Sieben ganz junge Gretchen

Bukarests Theater sind voll, manchmal sogar übervoll. Davor martialisch dreinblickende Security-Leute. Allenthalben diese Lust auf jede Art von Kunst. Und nachts bellen die Hunde. Ein Lokalaugenschein.

Al Pacino!“, sagt der wohl optimistischste Theater-Impresario des Landes. „Ich habe Al Pacino nach Rumänien eingeladen. Er hat noch nicht geantwortet, aber ich bin voll Hoffnung, dass er kommen wird!“ Emil Boroghina leitet das Shakespeare-Festival, das alle zwei Jahre in Craiova stattfindet. Dieser Mann hat schon viele Theater-„Celebrities“ in die rund zwei Autostunden von Bukarest entfernte Industriestadt geholt. Klaus Bachler war schon Anfang der 90er-Jahre dort, um sich Aufführungen für die Wiener Festwochen anzuschauen. Zusammen mit dem damaligen Theaterdirektor Boroghina wurde eine Ko-Produktion für die Wiener Festwochen 1993 vereinbart: „Phaedra“ nach Euripides und Seneca, in der Regie von Silviu Purcarete. Diese Aufführung reiste anschließend um die Welt – und Purcarete ist von Craiova aus ein Star-Regisseur geworden, der im In- und Ausland arbeitet. Auch an der Wiener Staatsoper hat er bereits inszeniert.

Emil Boroghina hat für sein kommendes Shakespeare-Festival in Craiova wieder einige „bescheidene“ Wünsche umsetzen können. So kommt etwa Robert Wilson im April 2012 mit dem Berliner Ensemble von Claus Peymann mit „Shakespeare-Sonetten“. Es ist eine besonders aufwendige Produktion und für den Impresario und seine Sponsoren auch nicht billig. Aber Wilson in Craiova: Das bringt nicht nur der Stadt, sondern auch dem Land Ruhm und Glanz. Silviu Purcarete bereitet für das Festival in Craiova Shakespeares „Sturm“ vor. Und da blüht die Fantasie des Theaternarren und genialen Netzwerkers Boroghina wieder auf: Fast 20 Jahre nach seiner ersten Produktion in Wien möchte er – quasi als „Jubiläumsveranstaltung“ – mit dem „Sturm“ wieder zu den Wiener Festwochen eingeladen werden. Vielleicht ist ja Markus Hinterhäuser, Intendant ab 2014, interessiert?

Es ist ein sonniger, kalter November in Bukarest. Auf der Bühne der Staatsoper wird heißer Schnaps ausgeschenkt, und die grotesk gekleideten Schauspieler lassen nach und nach die Sau raus. Es ist Karneval in der Vorstadt, man spielt Ion Luca Caragiales „D'ale Carnavalului“ in der Inszenierung von Silviu Purcarete, diesmal als Gastspiel des Theaters von Sibiu (Hermannstadt): Ein Lastwagen (!) wird auf die staubige Bühne geschoben, Menschen strömen aus dem Laderaum, um am Ende des Abends wieder still in der Anonymität zu verschwinden. Dazwischen ein Hexenkessel mit Blaskapelle, Liebe, Intrigen, Verwechslungen, Verzweiflung und grotesker Komik. Caragiale (1852–1912) ist der Nationaldichter der Rumänen. Einzelne seiner Stücke sind auch außerhalb Rumäniens gespielt worden, aber Sprachwitz und Sprachbedeutung dieses genialen Kritikers der Bourgeoisie sind schwer in andere Sprachen zu übertragen. Vor dem Nationaltheater in Bukarest steht – zu Ehren des Theatergenies – eine zehn Meter hohe Installation mit 16 Figuren, die jeweils eine Persönlichkeit aus seinen Theaterstücken darstellen. Von seinem steinernen Sockel aus schaut Caragiale amüsiert diesen bronzenen Spießern, Schleimern und Korrupten, die nicht selten heutigen Politikern ähneln, aus einiger Entfernung zu.

