"Das lebt man, das ist alles"

Sie sieht sich als jemanden, "der einen Schritt hinter Sartre bleibt, manchmal schlurfend, manchmal eilend, im Versuch, ihn einzuholen". Er hat sie ihr Leben lang belogen. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre: über das Briefeschreiben als Liebesdienstleistung. Und über unseren Voyeurismus beim Lesen fremder Briefe.

Einen Literaturkritiker habe ich sagen hören, er würde nicht das Leben rezensieren, sondern nur den Widerschein desselben in der Literatur. Er wollte damit wohl ausdrücken, dass er für sich auch noch ein Leben habe. Aber weil dieses Leben echt ist, ist er darin auch frei von den Stigmata seines Berufs. Den Literaturkritiker habe ich ausrufen hören: „Ich hab doch keinen Autor!“

An unserer Kultur liebe ich sehr, dass man in ihr nichts behaupten kann, was nicht zugleich richtig und falsch ist. Dadurch hat ein jeder Mensch, wenn er nur will, die Chance, sofort einen Fundamentalisten zu erkennen und lächerlich zu finden. Das will natürlich nicht jeder, und darauf können sich die Dogmatiker verlassen: Das Publikum hat es gerne, wenn einer die Knoten der Existenz wie einen gordischen Knoten zerschlägt. Danach schürzen sie sich allerdings sofort wieder. Aber was macht es? Man hat einen Augenblick des Triumphes erlebt.

Man soll sich, habe ich gelesen, in der „Überkomplexität unserer Kultur“ die Naivität bewahren. Das glaube ich auch, und ich spüre geradezu körperlich, wie überkomplex die Aufforderung ist, sich die Naivität nicht nehmen zu lassen. Diese Aufforderung kommt mir wie die am meisten komplexe Variante der „Sei-spontan!“-Maxime vor. Dafür muss man stark sein, und das Wesen bedeutender Menschen ist ja auch damit definiert: Sie schwanken in keinem Einerseits-Andererseits, sie sind auch nicht lächerlich entschieden und unterbieten mit Eindeutigkeiten die Verzweigungen des Lebens. Sie sind in ihrem Zweifel nicht dekadent, nicht grüblerisch, sondern noch genug naiv, und in ihrer Stärke sind sie nicht zynisch, auch wenn sie vielen überlegen sind und sie dazu zwingen, zu ihnen aufzuschauen.

Das ist eine simplifizierende Utopie, mit der ich aber ausdrücklich arbeiten möchte. Es geht um zwei bedeutende Menschen, die nicht zuletzt, weil sie sich selbst und auch einander so viel bedeuteten, für viele Menschen auf der Welt bedeutsam waren. Von ihnen gibt es einen Briefwechsel, und ich muss gleich eine Frage beantworten, aber nur, damit ich sie dann ein für alle Mal los bin, nämlich: Lohnt es sich, die Briefe Simone de Beauvoirs an Jean-Paul Sartre zu lesen oder sie gar käuflich in der nicht billigen zweibändigen Ausgabe zu erwerben?

Die Antwort: Ja, ja, es lohnt sich, aber unter wenigstens zwei einschränkenden Voraussetzungen: Der Käufer muss erstens Sinnfür Kolportage haben, das heißt für den netten Schund publizierter Intimitäten. Es wird schon was Wahres dran sein, wenn einer der deutschsprachigen Rezensenten der Briefbände darauf hinweist, nur „ein Tropf“, dem nicht zu helfen wäre, könne das Höhere (oder vielleicht auch das Tiefere?) an diesen Briefen übersehen; das macht – so würde ich mich wehren – ja die Kolportage aus, dass sie ihre Höhen und Tiefen hat.

Aber allein ein wohltemperiertes Interesse für das Hohe und das Tiefe reicht nicht: Es muss nämlich zweitens, will man so teure Bücher wie diese Briefbände mit Gewinn erstehen, noch jenes Interesse für das sogenannte authentische Leben, für das Leben wirklich gelebt habender, berühmter Persönlichkeiten da sein.

Authentisch ist nichts anderes als eine bestimmte zur Haltung stilisierte Pose, an der keineswegs allein die Poseure schuldig sind, denn damit der Mythos sich bilde, bedarf es des Publikums, das sich durch Glauben in eine exzellente Welt einkauft, aus der es sonst ausgeschlossen wäre; alles von der Art ist eben Abmache, und ich sage das als Anhänger von Beauvoir und Sartre, denn es gibt für mich keinen einzigen Grund, die eventuelle Vorbildhaftigkeitdieses Paares zu bestreiten – bloß wegen dieser Briefe, die in ihrer gelegentlichen Banalität, in ihrer – um etwas zu heideggern – Verfallenheit ans „Man“ schonziemlich weit gehen.

