Vorwärts in die 1930er!

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Warum wir jene Fehler wiederholen werden, welche Anfang der 1930er-Jahre in die Weltwirtschaftskrise führten. Die Depression der 2010er: ein Rückblick aus der Zukunft.

Die Aufarbeitung der großen Kriseder 2010er-Jahre hatte folgendes Haupträtsel zu lösen: Warum wiederholten die europäischenEliten am Beginn des Jahrzehntsjene Fehler, welche Anfang der 1930er-Jahre in die Weltwirtschaftskrise geführt hatten?

In den 1920er-Jahren hatte eine Spekulationswelle die Aktienkurse zuerst boomen und 1929 zusammenbrechen lassen. Dies führte in eine Rezession, die Staatsfinanzen verschlechterten sich. Die Politik navigierte mit marktliberaler Karte, diese empfahl striktes Sparen. Besonders konsequent wurde die Sparpolitik vom US-Präsidenten Hoover und dem deutschen Reichskanzler Brüning umgesetzt.

Indem der Staat seine Ausgaben senkte, reduzierte er die Einkommen von Unternehmen und Haushalten, die darauf ihre Nachfrage senkten. Das Gleiche taten die Länder im Verhältnis zueinander: Durch protektionistische Maßnahmen sparten sie sich wechselseitig Nachfrage und Einkommen weg. Fazit: Der Versuch, die eigene Lage nach „schwäbischer Hausfrauenart“ zu verbessern,führte das Gesamtsystem in die Katastrophe.

In den 1990er-Jahren hatte ein Aktienboom das Potenzial für den Crash zwischen 2000 und 2003 aufgebaut (Vorbeben I), danach setzte ein Spekulationsboom auf breiterFront ein, er erfasste Aktien, Immobilien sowieRohstoffe. Die gleichzeitige Entwertung dieserdrei Vermögensarten im Crash 2007/2008 (Vorbeben II) verursachte einenmassiven Wirtschaftseinbruch. Die Politik reagierte mit teuren Symptomkuren in Gestalt von Banken- und Konjunkturpaketen.

Die Systembedingungen des „Lassen Sie Ihr Geld arbeiten“ blieben hingegen gleich. Also erweiterten die Finanzakteure ihren Spielraum um die Spekulation gegen Staaten. Die Finanzkrise hatte ja ihre Schulden enorm steigen lassen. Die Spekulation richtete sich zunächst gegen Griechenland. Danach weitete sie sich auf Irland, Portugal, Spanien und Italien aus. In allen Fällen stiegen die Zinsen für Staatsanleihen in unfinanzierbare Höhen. – Ökonomen, Journalistenund Politiker navigierten in Europa auch damals nach der neoliberalen Karte: Märkte können nicht systematisch irren, schon gar nicht die freiesten Märkte, die Finanzmärkte. Für den Staat aber galt die generelle„Schuldsvermutung“, er irrt im Zweifelsfallimmer (in den USA und in Großbritannien praktizierte die Politik allerdings einen pragmatischen Staatsinterventionismus).

Als Bannerträger der Marktreligiosität fungierte Deutschland. Die Wirtschaftswissenschaft war dort schon lange „gleichgeschaltet“. Ein – zunächst unbemerkter – protektionistischer Schachzug stärkte überdies die Kampfkraft der Realwirtschaft: Zwischen 2000 und 2007 stagnierten die Reallöhne in Deutschland, während sie in den anderen Euroländern stiegen. Dieser Kostenvorteilhalf Deutschland in und nach der Krise 2009 erheblich. Freilich: Die deutschen Elitenschrieben den Erfolg der Erfüllung der neoliberalen Hausaufgaben zu (Senkung des Arbeitslosengeldes et cetera).

Auf Basis der Marktreligiosität wurde die Finanzmarktkrise rasch in eine Staatsschuldenkrise umgedeutet. Um sich das Wohlwollen „der Märkte“ und damit niedrige Zinsen zu verdienen, beschlossen 26 Staatenlenker der EU auf deutsche Initiative im Dezember 2011 (nur die Briten verweigerten sich): DerVorsatz, keine (nennenswerten) Schulden mehrzu machen, kommt als„Schuldenbremse“ in die nationalen Verfassungen.

