Sport und Statistik: Fußball für Aufgeklärte

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Elfmeter sind unfair; teure Transfers bringen Erfolg; wenn immer nur Manchester gewinnt, wird es fad: Ein neues Buch zertrümmert all diese Fußballklischees.

BRÜSSEL/PARIS. „Ich habe Marc Janko gegen Frankreich gesehen. Er war wunderbar“, sagt der britische Sportautor Simon Kuper im Interview mit der „Presse“. Das Gespräch musste zwangsläufig beim derzeit besten heimischen Stürmer landen, denn Janko versinnbildlicht einerseits die Misere, in der der rot-weiß-rote Fußball seit drei Jahrzehnten steckt. Zur Erinnerung: Das Match, von dem Kuper spricht, endete 3:1 für Frankreich, Österreich hatte ohnehin keine Chance mehr, zur WM in Südafrika zu fahren.

Zugleich aber weist der 26-jährige Mittelstürmer auch den Weg aus diesem Schlamassel. „Janko war wunderbar in Paris“, sagt Kuper, „aber jemand hätte ihm schon vor drei Jahren sagen sollen: Wir lassen dich schweren Herzens ziehen, damit du in der Serie A den besten Fußball der Welt lernst, statt in Salzburg Tore gegen miese Teams zu schießen.“

Kuper hat sich für sein neues Buch „Why England Lose“ (HarperCollins, 2009) mit dem renommierten Sportökonomen Stefan Szymanski zusammengetan. Ihr Ziel: all die lieb gewonnenen Klischees des Fußballs nüchtern zu analysieren. Und zu widerlegen.

Klar, sagt Kuper, der Spaß für den Sportfan liegt auch im irrationalen Hoffen und Bangen. „Fußball ist schließlich ein Weg für Männer, mit anderen Männern über ihre Gefühle zu reden. Aber wir sollten das intelligenter tun.“

Also: Welche Mythen erzählen sich Fans von Reykjavik bis Retz – und wie schaut die Wahrheit aus?

1. Dem Fußball fehlen heute die echten „Straßenkicker“.

Klingt romantisch, ist aber falsch. Der Profifußball diskriminiert heute gegen Buben aus der Mittelschicht. Von den 34 Engländern, die bei den Weltmeisterschaften 1998, 2002 und 2006 kickten, hatten nur fünf Väter, deren Berufe mehr als einen Pflichtschulabschluss voraussetzten. Rund 15Prozent dieser Teamkicker waren also, in einer unscharfen Einteilung, der Mittelschicht zuzurechnen, 85 Prozent der Arbeiterklasse. In der gesamten britischen Gesellschaft sieht es umgekehrt aus. Nur 30 Prozent verlassen das Bildungssystem mit 16 Jahren.

2. Mit teuren neuen Spielern kann man sich Erfolg kaufen.

Nein. Entscheidend ist, wie viel ein Klub für Gehälter ausgibt – nicht, was er für Transfers aufwendet. Die Autoren haben die Ausgaben aller 58 Klubs, die 1998 bis 2007 in Premier League oder Premiership (der zweiten Liga) gespielt haben, mit deren Positionen am Ende jeder Saison verglichen. Die Ausgaben für Gehälter erklärten 89 Prozent der Veränderungen der Positionen. Teure Transfers hatten kaum Einfluss auf den Erfolg. Denn der Markt für Spielergehälter ist effizient – je besser ein Spieler, desto mehr kann er verdienen, beim eigenen Klub oder anderswo. Der Transfermarkt aber ist sehr ineffizient. Bestimmte Nationen sind überbewertet: Mittelmäßige Brasilianer sind teurer als gute Georgier. Auch Mittelstürmer sind überbewertet, Tormänner unterbewertet, obwohl sie längere Karrieren haben als Feldspieler.

3. Elfmeter sind unfair und entscheiden, wie ein Match ausgeht.

Stimmt beides nicht. In 286 von 1520 Premier-League-Spielen zwischen 2002 und 2006 gab es Elfer. In 46,76 Prozent der Spiele ohne Elfer siegte der Gastgeber, in 27,23 Prozent die Gäste, 26,01 Prozent dieser Spiele endeten unentschieden. Gab es Elfmeter, lauteten die Zahlen 49,65 Prozent, 27,97 Prozent und 22,38 Prozent – keine signifikanten Unterschiede.

Vielleicht pfeifen Schiedsrichter aber eher für Favoriten Elfer? Oder, aus Mitleid, für Außenseiter? Weder noch, wenn man die Quoten von Buchmachern in diese Berechnung einbezieht. Deren Favoriten gewannen 51,3 Prozent der genannten Matches ohne Elfer und 51,4 Prozent mit. Die „Underdogs“ gewannen 20,58 Prozent der Spiele ohne Elfer und 23,43 Prozent mit. Penaltys haben also keine Auswirkung auf die Ergebnisse, und das ist leicht erklärt: Die Verteilung von Elfmetern spiegelt das Spielgeschehen wider. Nur wer es in den gegnerischen Strafraum schafft, also seinen Gegner beherrscht, hat die Chance, Elfer zugesprochen zu bekommen. Und das sind meist die Heimteams und die Favoriten.

4. Die Brasilianer sind die größten Fußballfans der Welt.

Nein, sondern – die Norweger. Kombiniert man die Zahl der Bürger, die selbst kicken, mit dem Anteil der Bevölkerung, der regelmäßig zu Matches geht, und dem Anteil der Haushalte mit TV-Geräten, die sich große Fußballturniere anschauen, schneidet Norwegen am besten ab. Das hängt damit zusammen, dass Sport in Norwegen einen hohen gesellschaftlichen Wert hat. Und die Norweger sind es seit frühester Zeit gewohnt, Fußball im Fernsehen zu erleben. Ein norwegischer Sender strahlte das allererste englische Match live aus – 1969, lange vor SkySports.

5. Die Dominanz der reichen Klubs zerstört den Fußball.

Wohl kaum. Die Fans lieben Ungleichheit. Zwischen 1949 und 1968 gewannen elf verschiedene Klubs die englische Meisterschaft. Das war also ein relativ ausgeglichener Bewerb. Von 1989 bis dato gab es nur sechs verschiedene englische Meister. Während der ersten „gleichen“ Phase fiel die Zuschauerzahl von 18 auf 15 Millionen. Von 1989 bis heute hingegen stieg sie von acht auf 13 Millionen, obwohl die Tickets viel teurer sind und es mehr Alternativen gibt, seine Freizeit zu gestalten. Kein Wunder, dass die Fans die Dominanz der Favoriten lieben, meint Kuper: „Wenn Wigan nächstes Jahr die Premier League gewänne, fänden das die Leute nett. Aber das meiste Interesse der Öffentlichkeit ist auf die großen Klubs konzentriert.“

Übrigens: Kombiniert man Wohlstand, Bevölkerungszahl und Wettkampferfahrung, müsste Österreichs Nationalteam zirka alle drei Spiele ein Tor mehr schießen als bisher. Was tun? Österreich muss sich in die Fußballnetzwerke Westeuropas einklinken, sagt Kuper. „Ihr solltet Talente exportieren und Know-how aus Deutschland oder Holland importieren.“

Huub Stevens, der niederländische Trainer von Marc Janko, dürfte wohl nur den zweiten Teil dieses Befunds teilen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2009)

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