Es wurde in den Rezensionen gesagt, Beauvoirs Briefe seien viel weniger elegant, viel weniger gut geschrieben als die Sartres; es wurde auch gesagt, dass das daran liegen könnte, dass Sartre, während er Soldat war, am Pariser Leben teilhaben wollte. Simone de Beauvoir hätte ihm daher in den 1930er- und 1940er-Jahren Briefe geschrieben, die dieses bis in banale Details hinein schilderten. „Alles“, schrieb die Beauvoir an Sartre (der sie Castor, Biber, nannte), „was ich erlebe, erlebe ich, um es Ihnen zu erzählen, damit es zu einer kleinen Bereicherung Ihres Lebens wird.“ Briefeschreiben also als Dienstleistung, als Liebesdienstleistung.

In Sartres Briefen finden sich Meisterstücke der Darstellungskunst, was Simone de Beauvoir, die Herausgeberin seiner Briefe, als „Transkription des unmittelbaren Lebens“ bezeichnete. Briefeschreiben als Verschriftlichung verfließender Unmittelbarkeit, als Bewahrung des Kontingenten, von dem verschluckt zu werden der Horror der nach authentischem Leben dürstenden Philosophen war.

In Beauvoirs Briefen gibt es ebenfalls außerordentliche Stellen, in denen das unmittelbare Leben vorzüglich transkribiert erscheint. Die meiner Ansicht nach großartigste Stelle in den Briefen der Beauvoir hat, meine ich, als Paten de Sade. Über den Marquise hat Simone de Beauvoir in den 1950er-Jahren auch eine Studie mit dem Titel „Soll man de Sade verbrennen?“ veröffentlicht.

Die sadistische Stelle in ihrem eigenen Briefwerk ist die Darstellung eines lesbischen Geschlechtsakts, fast rein aus der Mechanik des Vorgangs heraus, kalt und herzlos, wie es die Kunst vielleicht gebietet, die Moral aber sicher verbietet. Solche amoralischen, lustlosen Liebeserlebnisse kommentiert Simone de Beauvoir in ihren Briefen an Sartre einmal charakteristischerweise so: „... wir sind zu mir hochgegangen und haben uns, soweit das überhaupt geht, etwas liebkost, aber ich war kühl wie ein Fisch, es scheint mir übrigens, ich bin vollkommen frigide, das ist auch eine Art Blockierung.“

In der feministischen Sekundärliteratur habe ich folgende These gefunden: Simone de Beauvoir hätte Sartre gegenüber die gleichgeschlechtliche Liebe abgewertet, um ihm klarzulegen, die wahre Liebe sei nur mit Männern zu feiern, und tatsächlich: Währenddie Berichte über das Gleichgeschlechtliche in den Briefen den Eindruck erwecken, hierwürde eine Frau die mit anderen Frauen konsumierte Lust im Nachhinein negieren, kommtdas Heterosexuelle gutweg. „Ich frage mich“, schreibt Beauvoir zumBeispiel, eine Szene dialogisch wiedergebend,in der sie einen Freund Sartres verführt, „was für Augen Sie machen würden, wenn ich Ihnen vorschlagen würde, mit mir zu schlafen, und er sagte: Ich dachte, Sie würden denken, ich hätte Lust, Sie zu küssen, ohne es zu wagen.“

Darauf folgen logischerweise, wie in einem französischen Film, „idyllische Tage und leidenschaftliche Nächte“. In Frankreich hat die Veröffentlichung dieser Briefe auch zu Bitterkeiten geführt: Das soll also das vorbildliche Paar, die beispielhafte Gemeinschaft von Mann und Frau gewesen sein? In der Tat waren die Strategien von Sartre und Beauvoir, zwischen Lust- und Realitätsprinzip zu vermitteln, eng zusammenzubleiben und dennoch anderen Menschen beizuschlafen, von einer erstaunlichen,peinlichen Härte gegen Dritte.