Wie 1930/31 befandsich die Wirtschaft in Europa 2011 auf Talfahrt, die Investitionen der Unternehmen sanken, die Exportdynamikschwächte sich ab, die Arbeitslosigkeit stieg. Die Ankündigung, der Staat würde erstmals seit den 1930er-Jahren die Rezession nicht bekämpfen, beschleunigte die Talfahrt: Die Unternehmen verschoben Investitionsprojek-te, die Haushalte begannen nach einem kurzen Konsumboom wieder mehr zu sparen.

In Südeuropa verschlechterte sich die Lage dramatisch: Die Sparpakete in Italien und Spanien ließen die Wirtschaft einbrechen, die Arbeitslosigkeit stieg, die Konsolidierungsziele wurden verfehlt, die Zinsen stiegen weiter. Der Prozess entfaltete sich nach der gleichen Logik wie zuvor in Griechenland (allerdings langsamer, weil die Sparpolitik weniger radikal ausfiel).

Die Europäische Kommission, die EZB und der IWF („Troika“) forderten von Griechenland eine Senkung der Nominallöhne (wir erinnern uns an 1930/31) und der Pensionen sowie die Entlassung von 100.000 Beamten. Diese Forderung konnte wegen der Not der Bevölkerung innenpolitisch nicht mehr durchgesetzt werden. Griechenlandmusste 2012 den Staatsbankrott erklären und schied aus der Währungsunion aus.

Die Gefühlsmischung aus Demütigung und Verzweiflung ließ in Griechenland eine Anti-EU-Bewegung immer stärker werden, genährt vom wiederbelebten Hass auf „die Deutschen“. Zwar fand die große Mehrheit der Griechen, dass die eigenen Politiker enorme Fehler gemacht hätten, aber das sei nichtsim Vergleich zu den Verbrechen der Deutschen (und Österreicher) vor 70 Jahren (gegenüber Israel sei Deutschland ja auch immer großzügig gewesen). Deutschland empörte sich: Endlich war man wieder wer in Europa, die Gnade der späten Geburt wollte man sich von niemandem versauen lassen.

Schon gar nicht von „den Griechen“: Mit dem Bankrott ihres Staates verloren die Gläubigerbanken (einschließlich der EZB) fast400 Milliarden Euro, gleichzeitig wurden die Credit-Default-Swap-Wetten auf eine griechische Staatspleite schlagend. Eine Kettenreaktion samt Bankenkrach konnte zwar durch „Geldflutung“ der EZB verhindert werden, für eine nachhaltige Stützung des Finanzsystems brauchte es aber den Staat. Dadurch stiegen seine Schulden, was „die Märkte“ mit weiteren Zinserhöhungen quittierten. Dies entwertete wiederum die Finanzaktiva der Banken...

In Frühjahr 2012 verschlechterte sich die Lage auch in Frankreich massiv: Die Anleihezinsen stiegen weiter, die Arbeitslosigkeit stieg. Damit stand Sarkozy im Wahlkampfauf verlorenem Posten. Er war ja eben erst auf den Kurs der deutschen Kanzlerin umgeschwenkt: keine Eurobonds, keine Zinsstabilisierung, dafür mehr Sparen. Sarkozy hatte gehofft, sich dadurch ähnlich niedrige Zinsen wie in Deutschland zu erkaufen. Der „sozialistische“ Kandidat Hollande nützte diese Fehlkalkulation aus. Er verspottete Sarkozy als „Schoßhündchen“ der deutschen Kanzlerin, mit seinem Opportunismus hätte er französische Interessen verraten. Eine wachsende „Anti-les-boches-Stimmung“machte den Wahlkampf zu einem Wettbewerb: „Wer ist der bessere Franzose?“ Wirklich gemocht hatten die (meisten) Franzosen die (meisten) Deutschen ja nie, ihre wirtschaftliche Vormachtstellung und das belehrende Gehabe ihrer Kanzlerin stärkten die Antipathie.

