Fußball: Mythen und falsche Legenden

(c) APA (Sepp Graf)
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Deutschland–Österreich. Neue Erkenntnisse über Sindelar, Stojaspal und Co.

Der Mann war – in seiner Zeit, den Fünfzigerjahren – ein Superstar. Der Austria-Stürmer Ernst Stojaspal stand 32-mal in der Nationalmannschaft und glich einem Rammbock. Er schlich sich nicht elegant durch die gegnerische Verteidigung, sondern forcierte – mit dem Kopf voran – den Körpereinsatz.

Der Mann war ein Idol. Furcht vor Verletzungen kannte er offenbar nicht. Der Wiener Sporthistoriker Gerhard Urbanek hat jetzt in seiner Dissertation herausgefunden, warum das so war. Das sensationelle Ergebnis: Stojaspal hatte im Zweiten Weltkrieg schon weit schlimmere Schmerzen ertragen. Er hatte sich selbst verstümmelt, um der Wehrmacht Adolf Hitlers zu entkommen.

„Sportverletzung“ statt Wehrdienst

Seit dem blutig niedergeschlagenen Aufstandsversuch des sozialdemokratischen Schutzbundes 1934 suchten die illegalen „Sozis“ Unterschlupf in konspirativen Zellen, und dafür eigneten sich die Sportvereine ganz gut. Diese Freundschaftsbande hielten auch nach Kriegsausbruch. Sie versuchten, durch „Sportverletzungen“ Kameraden vor dem Wehrdienst zu bewahren. Heikel durfte man nicht sein: Der Sportkollege wurde – etwa im Stadionbad – mit Äther betäubt, dann drehten ihm die Freunde die Knie aus. „Oder“, schreibt Urbanek, „man brach ihm die Hände, wobei kunstgerecht Holzpackeln, in Tücher gewickelt, unter den Arm gelegt und die Knochen durch Handschlag gebrochen wurden.“ Diesen Dienst erwiesen sie einander gegenseitig, wie Walter Probst (Rapid, dann Austria) bestätigte.

Stojaspal flog auf

Auch Stojaspal reichte es 1943 nach einem Fronteinsatz. Vor dem Krieg war er schon mit 15 in der Kampfmannschaft von „Ostbahn 11“. Sein Schulfreund und Teamkollege Franz Lauterbach brach dem Stürmer „auf mehrmaliges Ersuchen“ daheim den Unterarm durch brutales Draufspringen. Drei Tage danach meldete sich Stojaspal beim Wehrmachtsarzt: Er sei auf einer Stiege gestürzt. Ab ins Lazarett.

Doch die Verletzungen von Wiener Fußballern häuften sich und waren dem Wehrmachtsgericht der Division 177 schon längst verdächtig. Auf „Wehrkraftzersetzung“ und Selbstverstümmelung stand der Tod. Die Fahnder der Heeresstreife Groß-Wien konnten bald Erfolge melden. Keine Kunst, wurde doch bei Verstockten einfach gefoltert.

Stojaspal und sein Helfer Lauterbach legten bald ein Geständnis ab. Doch, seltsam: Während das Nachwuchstalent Stojaspal mit acht Jahren Zuchthaus und „Verlust der Wehrwürdigkeit“ davonkam, wurde Lauterbach hingerichtet. Man hatte dem überzeugten Kommunisten nachgewiesen, dass er noch zwei weiteren Kameraden den Arm gebrochen hatte.

Mit dem Kriegsende begann das zweite Leben Ernst Stojaspals. 1946 kam er zur Wiener Austria. Für die Violetten schoss er bis 1954 218 Tore in 183 Matches, fünfmal war er österreichischer Torschützenkönig. 1951 bekam er auf Antrag die Anerkennung als „Nazi-Opfer“ und Widerständler. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um fünfzig Prozent wurde dem Supersportler ebenso zuerkannt wie eine Haftentschädigung für sieben Monate Gefängnis. Die Eltern des hingerichteten Karl Lauterbach hingegen wurden nicht als NS-Opfer anerkannt.

Sesta entkam dem KZ

Auch Karl Sesta („der Blade“) galt nach 1945 fast als Widerständler. Dabei war der Wiener nur einfach Individualist und fußballerischer Egoist. Für seinen urwüchsigen Wiener Schmäh wäre er fast ins KZ gekommen. Denn er hatte einiges gegen den deutschen Reichstrainer (und Parteigenossen) Sepp Herberger. „Du Trottel“, sagte er dem „Chef“ bei einem Trainingslager, „du hast ja nie spielen können. Wie willst du uns spielen lehren . . .?“ Ganz so gewählt dürfte sich „der Blade“ wohl nicht ausgedrückt haben. Eine Kritik aus Berlin wegen Unsportlichkeit quittierte Sesta schon auch bisweilen mit dem Original-Götzzitat.