Silviu Purcarete, der mit seiner Familie bei Paris lebt, gehört zur Elite der rumänischen Theatermacher. Bereits beim Edinburgher Theaterfestival, 1991, erhielt seine Inszenierung von „Ubu Rex mit Szenen aus Macbeth“ den Kritikerpreis. Gerne interpretiert er alte Texte neu und spielt den Ko-Autor, indem er etwa Texte aus verschiedenen Stücken kombiniert. Erschafft beeindruckende, oft groteske Massenszenen und entdeckt in der Tragik immer auch Komik. Seine „Faust“-Inszenierung, 2007 im Rahmen der „Kulturhauptstadt Hermannstadt“erstmals gezeigt, hat in vielen Städten rund um die Welt Station gemacht. Die Rolle der Margarethe verteilte derRegisseur auf sieben ganz junge Mädchen...

Alexandru Darie, Regisseur und Theaterdirektor, zeigte im Bulandra-Theater die Bearbeitung eines Kurzromans von Dostojewski: „Aufzeichnungen eines Unbekannten“. In einem berückenden Bühnenbild in braun-roten Tönen toben Verzweifelte, Liebende, Besserwisser, Kinder und alte Leute durch ein verfallenes Landhaus. Schauspieler in Rumänien beeindrucken immer wieder durch eine elektrisierende körperliche und emotionale Präsenz. Alice Georgescu, prominente Theaterkritikerin und künstlerische Direktorin des nationalen Theaterfestivals: „Diese Vitalität zeichnet rumänische Schauspieler aus. Ich wünsche mir oft aber mehr intellektuelle Kontrolle. Unsere Schauspieler sollten mehr mit dem Intellekt ihre Emotionen und Körper steuern. Eine Brecht'sche Tradition wie in Deutschland ist in Rumänien kaum bekannt. Wir sind hier immer noch etwas zaghaft, wenn es darum geht, andere Theaterstile auszuprobieren. Und im Theater gibt es immer noch die Tendenz, gegen eine Zensur zu kämpfen, die es nicht mehr gibt – abgesehen von der ökonomischen Zensur, dem Geld. Die Menschen hier fühlen sich noch immer nicht frei, ich meine: innerlich frei.“

Alice Georgescu hat Theaterpersönlichkeiten aus allen Teilen des Landes mit einer Vielfalt von Produktionen in die Hauptstadt eingeladen. Es wurde in Rumänisch, Ungarisch und Deutsch gespielt – entsprechend den Minderheiten. Bei fast allen Aufführungen gab es englische Übertitel. Theaterdirektoren hoffen auf das Ausland, auf Ko-Produktionen. Obwohl von öffentlicher Seite relativ viel Geld für Kunst und Kultur ausgegeben wird. Übrigens: Auch das kulturelle Angebot der Fernsehstationen erinnert an die „gute alte Zeit“ des ORF mit seinen Magazinen für Film, Literatur und bildende Kunst...

Das Motto des zehntägigen Theaterfestes in Bukarest war heuer ein Satz von Anton Tschechow: „Der Mensch, dieses sonderbare Wesen...“. Andrei Serban, ein durch die politischen Umstände vor 1989 „verlorener Sohn“, der in die USA emigriert war, kehrte 1990 für einige Zeit nach Rumänien zurück und wurde kurzzeitig Direktor des Bukarester Nationaltheaters. Seine „Antiken-Trilogie“ aus der Zeit ist bereits Theaterlegende. Serban beschäftigt sich immer wieder mit Tschechow. Seine Inszenierung von „Onkel Wanja“ vom Ungarischen Theater inKlausenburg war einerder Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Es ist großartiges Schauspieler-Theater. Von Brookund Grotowski habe ergelernt, „immer zumSchauspieler zurückzukehren“. Und mit jungen Schauspielern veranstaltet Serban immer wieder „Theater-Workshops“.

Im zweiten Stock einer der wenigen Privatbühnen der Stadt, dem „TeatruAct“, diskutieren junge Leute mit alten Theaterhasen, wie Serban oder Purcarete. In diesen Räumen des „Divanele“ (Diwan) ist noch das alte Bukarest zu finden: Die Gäste sitzen auf türkischen Teppichen und Polstern. Es wird Tee serviert. Das „moderne Rumänien“ ist erst im 19. Jahrhundert entstanden. Lange waren die Türken da und dann die Griechen. Babylonisches Sprachgewirr im Restaurant der Vereinigung der Theaterschaffenden Rumäniens, UNITER. Schauspieler, Theaterkritiker und Journalisten aus vielen Ländern lösen hier ihre Essensmarken ein und trinken rumänischen Landwein. Yun-Cheol Kim, Theaterkapazität aus Südkorea, referiert über den Einfluss des aus Rumänien stammenden Eugene Ionesco auf das südkoreanische Theater.