„Deutschland, Deutschland über alles...“ weckte auch in anderen Teilen Europas Erinnerungen an das „Herrenvolk“, insbesondere in Italien. Nach dem Intermezzo der Expertenregierung unter Mario Monti wurde nämlich wieder ein Kämpfer für die „Forza Italia“ Regierungschef. Generell nahmen die Spannungen innerhalb der EU massiv zu. Allerdings vertiefte sich die Depression der 2010er-Jahre langsamer als die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre:

▷Der nach der Weltwirtschaftskrise ausgebaute Sozialstaat dämpfte die Kaufkraftverluste.

▷Der Krieg gegen den Iran stimulierte die Produktion in den Industrieländern (dieser Effekt wurde aber durch die höheren Ölpreise konterkariert).

▷In den „realkapitalistischen“ Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien entwickelte sich die Wirtschaft weiterhin günstiger als in der EU.

▷Die Verteidigung der Partikularinteressen von Regionen, Berufsgruppen, Verbänden verzögerte die Durchsetzung der Sparpolitik erheblich.

▷Die (echten) „schwäbischen Hausfrauen“ hatten das Gefühl, die Regierenden seien auf einem falschen Weg, weil man/frau einen Staat gerade nicht wie einen Privathaushalt führen dürfe. Wo sie konnten, leisteten BürgerInnen Widerstand gegen dieSparpolitik.

Der Weg in die Depression hatte Jahrzehnte gedauert, er wurde seit Anfang der 1970er-Jahre in mehreren Etappen absolviert: Aufgabe fester Wechselkurse 1971, zwei Dollarabwertungen 1971/73 und1976/79 lösten zwei Ölpreisschocks samt nachfolgenden Rezessionen aus. Die Hochzinspolitik zur Inflationsbekämpfung ließ Anfang der 1980er-Jahre den Zinssatz über die Wachstumsrate steigen, die Schaffung unzähliger Finanzderivate förderte Finanzalchemie aller Art, Realinvestition und Wirtschaftswachstum sanken, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Die Sparpolitik der 1990er-Jahre und das Leitmotiv „Lassen Sie Ihr Geld arbeiten“ dämpften das Wirtschaftswachstum weiter. Es folgten zwei Spekulationsbooms samt zwei Crashes (Vorbeben).

Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sank das Wirtschaftswachstum im (späteren) Euroraum: 5,1 Prozent in den 1960er-Jahren, nur mehr 1,1 Prozent in den 2000ern. In den 2010er-Jahren schrumpfte die Wirtschaft.

Die schleichende Vertiefung der Krise gabihr den Charakter eines Sachzwangs. Dies erschwerte das (Ver-)Lernen durch die Eliten. Während in der Weltwirtschaftskrise schonnach drei Jahren mit Roosevelt ein Politiker die Macht erkämpfte,der die Wirtschaft mitseinem „New Deal“ auf einen neuen Weg führte, prägte das „There is no alternative“ von Margaret Thatcher auch noch die Politik der deutschen Kanzlerin: Sie nannte ihre Politik immer „alternativlos“.

Diese Behauptung kaschierte das prägende Merkmal der 2010er-Jahre: die umfassende Orientierungslosigkeit der Eliten.

Die konservativen (vormals auch christlich orientierten) Parteien vertraten eine strikte Sparpolitik durch Senkung der Staatsausgaben. Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungswesens, der Umweltbedingungen, der Infrastruktur für die Unternehmen oder der Betreuung pflegebedürftiger Menschen mussten unterbleiben. Diese im neoliberalen Zeitalter vernachlässigten Staatsaufgaben hätten zusätzliche Steuereinnahmen erfordert. Die Konservierungsparteien glaubten, mit ihrem Sparprogramm den Interessen der Unternehmer zu dienen, tatsächlich dienten sie den Interessen des Finanzkapitals – die Unternehmen wären ja von einer Vermögensbesteuerung ausgenommen gewesen.

Die Sozialdemokraten akzeptierten das Konzept der Schuldenbremse und damit die neoliberale Vorstellung, dass der Staat selbst an seinen Schulden schuld sei. Damit hatten sie sich den Vorschlägen der Konservativen zum Abbau des Sozialstaats ausgeliefert. Hauptziel der Sozialdemokraten war die Stärkung des Wirtschaftswachstums („Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut“): Ihre Vorschläge dienten daher in erster Linie den Unternehmern, denn nur auf diesem indirekten Weg könne man für die Arbeitnehmer etwas tun. Der Identitätsverlust der Sozialdemokraten hatte schonin den 1990er-Jahrenbegonnen, sie verirrtensich zwischen den vielen „Sachzwängen“ und hofften, als „Reformer“ Anschluss an den Trend zu finden. Allein, dassder Trend selbst dasProblem war, haben die Blairs, Schröders undCo. nicht begriffen. Auch sie navigierten mit falscher Karte.

