Das erlösende Happy End der Grande Nation

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TOPSHOT-FBL-EURO-2016-MATCH50-GER-FRA(c) APA/AFP/PATRIK STOLLARZ (PATRIK STOLLARZ)
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Antoine Griezmann – ein einst verschmähter Fußballer – zieht Frankreich aus Depression und Terrortrauma. Seine Schwester Maud überlebte den 13. November 2015 nur knapp – sie war im Pariser Klub Bataclan.

Paris/Wien. Nicht nur das Stade Vélodrome in Marseille, ganz Frankreich lag ihm zu Füßen. Dabei vollführte Antoine Griezmann seinen Torjubel nicht in Form der persischen Proskynesis, des Fußkusses, wie er ihn im Viertelfinale gegen Island mit Dimitri Payet formvollendet demonstriert hatte. Nein, der neue Held der Nation lief nach seinem verwandelten Elfer zur Cornerfahne, führte ein Tänzchen auf und lutschte an seinem Daumen. Es war ein Gruß an sein Baby.

Der 25-Jährige aus Mâcon im Burgund, einst bei Klubs in Frankreich wegen seiner Schmächtigkeit verschmäht und fußballerisch in San Sebastian erwachsen geworden, erlöste nicht nur das Land vom Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Fußballgroßmacht jenseits des Rheins. Der Atlético-Star tilgte mit zwei Treffern nicht nur das Trauma des WM-Halbfinales 1982, die Niederlage im Elfer-Thriller von Sevilla nach einer 3:1-Führung, und anno 1986 beim WM-Semifinale in Mexiko. Grizou avancierte bereits vor dem Finale am Sonntag (21 Uhr) gegen Portugal zum Spieler dieser EM mit bislang sechs Toren. Er ist Frankreichs neuer Held.

Im Eröffnungsspiel gegen Rumänien (2:1) tauschte ihn Trainer Didier Deschamps aus, gegen Albanien (2:0) setzte er ihn sogar auf die Ersatzbank. Doch danach steigerte sich Griezmann an der Seite von Payet, Giroud und Pogba in einen Sturmlauf, beim 5:2-Kantersieg gegen Island sprang der Funke endgültig auf das anfangs skeptische Publikum über. Wie beim WM-Triumph 1998 von Zidane, Deschamps und Co. dauerte es, bis die Franzosen Les Bleus ins Herz schlossen. „Jetzt glauben wir an euch“, titelte also „L'Equipe“.

90 Minuten Angst

Die EM-Euphorie hat nun die Grande Nation erfasst. Lang lag der Schatten des Terrors, einer Streikwelle und der wirtschaftlichen Depression über dem Fußballfest. Am Sonntagabend im Stade de France in Saint-Denis wird auch die gesamte Familie Griezmann versammelt sein, es werden gewiss Erinnerungen wach. Das Land wird sich an den schwarzen Freitag, den 13. November 2015, erinnern, als Terroristen sich vor dem Stadion in die Luft jagten – es war der Auftakt zu einer Attentatsserie, die 130 Menschen das Leben kostete. In den Katakomben bangte Griezmann um das Leben seiner Schwester Maud. Die 28-Jährige mit den rotgefärbten Haaren und den Tattoos, die früher im Garten der Griezmanns beim Kicken das Tor hütete und inzwischen als PR-Managerin des kleinen Bruders agiert, stand zur selben Zeit Todesangst aus. Sie hatte im Bataclan das Konzert der Eagles of Death Metal besucht. Anfangs habe sie noch gedacht, der dumpfe Knall sei Teil des Sounds der US-Band, erzählte sie der „NY Times“. „Doch dann hörten wir die Schreie, Schüsse.“ Instinktiv habe sie sich auf den Boden geworfen, tot gestellt, die Augen geschlossen und den Kopf unter die Menge zusammengekauerter Konzertbesucher gesteckt – 90 Minuten lang, für die Dauer eines Fußballspiels. „Wer sich bewegte, den haben sie erschossen.“

(c) Die Presse

Als endlich Polizeispezialeinheiten den Saal stürmten, sei sie um ihr Leben gerannt. Ihre Doc-Martens-Stiefel habe sie weggeschmissen, um schneller laufen zu können. „Mein Gewand war voller Blut“, erinnert sie sich an die Schreckensnacht. Heute noch habe sie keine Bilder im Kopf, nur den Lärm und die Schreie.

Acht Monate später hofft ganz Frankreich nun auf ein Happy End. Der Sieg über Deutschland sollte die Équipe Tricolore im Endspiel beflügeln und ihr Auftrieb geben nach einem politisch, ökonomisch und sozial horrenden Jahr. Griezmann, Payet und Pogba haben zumindest für einige Wochen den Terror vergessen lassen. Jetzt fehlt ihnen nur noch der Coupe Henri Delauney.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2016)

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