Urbaneks akademische Arbeit ist eine Fundgrube für sportlich interessierte Laien. Er rüttelt an Legenden und räumt mit Behauptungen auf, die seit Jahrzehnten als historisches Allgemeinwissen galten. So verweister die „Story“ um Mathias Sindelar ins Reich der Fabel: Der habe beim legendären „Anschlussspiel“ (3. April 1938) darauf bestanden, dass die Österreicher in symbolträchtigen rot-weiß-roten Dressen im Stadion vor 60.000 Fans antraten. Selbst der ÖFB huldigt dieser Mär. Stimmt nicht, sagt Urbanek: Das deutsche Nationalteam galt damals schon als „Heimmannschaft“ und trat somit schwarz-weiß auf. Für die „deutsch-österreichische“ Auswahl war's somit ein „Auswärtsspiel“, folglich rot-weiß-rot.

Sindelars angeblicher Veitstanz

Auch von dem legendären Freudentanz, den Sindelar angeblich nach seinem Traumtor vor den Nazi-Bonzen in der Ehrenloge aufgeführt haben soll, bleibt nicht viel. Tatsache ist, dass Sindelar an diesem Tag das Spiel seines Lebens spielte. Und dass die deutsche Mannschaft Sindelars körperlos-elegantem Stil sehr entgegenkam: „Schnalzen“, also derber Körpereinsatz, war den Deutschen verboten worden, die NS-Führung wollte ja die Freundschaft zu den endlich angeschlossenen Ostmark-Volksgenossen demonstrieren. Also packte der „Papierene“ das gesamte Repertoire seines Genies aus, vergab aber (absichtlich?) viele Chancen. Umso umjubelter war dann sein Führungstor. Sindelar winkte triumphierend in Richtung Ehrentribüne. Es ist aber unklar, ob er nicht dabei die oberhalb sitzenden österreichischen Fans gemeint hat. Ein Freudentanz sei im Filmbericht der „Ostmark“-Wochenschau nicht zu sehen, sagt Urbanek. Der ÖFB pflegt die falsche Legendenbildung jedoch bis heute. Von einem „Veitstanz“ ist da die Rede – so habe „es die Presse dokumentiert“. Urbanek: „Das hat sie aber nicht. Denn zu diesem Zeitpunkt war sie bereits großteils gleichgeschaltet.“

Genau so war es. Die Nazis behielten die komplette Übersicht. So machte das „Sporttagblatt“ aus dem klaren Sieger (Österreich gewann 2:0) gleich zwei: „Herrlich der Sieg – mehr als ehrenvoll die Niederlage.“ Den Jubel der österreichischen Fans verstand das Blatt so: „Nicht österreichischer Partikularismus, sondern Freude und Stolz“ habe die 60.000 erfüllt, dass sie zumindest auf dem Gebiet des Fußballs „nicht mit leeren Händen vor Allmutter Germania hintreten“ müssen.

Trotzdem schlichen sich in die Nachberichterstattung einige Misstöne ein. So sollen die reichsdeutschen Spieler etwas frustriert über die Arroganz der – haushoch überlegenen – Österreicher gewesen sein. Auch der anwesende „Reichssportführer“ Hans von Tschammer und Osten soll sich irritiert gezeigt haben.

„I werd narrisch . . .!“

Urbaneks Arbeit ist die erste wissenschaftliche Untersuchung der Fußballrivalität zwischen Deutschland und Österreich. Nicht zu kurz kommt natürlich das WM-Spiel Österreichs gegen den regierenden Weltmeister Deutschland 1978 im argentinischen Cordoba. Hans Krankls 3:2-Siegestor ist nicht zuletzt durch Edi Fingers Radio-Übertragung unsterblich geworden. Und auch hier eine neue Facette: Edi Finger war nach der 5:1-Niederlage gegen Holland so enttäuscht, dass er das Deutschland-Match nicht mehr kommentieren wollte. Manfred Payerhuber sollte ans Mikrofon. Aber Fingers Kollegen protestierten. So verdanken wir eigentlich ihnen den legendären Jubelschrei: „Da kommt Krankl vorbei, diesmal an seinem Bewacher, ist im Strafraum – Schuss – Tor! Toor!! Toor!!! Tooor!!!! I werd narrisch!“

Buchtipp

Gerhard Urbanek: „Österreichs Deutschland-

Komplex“, 477 Seiten, Selbstverlag

E-Mail: a6600452@unet.univie.ac.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2009)

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