Um die Verlierer der großen Krise kümmerten sich die Rechtspopulisten. Ihre Führer wie Marine Le Pen oder H. C. Strache hoben sich von den „Altparteien“ nicht durch strammeren Konservativismus ab, sondern durch jugendlichen Schick. Gleichzeitig sprachen sie spezifisch die zu kurz Gekommenen an, von den Alten mit Mindestpension, den Arbeitslosen, den atypisch Beschäftigten, den Jungen, die nicht „flügge“ werden konnten, bis zu den integrationswilligen Mitbürgern mit Migrationshintergrund. Die wichtigsten Feinde waren illegale Immigranten, die soziale Kälte der EU und ihre Spardiktate, das internationale Finanzkapital und die jeweiligen „Erbfeinde“ in Europa (bei bestimmten Matches in der Champions League gab es zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen). Die jungen „Volksbewegungen“ predigten jene Werte, welche die (vormals) christlichen und sozialdemokratischen Parteien vernachlässigt hatten: soziale Gerechtigkeit, saubere Umwelt, nationale Identität und volksgemeinschaftliche Solidarität.

Den größten Zulauf erhielten diese Bewegungen von den Jungen. Schon am Beginn der Depression war die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch gewesen, sie stieg in der Folge weiter an: Die sinkende Zahl an Arbeitsplätzen war von den Älteren besetzt, da diese erst später in Pension gehen durften (kurzfristig konnte so das Budget entlastet werden, ein junger Arbeitsloser kostet ja den Staat viel weniger als ein Pensionist).

Je länger die Depression dauerte, desto stärker wurde der Zweifel am Sparkurs der EU, die höher verschuldeten USA und Großbritannien entwickelten sich besser. Überdies kamen die etablierten Parteien durch den Erfolg der „Volksbewegungen“ unter Druck. Schließlich gingen auch die Unternehmerverbände auf Distanz zur neoliberalen Ideologie. Deren Dominanz hatte eine Regulierung der Finanzmärkte verhindert, und die Instabilität von Wechselkursen, Rohstoffpreisen und Zinssätzen beeinträchtigte unternehmerisches Handeln massiv.

Eine Prüfung dertheoretischen Grundlagerespektive der Navigationskarte, aus der dieneoliberalen Empfehlungen abgeleitet worden waren, ergab folgenden Befund: All diese Modelle waren zu logisch, nämlich tautologisch. – Einige Beispiele für diesen Denkstil: Der Staat kann die Wirtschaft durch ein zusätzliches Defizit nicht stimulieren, wenn die Privaten ihre Nachfrage um den gleichen Betrag senken, um so für die künftige Steuerbelastung vorzusorgen. Dieses Theorem der „Ricardianischen Äquivalenz“ war nur ein Spezialfall des „Theorems der Politikineffizienz“: Wenn alle Akteure die Effekte der Wirtschaftspolitik antizipieren, ist Letztere wirkungslos. Auf der gleichen Tautologik beruhte das „Theorem der Markteffizienz“: Wenn alle Akteure ihre Erwartungen nach dem „wahren Modell“ bilden, kann es keine destabilisierende Spekulation geben. Das „wahre Modell“ ist dabei immer jenes des Gleichgewichtsökonomen selbst (dazu Sigmund Freud: „Projektion ist das Verfolgen eigener Wünsche in anderen“). Auch die „Allgemeine Gleichgewichtstheorie“ wurde (wieder) als tautologisches Gesamtkunstwerk begriffen. Ihr Informationsgehalt geht über folgendes einfache Modell nicht hinaus. Definitionsgleichung: Was vier Radeln hat, ist ein Omnibus. Dann gilt: Wenn meine Oma vier Radeln hat, ist sie ein Omnibus.

