Molenbeek: Tore statt Terror

(c) REUTERS (Alan Walter)
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Molenbeek ist zum Synonym für den Jihadismus in Europa geworden. Dabei ist der Brüsseler Stadtteil nicht nur eine Brutstätte für Terroristen, sondern auch ein Reservoir für Fußballtalente.

Molenbeek befindet sich im Belagerungszustand. Seit bekannt ist, dass die Attentäter von Paris und Brüssel dort ihre Anschläge planten, patrouillieren schwer bewaffnete Militärs und Spezialeinheiten in dem Viertel, fast täglich gibt es Razzien. TV-Sender aus aller Welt sind mit Übertragungswagen vor Ort und berichten live. Die Welt will wissen, warum die Drahtzieher der Terroranschläge in den schmucklosen Backsteinhäusern nisteten. Dabei ist Molenbeek nicht nur eine Brutstätte für Terroristen, sondern auch ein Reservoir für Fußballtalente.

Stars wie Romelu Lukaku oder Vincent Kompany wuchsen in dem Stadtteil auf. Kompany hat 2013 in den Vorstadtklub FC Bleid Molenbeek investiert, der heute unter dem Namen BX Brussels firmiert und von Kompanys Schwester Christel geführt wird. Der Verteidiger von Manchester City sagte, dass Molenbeek „nicht der Ort ist, den die Medien daraus machen“. Kompany will zeigen, dass es in Brüssel auch noch eine andere Realität als den Terror gibt – nämlich den Fußball.

Obwohl Molenbeek nun weltweit übel beleumundet ist, war der lokale Sportklub einmal eine richtige Nummer im internationalen Fußball. Der legendäre Racing White Daring de Molenbeek, kurz RWDM, wurde 1975 belgischer Meister und erreichte in der Saison 1976/1977 nach Erfolgen über Schalke 04 und Feyenoord Rotterdam das Halbfinale des Uefa-Cups, wo er nur knapp nach zwei Unentschieden (durch Auswärtstore) Athletic Bilbao unterlag. Stars wie Paul Van Himst liefen damals für den Klub mit den magischen vier Buchstaben auf. Der „weiße Pelé“ wechselte 1975 vom Brüsseler Stadtrivalen RSC Anderlecht nach Molenbeek. RWDM war berühmt für seine Fußballschule, die „rouges et noirs“ brachten Topspieler wie den späteren belgischen Nationalcoach François „Franky“ Vercauteren, Wesley Sonck (u. a. Ajax Amsterdam und Borussia Mönchengladbach) und Adnan Januzaj (Manchester United) hervor. Januzajs Eltern sind Kosovo-Albaner, die 1992 vor dem Bürgerkrieg flohen. Januzaj hätte für sechs Nationen spielen können, entschied sich aber für die belgische Nationalmannschaft. Es sind Lebensläufe wie diese, die im Multi-Kulti-Stadtteil Molenbeek an der Tagesordnung sind.


Spiegelbild der Sozialstruktur. Um die Jahrtausendwende geriet Racing White Daring de Molenbeek in finanzielle Schwierigkeiten, 2002 musste der Klub Konkurs anmelden. Die Talente wanderten zum RSC Anderlecht ab. Nach dem Zwangsabstieg in die dritte Liga musste RWD Molenbeek 2014 abermals Insolvenz anmelden, das Schicksal schien besiegelt. Mit Hilfe des Fanprojekts „RWDM 47“ gelang es im vergangenen Jahr, die Lizenz für die vierte Liga zu erwerben und ins alte Edmond-Machtens-Stadion zurückzukehren, in dem der Klub seine größten Erfolge feierte. Der mythische Klub ist wie Phönix aus der Asche auferstanden. Heute stehen noch immer viele Spieler aus dem Maghreb im Kader, der ein Spiegelbild der Sozialstruktur in Molenbeek ist. Beim Heimspiel gegen Rebecq trugen die Spieler vor dem Anpfiff T-Shirts mit der Aufschrift „Je Suis Bruxelles“ – eine Geste der Solidarität. Der FC Jeunesse Molenbeek Académie, der am alten Stade de Sippelberg in Brüssel trainiert und dessen Nachwuchskicker zu 85 Prozent maghrebinischer Herkunft sind (die Frauenmannschaft mit eingerechnet), leistet einen wichtigen Beitrag zur Integration. Erst kürzlich wurde eine Kooperation mit dem Zweitligisten Royal White Star Bruxelles (RWS) abgeschlossen. Der Sport ist für die Kinder aus sozial schwachen Familien die erste Anlaufstelle. „Wir sprechen mit ihnen viel über Disziplin, wir regen sie zur Vorsicht an: Nicht auf der Straße oder in den Metrostationen rumhängen“, sagte Omar Tizguine, einer der vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter der Jugendakademie, der belgischen Wochenzeitung „Le Vif/L'Express“.

Trotzdem kann Molenbeek seinen Ruf als Terrorhochburg nicht abstreifen. Stürmerstar Romelu Lukaku, der in der Premier League für Everton spielt und in der laufenden Saison 18 Treffer erzielt hat, kündigte an, sein Apartment in Molenbeek zu verkaufen und seine Verwandtschaft nach England zu holen. „Du willst, dass deine Familie in Sicherheit ist“, sagte er dem „Daily Mirror“. Vincent Kompany kritisierte in einer sehr politischen Einlassung, dass Molenbeek vom Staat im Stich gelassen wurde. Davon zeugt auch die Tatsache, dass die Kommune dem FC Sonatrach Maghreb eine monatliche Subvention in Höhe von 400 Euro für ein vom Klub betriebenes Straßencafé verweigerte. Die Behörden wollen offenbar nicht einsehen, dass Integration auch über den Sport erfolgt.

Der emeritierte Professor für Religionssoziologie Felice Dassetto, der an der Université Catholique de Louvain lehrte und in Molenbeek Feldstudien durchführte, sagt: „Bei meinen Forschungen habe ich die zentrale Rolle des Sports beim Integrationsprozess festgestellt. Die Klubs sind sich der Risken eines gesellschaftlichen Bruchs gewahr und legen eine adäquate Pädagogik an den Tag, die Vereine kapitulieren jedoch vor den Schwierigkeiten des Zusammenlebens zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.“ Aus religiösen und ethnonationalen Gründen würden zwei Mannschaften gebildet: Muslime gegen den Rest. „Das ist katastrophal“, befindet Dassetto. Es ist zu befürchten, dass Molenbeek weiter durch negative Schlagzeilen auffallen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2016)

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