Eine dieser Dritten, Bianca Lamblin, hat ein Buch mit dem Titel „Memoiren eines getäuschten Mädchens“ veröffentlicht, anspielend auf Beauvoirs „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“. Die Rowohlt-Taschenbuchausgabe dieser Memoiren zeigt als Titelbild Fotos von Sartre und Beauvoir, so als ob ihr Bild über alles triumphieren würde. Und so ist es wohl auch. Für Aussagen einer von Berühmten Verletzten, einer von ihnen Getäuschten kann man am besten mit den Porträts derer, die ihr das angetan haben, Reklame machen. Auch hier zeigt sich die Schwäche der Moral: Gegen die Faktizität der Berühmtheit kommen Normen nicht an. Beauvoir und Sartre haben der Menschheit mehr gegeben, als der Einblick in ihre private Niedertracht dieser Menschheit je wieder nehmen könnte. Warum also überhaupt so einen Einblick geben? Nicht Rache, schreibt Lamblin, bewegt sie, „sondern schlicht der Wille, die Wahrheit zu sagen“. In ihrer Jugend war sie die Geliebte ihrer Professorin Beauvoir und auch Sartres Geliebte gewesen. „Heute“, schreibt Lamblin nach derLektüre von Beauvoirs Briefen an Sartre, „begreife ich, dass ich das Opfer der donjuanesken Neigungen Sartres und der ambivalenten undurchsichtigen Protektion wurde, die Castor diesen gewährte. Ich war in ei- ne Welt komplexer Beziehungen eingetreten,die erbärmliche Verwicklungen, jämmerliche Berechnungen, permanente Lügen nach sich zogen, in denen sich nicht zu verheddern beide aufmerksam bemüht waren. Ich habe entdeckt, dass Simone de Beauvoir in ihren Klassen junger Mädchen nach ,Frischfleisch‘ Ausschau hielt und davon kostete, bevor sie es Sartre andrehte oder, um es noch gröber zu sagen, ihm zutrieb.“

Simone de Beauvoirs Briefe führen vor, wie außerordentlich kompliziert ein Alltag wird, in dem man verschiedenen Lieben gleichzeitig Genüge tun muss. Ich habe daraus gelernt, was andere längst wussten, dass nämlich Treue nicht bloß ein moralisches oder gar ein metaphysisches Gebot ist. Treue erweist sich als praktisches Prinzip, als Ordnungsprinzip, das dabei hilft, im Alltag nicht ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs existieren zu müssen. Ich erkläre mir die seltsame, rücksichtslose Härte der Beauvoir gegen Dritte, die sie einmal will und ein andermal wieder grob wegschickt, nicht nur aus dem paradoxen Kampf um Sartres ungeteilte Liebe. Eine Härte dieser Art kommt wahrscheinlich auch daher, dass man Menschen, die man an sich zieht, obwohl man für sie gar keinen Platz hat, oft wie Dinge hin und her schieben muss. Sonst würde man selbst untergehen, entmächtigt, selbstentfremdet werden. Die Beauvoir beklagt sich dementsprechend auch einmal, „Sklavin“ der Ansprüche anderer geworden zu sein, aber sie sieht doch, wie fragwürdig ihr Verhalten diesen anderen gegenüber ist. Um an dieser Fragwürdigkeit nicht allzu sehrzu leiden, beruhigt sie sich gelegentlich mit einem fürchterlich zutreffenden Realismus, den sie Sartre mit der stimmigen Formel mitteilt: „Es stimmt, dass man schnell, wie es heißt, zur Tagesordnung übergeht, wenn ein anderer in der Klemme sitzt.“

Die Fragwürdigkeit, fragt man mich, liegt nicht zuletzt am Existenzialismus: Der Existenzialismus ist eine subjektverschlossene, eine ichbezogene Philosophie, in der sich das Problem des anderen, des anderen Menschen, erstens nur sekundär und zweitens nur sehr widersprüchlich, ja, antithetisch stellen lässt. Selbst möchte man ja nicht von einem anderen als ausgrenzbare Antithese behandelt werden, und in gewissen Momenten denkt man leicht ähnlich wie die Beauvoir, als sie über einen ihrer Abschiede von einer ihrer Geliebten an Sartre schrieb: „... der Abschied war pathetisch, jedenfalls ihrerseits, ich war gerührt, aber auf kühle Art und Weise, und es war mir eherunangenehm, auf ihrem Gesicht Gefühle wiederzufinden, die ich gehabt habe, fürandere, und die ich schon seit Wochen nicht mehr habe – ich werde hart, mon amour, Ihre kleine Person wäre nötig, um mich zum Schmelzen zu bringen.“