Statt sich mit Gleichgewichtsmodellen zubeschäftigen, suchten immer mehr Ökonomen nach den konkreten Ursachen für das „große Ungleichgewicht“, die Depression. Es ging nicht mehr um die Tautologik des „Wenn, wenn, dann, dann...“, sondern darum, wie sich die Akteure tatsächlich verhalten und welche systemischen Konsequenzen dies hat. – Um die Entwicklung der Staatsverschuldung zu verstehen, analysierte man zuerstjene Periode zwischen1950 und 1973, in der sie trotz Ausbau des Sozialstaats stetig gesunkenwar. Das Nachlernen ergab: Die Entwicklung desBudgetsaldos kann nur aus der Interaktion der Finanzierungssalden aller Sektoren begriffen werden. Die Schlüsselrolle fällt dabei den Anreizen für unternehmerische Investitionen zu. In der Prosperitätsphase lenkten feste Wechselkurse, stabile Rohstoffpreise, niedrige Zinssätze und „schlummernde“ Aktienmärkte das Gewinnstreben systematisch auf die Realwirtschaft.

Unter diesen Bedingungen übernahm derUnternehmenssektor die Überschüsse derHaushalte (ihr Sparen) in Form von Investitionskrediten und verwandelte sie in Realkapital und Arbeitsplätze. Bei stabilem Wirtschaftswachstum hatte der Staat einen ausgeglichenen Haushalt (die Salden der beiden verbleibenden Sektoren – Ausland und Finanzsektor – waren ausgeglichen, und die Summe aller Salden ist ja null). Gleichzeitig lag der Zinssatz permanent unter der Wachstumsrate, bei ausgeglichenem Budget sank die Staatsschuldenquote.

Diese Bedingungen änderten sich seit den 1970er-Jahren: Instabile Wechselkurse und Rohstoffpreise, über der Wachstumsrate liegende Zinsen, Finanzderivate als Spekulationsvehikel und manisch-depressiv schwankende Aktienkurse verlagerten das Gewinnstreben zur Finanzspekulation, die Investitionsdynamik ging zurück und daher auch das Defizit des Unternehmenssektors. Als Folge steigender Arbeitslosigkeit und unzureichender Steuereinnahmen erlitt der Staat permanent Defizite und damit einen stetigenAnstieg seiner Verschuldung. Die Versuche, diesen bei unveränderten Systembedingungen zu bremsen (ab 1992 durch die Maastricht-Regeln, ab 2012 durch Schuldenbremsen), führten in die Depression. Grund: Unterfinanzkapitalistischen Bedingungen waren die Unternehmen weder in der Lage noch bereit, sich permanent zu verschulden.

Um zu verstehen, warum ausgerechnet die „freiesten“ Märkten manisch-depressive Schwankungen von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Zinssätzen, Aktienkursen produzierten, versuchten Ökonomen einen neuen Ansatz, die Feldforschung. Die Beobachtungen in „trading rooms“ samt exploratorischen Interviews zeigten: Das Verhalten der Trader widerspricht den Grundannahmen der Gleichgewichtstheorie. So verwendeten sie schon seit Jahrzehnten computergestützte Systeme,welche lediglich aufgrund der vergangenen Kursentwicklung Kauf- und Verkaufssignale produzieren. Dies bedeutet: Die Finanzmärkte sind nicht einmal schwach effizient.

Diese Ergebnisse machten verständlich, warum der ökonomische Mainstream selbst nach dem Finanzcrash 2008/09 konkrete Untersuchungen der Praktiken auf den Finanzmärkten gescheut und lieber Schuldenbremsen empfohlen hatte. Denn hätte man zugeben müssen, dass die „freiesten“ Märkte systematisch falsche Preise generieren, wäre die neoliberale Karte zu entsorgen gewesen, also jene Theorie, die man in 40 Jahren mit großer Mühe restauriert hatte.

Die Aufarbeitung der Depression der 2010er-Jahre kam schließlich zu folgendem Befund: Nicht das Fehlverhalten einzelner Akteure – seien es Politiker, Banker, Gewerkschafter, Unternehmer(vertreter) – war für das Desaster hauptverantwortlich, sondern die Tatsache, dass sie alle auf Basis einer falschen Karte navigierten. Es war in den 1930er-Jahren nicht anders gewesen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.02.2012)

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