonomie und ihre spezifischen Spielregeln der Gegenwart muss heute auf relevanter Aggregationsebene erfolgen. Die EU braucht dafür selbstverständlich andere Mehrheitsverhältnisse, sie braucht sozial inspirierte Kräfte, die ein neues Projekt auf den Tisch legen können. Gewiss. Aber grundsätzlich und von den Strukturen her wäre das eben tatsächlich denkbar, wäre es zu betreiben – und nicht nur ein Luftschloss als letzter Rückzugsort desperater Gegenwartswahrnehmung.

Robert Menasse konstatierte mit Blick auf die aus seiner Sicht so notwendige Überwindung der Nationalstaaterei vor zwei Wochen im „Spectrum“, dass „die nationalistische Karte eine Trumpfkarte ist, wenn es um innenpolitische Legitimation geht“. Dies nicht zu erkennen und sich nicht aus dieser eingespielten Übung zu verabschieden würde durchaus unangenehme Folgen zeigen: „Wir werden im 21. Jahrhundert das 19. Jahrhundert endlich überwinden müssen – oder wir werden in das 19. Jahrhundert politisch zurückfallen, allerdings am Stand der Produktivkräfte des 21. Jahrhunderts, und das wäre gemeingefährlich!“
Es braucht – und die EU braucht – ein Projekt der sozialen Demokratisierung Europas! Wenn wir über die europäischen Grenzen hinwegblicken, sehen wir, dass es in vielen Teilen der Welt eine Modernisierungsdebatte unter dem Blickwinkel einer sozial bestimmten Modernisierung gibt. Ein derartiges Projekt steht etwa in den relevanten Diskussionen Brasiliens oder auch Indiens – und in gewisser Weise selbst in China! – in Rede. China hat selbstverständlich noch einmal sehr andere Bedingungen (und über die schwerwiegende Problematik der Menschenrechte und Demokratiedefizite brauchen wir hier nicht zu diskutieren), aber selbst die dort herrschenden kommunistischen Kapitalisten (die Contradictio in Adjecto haben sie sich schon selbst zuzuschreiben) scheinen begriffen zu haben, dass ohne einen Ausgleich oder zumindest einer Andeutung sozialer Balance der „chinesische Weg“ implodieren wird.
Ich denke, dass es eben nicht nur um Europa geht (als wäre das nicht ohnehin bereits eine Aufgabe mythischen Zuschnitts). Das zu guten Teilen nicht nur aufschlussreiche, sondern vergnüglich zu lesende Gespräch von Stepháne Hessel und Richard David Precht in der „Zeit“ veranlasst mich, mein Projekt der höheren Synthese von Sozialismus und Liberalismus, das ich mehrfach als Parteivorsitzender angesprochen habe, noch einmal zu strapazieren. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass sich hier eine Brücke zwischen strukturierter ökonomischer Kritik und der Frage nach dem zunehmenden Freiheitsverlust schlagen lässt. Dieser ist unstreitbar gegeben, und es wäre mir ein Anliegen, neben einer Kritik der aktuell vorgesetzten Auffassung von Ökonomie auch den Verlust an Freiheit anzusprechen. Haben wir den „Krieg gegen den Terrorismus“ mit dem Tod Bin Ladens gewonnen, wenn wir unter diesem Titel die Grund und Freiheitsrechte reduziert haben (von den entwürdigenden Flughafenkontrollen bis zu elektronischen Überwachungsmaschinerien, die die Privatheit des Subjekts eliminieren)? Wäre nicht antizyklisch ein Projekt der „Befreiung“ anzudenken, das auch im Zuge des erwähnten „Arab Spring“ zu beobachten war und wirkungsvoller sein könnte als der Krieg in Afghanistan? Es ließe sich, wollte man diesen nur scheinbar unterschiedlichen (weil vorgeblich nicht kulturell deckungsgleichen) Anliegen einen Sinn geben, so etwas wie eine „Christdemokratisierung“ zu unterstützen – diesfalls für den Arabischen Raum. Ein Plädoyer dafür würde bedeuten, für die Existenz von Parteien einzustehen, die vom islamischen Glauben inspiriert sind, aber eine zivile statt einer gottesstaatlichen Verfassungsgrundlage akzeptieren (hier könnte Europa seine Schlussfolgerungen aus jahrhundertelangen Religionskriegen einbringen).

Tony Judt hat 2010 in seinem Essay „Ill Fares the Land“ dem Westen attestiert, dass dieser Solidarität und Moral zu entsorgen im Begriff sei. Es gelte jedoch, so Judt, gegen diese Entwicklungen zu handeln, den Staat, die soziale Frage und die Frage des Gemeinwohls wieder auf die Agenda zu setzen. Hier anzuknüpfen und weiterzumachen gibt denn auch Hoffnung: den Wörtern, die noch jede Krise überstehen konnten. Und uns, die wir eine epochale Krise zu bewältigen haben. Es geht wider die Beliebigkeit! ■

ALFRED GUSENBAUER

Geboren 1960 in St. Pölten. Dr. phil. Parteivorsitzender der SPÖ 2000 bis 2008 und österreichischer Bundeskanzler von Jänner 2007 bis Dezember 2008. Danach Tätigkeiten in der Wirtschaft und Lehraufträge an US-Universitäten. Sein Beitrag gibt – geringfügig gekürzt – die Rede wieder, die er am gestrigen Freitag anlässlich der Überreichung der Kreisky-Preise an Charles Taylor und Sandra Innerwinkler sowie des Verleger-Sonderpreises an Lojze Wieser hielt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2011)

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