Was sind die Kriterien für die Auswahl der beim Festival gezeigten Produktionen? Alice Georgescu: „Ich habe vieles ins Programm genommen, was vielleicht nicht ganz meinen Ansprüchen als Theaterkritikerin genügt. Ich möchte auch den Geschmack und die Wünsche des Publikums berücksichtigen. Es ging mir um einen Gesamteindruck des Theaterschaffens in Rumänien.“

Zu diesem Gesamteindruck gehören neben Weltdramatik auch Tanztheater, Happenings und Zeitgenössisches – oft geschrieben von Schauspielern oder Regisseuren, die, so Alice Georgescu, der Ansicht sind, „dass Autoren aus der Literaturszene wenig Ahnung vom Theater haben“. Diese neuen Stücke behandeln ähnliche Themen wie die Produktionen im übrigen Europa: etwa Kommunikationslosigkeit und Gewalt in der Familie oder den Einfluss der neuen Medien auf den Alltag. Es ist groteskes, witziges, erschreckendes und oft sehr gutes Theater.

Mein Hotel (ausländische Hotelkette mit auswechselbarem Charme) liegt am Ende der kilometerlangen Calea Victoriei, der „Straße des Sieges“. Von meinem Zimmer im siebten Stock schaue ich auf einen ehemaligen Prachtbau. Tauben schnäbeln zwischen den zerstörten Fensterscheiben. Auf der anderen Seite des Gebäudes, dem Ministerium für Wirtschaft, demonstriert eine kleine Gruppe von Männern und Frauen gegen die „Öl-Mafia“.

Bukarest ist eine laute Stadt: Autokolonnen hupen, Sirenen heulen, und nachts bellen die Hunde. Die österreichische Ikone der Tierliebe, Edith Klinger, selbst aus Rumänien stammend, hätte hier viel zu tun. 50.000 Hunde sollen sich in der Stadt herumtreiben. Nachts können die streunenden Tiere gefährlich werden. Sie sind hungrig. Das Parlament beschäftigt sich jetzt mit dem Problem der Straßenhunde. Soll man sie töten? Dagegen ist natürlich die „Stiftung Cutu-Cutu“ (gesprochen: „Cuzu-Cuzu“, so lockt man die Tiere auf Rumänisch an), das rumänische Pendant zu unserer Organisation „Vier Pfoten“. Freunde der rumänischen vier Pfoten haben eine Verschwörungstheorie. Sie sprechen von „ausländischem Geld“, mit dem es den Tieren ans Fell gehen soll...

Definitiv um ausländisches Geld handelt es sich bei den vielen Mode-„Flagschiffen“ aus aller Welt. Hier kann man wie in Westeuropa einkaufen. Manchmal sogar schöner – aber gleich teuer. Ein Schuhverkäufer meint: „Wir haben auch reiche Leute in Rumänien.“ Ich sehe keine. „Haben Sie noch nichts von der Krise gehört?“, antwortet eine Verkäuferin auf meine Frage, warum die Geschäfte leer sind.

Die Theater jedenfalls sind voll. Aufführungen von prominenten Regisseuren sind sogar übervoll. Zusätzliche Sessel werden in den Gängen aufgestellt. Theaterbegeisterung siegt über feuerpolizeiliche Maßnahmen. Vor dem Theater stehen breitbeinig einige martialisch dreinschauende Security-Leute. Die kann man inzwischen in ganz Europa sehen. Nach dem Schwanengesang des Kommunismus mussten die gut trainierten Herren auch Jobs im Ausland suchen.

Wenn man nach Bukarest kommt, muss man sehen und entdecken wollen. Die zum Teil verfallenden Gebäude und Häuser aus dem 19. Jahrhundert sind von einmaliger Schönheit! Es gibt herrliche Parkanlagen und breite Boulevards wie in Paris. In den Hinterhöfen findet man Buchgeschäfte und eine blühende Subkultur. Die Lust auf jede Art von Kunst ist groß und das Angebot vielfältig. Ich meine, das alles könnte auch Al Pacino gefallen.

Al Pacino, bitte kommen! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2011)

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