Fußball: Raúl, die tragische Legende

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tragische Legende(c) REUTERS (THOMAS PETER)
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Raúl González, 33, entstammt einfachen Verhältnissen in einem Madrider Arbeitervorort und er bringt vieles mit, um den Menschen im Ruhrgebiet so etwas wie den Glauben an die gute alte Zeit zurückzubringen.

Berlin. Sie werden ihn lieben. Auch dann noch, wenn der erste Zauber verflogen ist und mit ihm der Stolz, dass es einen Weltstar in den Kohlenpott verschlagen hat. Wenn das Trikot mit der Nummer7 längst gekauft ist, wenn die Tage kälter werden, das Leben beschwerlicher und der Fußball zäher, ja selbst dann, wenn er nicht ganz so viele Tore schießen sollte wie erhofft. Sie werden Raúl González Blanco lieben, weil er ein so bodenständiger Fußballer ist, wie ihn sich der klassische Schalke-Fan besser nicht erträumen könnte.

Klar, er kommt von Real Madrid und hat ein Exmodel zur Frau, und natürlich klingt das kurios, ein Galaktischer in Gelsenkirchen. Aber auf dem Platz wird das alles keine Rolle spielen. Da wird Raúl rackern. Er wird scheinbar aussichtslosen Bällen hinterherjagen und aus scheinbar aussichtlosen Situationen Tore schießen. Er wird nichts tun, um gut auszusehen, und alles dafür, um zu gewinnen. „Das Wort ,aufgeben‘ hat für mich nie existiert“, lautete die Kernbotschaft seiner Abschiedsrede am Montag in Madrid, und so hat er in seiner 16-jährigen Profikarriere bei Real – nie irgendwo anders – immer gespielt. So wurde er zum Titel- und Rekordsammler und blieb doch einer, der nie genug bekommen konnte. Loyal, stolz und instinktiv in seinem Spiel: ein Traditionalist des Fußballs. Das Wort von den „galácticos“ hat er übrigens nie ausstehen können.

Seine große Zeit ist vorbei

Raúl González, 33, entstammt einfachen Verhältnissen in einem Madrider Arbeitervorort, er hat diese nicht vergessen, und er bringt vieles mit, um den Menschen im Ruhrgebiet so etwas wie den Glauben an die gute alte Zeit zurückzubringen. Das ist die eine Sache. Die andere ist, dass er auch sportlich gesehen als ein Mann der Vergangenheit kommt. Schonungslos ausgedrückt: Seine große Zeit ist seit sieben Jahren vorbei.

Im Sommer 2003 wurden bei Real Madrid Trainer Vicente del Bosque und Kapitän Fernando Hierro gefeuert. Das einstige Wunderkind Raúl – erstes Ligaspiel mit 17, erster Meistertitel mit 18, erste Biografie mit 19, erster Champions-League-Sieg mit 20 – wurde neuer Spielführer, zu einem Veteranen wider Willen. Er gewann klubpolitisch an Bedeutung, aber verlor jede Leichtigkeit auf dem Platz. Von Haus aus ernsthaft, verschlossen und extrem pflichtbewusst, begann er zu grübeln, wollte alte Stärke erzwingen, aber entfernte sich nur noch mehr von ihr. Zwei starke Jahre, zwischen 2007 und 2009, hat er noch mal zustande gebracht, das war's. Ansonst schien es, als würde er nur noch aufgestellt, weil er Raúl war.

Wenn er wieder mal eines seiner typischen Tore erzielte (selten besonders schön, oft besonders wichtig), wurde pflichtschuldig seine Legende beschworen. Sie liebten ihn immer noch, aber eigentlich fühlten alle, dass der Klub, den er geprägt hat wie sonst wohl nur noch Alfredo di Stefano, dass dieser Klub inzwischen eine Nummer zu groß war für einen Stammspieler Raúl. Mitleid ist die schlimmste Form der Anteilnahme, deshalb war es höchste Zeit zu gehen. Deshalb hat ihn, aller salbungsvollen Worte zum Trotz, auch niemand wirklich aufgehalten.

Raúl hat über die Jahre 323 Tore für Real erzielt, mehr als jeder andere. Keiner traf so oft in der Champions League wie er (66), keiner so oft für die spanische Nationalmannschaft (44). All die beeindruckenden Statistiken können jedoch nicht überdecken, dass dieser Karriere eine große, unheilbare Tragik innewohnt. Raúl hat drei Weltmeisterschaften gespielt und zwei Europameisterschaften. Für mehr als das Viertelfinale hat es nie gereicht.

Nationalteam ohne Raúl

Im Herbst 2006 entschied Nationaltrainer Luis Aragonés, dass er Raúl nicht mehr aufstellen wollte, bloß, weil er Raúl war. Befreit von ihrem zunehmend missmutigen Kapitän und seinem vergleichsweise altmodischen Fußball brach die „selección“ in eine ruhmreiche Zukunft auf. Sie wurde Europa-, dann Weltmeister, sie blickte nie wieder zurück, und als bester spanischer Fußballer aller Zeiten gilt heute nicht Rául, sondern Xavi. Als Gentleman, der er immer gewesen ist, hat Raúl all das würdevoll ertragen. Er hat nie darüber geredet, was wirklich in ihm vorgeht, und wenn er auf die Nationalelf angesprochen wurde, sagte er bloß, dass er einfach ein weiterer Fan sei.

Als er 19 war, sagte Raúl einmal etwas altklug: „Im Leben muss man sich von seinen Gefühlen mitreißen lassen.“ 14 Jahre später haben sie ihn herausgetrieben, aus seinem Gefängnis namens Vergangenheit. Auf Schalke muss er nicht den ganzen Ballast einer Klublegende mit sich herumschleppen, kein stilles Mitgefühl ertragen. Dort darf vielleicht auch er noch eine Zukunft haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2010)

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