Die Liebe zu Sartre ist die lebenslange, große Synthese, durch die die anderen Antithesen ertragen werden können und die die dabei auftretenden Härten zum Schmelzen bringt. Mir scheint, weit entfernt von einem Übermenschenkult war diese Verehrung für Sartre nicht; einmal schreibt die Beauvoir: „Was für eine inhaltslose Nahrung, all die Leute, die nicht Sie sind.“ Dann wiederum: „Wenn ich all diese Wracks sehe und all diese kleinen liebenswerten schwachen Gestalten – dann ist mir die Vorstellung angenehm, wie stark wir sind, Sie und ich.“

Sie sieht keineswegs, dass die anderen nicht zuletzt ihretwegen solche Wracks sind, sondern im Gegenteil: „Ich finde, bis jetzt ist es ein Erfolg für unsere Lebensform; mon amour, es ist nicht nur unser Verhältnis, das Ihnen gelungen ist, es ist wirklich Ihr Leben, Ihre Moral und im Gegenzug auch mein Leben...“

Das Leben im Gegenzug. Der amerikanische Soziologe Michael Walzer hat in seinem Buch „Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20.Jahrhundert“ Simone de Beauvoir gewürdigt. Das war ihm jedoch nicht ohne den Hinweis möglich, die intellektuelle Leistung Beauvoirs würde durch ihre Beziehung zu Sartre, durch ihre eigene Darstellung verschleiert. Wenn sie über ihre mit Sartre geteilten philosophischen Auffassungen und das gemeinsame politische Engagement schriebe, so würde sie sich meist als jemanden sehen,„der einen Schritt hinter Sartre bleibt, manchmal schlurfend, manchmal eilend, im Versuch, ihn einzuholen“.

Dass Beauvoir zumindest mit einem Buch Sartre voraus war, nämlich mit dem umfangreichen, gründlichen Essay „Das andere Geschlecht“, das weiß man heute, da Sartres Stern am Philosophenhimmel schon lange – zu Unrecht – im Sinken begriffen ist. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir waren zu ihrer Zeit Weltstars – Weltstars als Philosophen; das war einmal, das kommt nicht wieder. Man lese nur in Beauvoirs Memoiren, etwa in „Der Lauf der Dinge“, über all die Reisen, von all den Anekdoten, die festhalten, wie die Weltprominenz sich selbst befruchtet. Etwa: „Würde es Ihnen und Sartre Spaß machen, Hemingway kennenzulernen?“ Oder der Protokollsatz: „Plötzlich warf Koestler Sartre ein Glas an den Kopf, das an der Wand zerschellte.“

Stars erfüllen in der Wirklichkeit nie, was sie versprechen; das ist nicht ihre Schuld, es ist ihr Wesen. Sie sind viel mehr Produkte unserer Sehnsucht als ihrer eigenen. Durch solche Briefe hat man das Gefühl, jetzt endlich die Wahrheit zu wissen, und diese ist für unsereinen seit eh und je desillusionierend. Aber Vorsicht: Wer etwa eine berühmte Interviewpassage gegen Sartre und gegen den Wert seiner Beziehung zur Beauvoir ausspielen möchte, den könnte gerade die Desillusionierung täuschen. Sartre wurde in dem besagten Interview gefragt, wie er denn das mache, mit seinen vielen Frauen, und er antwortete: „Ich belüge sie: Das ist leichter und anständiger.“ – „Belügen Sie alle?“ – Er lächelt: „Alle!“ – „Auch den Castor?“ – „Besonders den Castor.“ Wenn es wahr ist, was Sartre hier gesteht, dann ist es ein Skandal: Dann hätte er die Frau, mit der er den Pakt geschlossen hatte, sich alles anzuvertrauen, ein Leben lang belogen; aber warum hätte dieser chronische Lügner Sartre ausgerechnet in einem Interview sagen sollen, dass er in Wahrheit dauernd lügt? Vielleicht hat Sartre deshalb in seinen Bart gelächelt, weil er als Philosoph genau wusste, bei solchen Fragen nach der Wahrheit zitiert man am besten das klassische Lügnerparadox: Wenn ich sage, dass ich ein Lügner bin, und es stimmt, dann habe ich die Wahrheit gesagt – also doch gelogen, weil ich dann doch kein Lügner war.

Niemandes Leben liegt jemals zur Rezension vor, auch wenn Briefe veröffentlicht werden, die diesen Eindruck erwecken. Es ist nichts anderes gewesen als das Lesen fremder Briefe, das Erschleichen eines Einblicks in eine fremde Innenwelt. Der eingangs zitierte Kritiker hat einerseits recht: Es ist nur der Widerschein des Lebens, selbst in Briefen. Andererseits hat er aber unrecht: Die Innenwelt ist einmal wirklich gewesen, sie hat das Leben zweier Menschen bestimmt. Und so versteht man alle Texte, die davon übrig geblieben sind, also auch die Briefe, diese Lebensreste, nicht bloß als Widerschein. Man macht sich, wie an alle Texte, mit der eigenen Lebenserfahrung an sie heran, auch Kritik erprobt sich nicht allein am Widerschein, bei ihr spielt vieles mit, was man aus außerliterarischen Erfahrungen zu wissen glaubt.

In den Briefen von Simone de Beauvoir an Jean-Paul Sartre steht über die beiden und über ihre Beziehung beileibe nicht alles; alles könnte man nur in einem komplizierten Verfahren rekonstruieren. Dafür müsste man das Ineinander von öffentlichem und privatem Sein, die Vermischungen von sexuellem und sozialem Begehren, die persönlichen Zeiten und die historischen Epochen und was immer auch sonst kombinieren. Sartre hat das mit Flaubert versucht – so erfolgreich, dass seine Studie über Flaubert in der Rezeption marginalisiert wurde. Es wird natürlich lieber „Geschlossene Gesellschaft“ von Sartre gespielt, da hat man schöne, weltberühmte Sager: „Also das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt... Wisst ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost... Was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die andern.“

Das ist die Wahrheit, vielleicht auch gegen Sartre, der diese Hölle nicht prinzipiell gemeint hat. Ich glaube, er hat gemeint, dass sie sich unter Umständen auftut, in denen Menschen Verzicht auf ihreFreiheit leisten und aufeinander schauen müssen, um zu wissen, wie sie sein sollen. Auf diese Weise lässt man zu, dass der Nächste einem zur Hölle wird. Sartres Flaubert-Studie, „Der Idiot der Familie“, ist die unglaubliche, aber angemessene Anstrengung, herauszufinden, wasman über ein Menschenleben, das man nicht selbst geführt hat, wissen kann. Man müsste das Gleiche mit Beauvoir und Sartre versuchen, falls man wirklich erfahren möchte, ob sie zu Vorbildern taugen oder nicht. Würde man es mit ihnen versuchen, dann – so glaube ich – würden die hier zitierten Briefe keine Hauptrolle spielen. Immerhin stammen sie aber aus einer Zeit, da noch nicht dermaßen selbstverständlich telefoniert wurde. Damals musste man noch vieles von dem aufschreiben, was man heute einfach so hinsagt.

Für diese Briefe gilt, dass man sie notgedrungen zum Teil auch als Voyeur liest. Man macht sich mit der eigenen Lebenserfahrung an sie heran. Wie immer einem solche Briefe angetragen werden, man bleibt ihr ungebetener Gast; sie verraten etwas Privates und Intimes, und ihre Veröffentlichung beruht darauf, dass solche Briefe neben vergangenen Zeiten, neben einem gelebten Leben auch ein Bild der Liebenden festhalten möchten. Dann liest man Lamblins Buch, und plötzlich steckt man in einer Beziehungskiste. Man möchte sofort sagen: Macht's euch das untereinander aus! Aber ich sollte nicht heikler tun, als ich bin, denn vieles aus dem Liebesleben der Philosophen ist sehr, sehr interessant: Wie haben sie gelebt, welche Art von Begehren haben sie für sich erfunden, und wie haben sie die Erfüllung organisiert?

Für Interessenten gibt es bei dieser Fragestellung ein Ärgernis: Zu Recht wird der Biografismus abgelehnt, also etwa das Herauslesen der privaten Charaktere von Autoren aus ihrem Werk. Aber mit Zeugnissen dieser Privatheit in Briefform sitzt man vor einer Schrift, vor etwas Abstraktem, das man indiskret konkretisieren muss. Doch selbst die gründlichsten Entschlüsselungen, die kompliziertesten Konstruktionen müssen die alte Philosophenerfahrung wiederholen, dass die Existenz vor die Essenz geht. Oder wie Simone de Beauvoir es in dem Buch über Sartres letzte Lebensjahre in „Die Zeremonie des Abschieds“ geschrieben hat: „Das kann man nicht sagen, das kann man nicht schreiben, das kann man nicht denken; das lebt man, das ist alles.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)

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