Tibor Nyilasi: "Ich bereue es, dass ich nicht Austria-Trainer geworden bin"

Fuszball - Tibor Nyilasi schieszt Tor
Fuszball - Tibor Nyilasi schieszt TorM. Leckel / APA-Archiv / picturedesk.com
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Tibor Nyilasi führte Austria in den 1980er-Jahren zu drei Titeln und gilt bis dato als violette Ikone. Ein Gespräch über Fußball, Derby, Geschichte, Politik und Kultur – und den EM-Hit Ungarn gegen Österreich.

Tibor Nyilasi war – außer der Massenflucht rund um Ferenc Puskás & Co. 1956 – der erste bekannte ungarische Fußballer, der ins Ausland durfte. Der Ferencváros-Spieler bildete in den 1980ern mit Herbert Prohaska das kongeniale violette Gespann, das die Austria dreimal zum Meistertitel führte. Heute arbeitet der 61-Jährige beim Sender SportTV und ist Präsidiumsmitglied des ungarischen Fußballverbandes.

Nyilasi stellt sich gern allen Fragen. Nur über zwei Themen wird nicht gesprochen: Sohn Bálint, der beim unterklassigen Verein Csákvár kickt, und einen Zwischenfall kurz vor dem Geburtstag am 18. Jänner. Da landete der sportliche Nyilasi wegen einer Überdosis Schokolade im Spital . . .

Bei Österreich und Ungarn, Gegner zum Auftakt der EM-Gruppenspiele, dominieren Fußballer, die in ausländischen Ligen spielen. Sind diese um so viel besser?

Tibor Nyilasi: Ja, wer sich in einer Spitzenliga bewährt, ragt über die heimische Meisterschaft hinaus – siehe David Alaba. Aber das Problem ist unlösbar. Wer geht, schwächt die heimische Meisterschaft. Und wer bleibt, bekommt nicht diesen Extrakick.

Sie waren der erste ungarische Star, der 1983 ins Ausland ging, wechselten als eingefleischter Grün-Weißer von Ferencváros Budapest zu den Violetten, der Wiener Austria – gab es nur dieses Angebot?

Damals konnten Manager in Ungarn nicht arbeiten. Es gab ein zentrales Managerbüro im Sportministerium, das alle ausländischen Anfragen sichtete und beantwortete. Ich wurde nur im Zusammenhang mit der Austria gefragt. Sie haben mich vermutlich gekauft, weil sie mich von vielen Länderspielen gekannt haben. (Anmerkung: Es gab noch eine andere Anfrage: 1982 wollte ihn der FC Barcelona als Ersatz für den verletzten Bernd Schuster für ein halbes Jahr verpflichten. Nyilasi erfuhr davon erst nach der WM.)

Österreich und Ungarn hatten zu jener Zeit auch sehr spezielle Beziehungen. In Wien nannte man es „K und K“, Kádár und Kreisky...

Damals waren vor allem die Sportbeziehungen außerordentlich gut. Zu Osterturnieren kamen 25.000 Österreicher nach Budapest, und selbst Ungarn durften zu den Rückspielen nach Wien fahren. Es gab kaum eine Grenze, zumindest in eine Richtung.

Sie waren zweifacher ungarischer Meister, wurden mit Austria dreimal österreichischer Meister. Und dann kam 1988 plötzlich der Rückzug. Warum?

Ich wurde in zwei Jahren zweimal mit Bandscheibenvorfall operiert, hier in Ungarn bin ich verpfuscht worden. Das wurde zwar in Österreich korrigiert, aber ich hatte eineinhalb Jahre verloren. Danach wäre es extrem schwierig gewesen, neu zu beginnen. Ich hatte mit 32 Jahren genug. Heute tut mir das wirklich leid, denn die Welt der Medizin hat sich stark gewandelt. Heute sind 36-, 37-, 38-jährige Fußballer noch top, weil es hervorragende Methoden bei der Rehabilitation gibt.

Eigentlich sollten Sie ja Ihre Karriere noch früher beenden.

Ja, stimmt! Wir spielten gegen Wacker Innsbruck, es war ein Schicksalsmatch. Ich wurde gestoßen, fiel hin, habe aber auf allen vieren den Ball über die Torlinie geköpfelt. Wir haben 5:0 gewonnen. Die Legende sagt, Austria-Präsident Joschi Walter sei in seiner Freude aufgesprungen und habe gerufen: „Der Nyilasi ist wieder gesund, er bekommt eine Vertragsverlängerung!“

Im Rückblick wundern sich viele, dass Sie es nur zu 70 Länderspielen gebracht haben. Tut es Ihnen leid?

Das nicht, sehr wohl aber die versäumte Chance, Austria-Trainer zu werden. Ich habe noch immer den 1997 von den Wienern angebotenen Vertrag. Damals hat mich Ferencváros gefragt, ob ich nach 1990 bis 1994 zum zweiten Mal ihre Mannschaft trainieren wolle. Nach langem Ringen habe ich nicht Austria, sondern Ferencváros gewählt. Es wird sich nie herausstellen, was ich bei der Austria als Trainer erreicht hätte. Es war die falsche Entscheidung.

Sie waren zum 60. Geburtstag von Herbert Prohaska im Stadion, Sie wurden frenetisch bejubelt – welchen Stellenwert hat das für Sie? Bei Austria hat man Sie nie vergessen.

Das war Gänsehaut pur, an der Stimmung vor dem Derby noch einmal teilzuhaben. Ich hatte diesen Verein lieb gewonnen, weil mich alle akzeptiert hatten. Für einen jungen Ungarn war das damals schon etwas Ungewohntes, über die Grenze zu gehen. Da stand ich nun, ganz allein und ohne Sprachkenntnis – ich hatte große Angst, auch wenn ich viele Mitspieler schon kannte. 1972 hatte ich in der Jugendnationalmannschaft schon gegen Pezzey und Prohaska gespielt, später in der Europaauswahl mit Koncilia und Prohaska. Herbert hat mich in einer Art und Weise aufgenommen – das war schlicht wunderbar!

Zur Kehrseite des Legionärswesens: Der Ungar László Szepessy hat einmal gesagt, die wirklich großen Nationalmannschaften lebten von Migranten und deren Kindern. Im ÖFB-Team hatten im Test gegen die Türkei sechs Spieler Migrationshintergrund. Ungarn nur zwei. Was bedeutet das?

Die natürlichen Gegebenheiten in Südamerika und Afrika – Sand, Meer und Sonne sowie die allgemeine Armut – diktieren den Kindern, hinauszugehen und Fußball zu spielen. Sie denken vom dritten bis zum 14. Lebensjahr kaum an etwas anderes. Schauen wir uns die Weltstars an: Sie verfügen über eine Basis, die aus der Leidenschaft für den Fußball und dem Wunsch, aus der Armut auszubrechen, besteht. Sie bestimmen den Fußball in Europa. Was Messi, Neymar und Suárez oder auch Cristiano Ronaldo aus dem armen Portugal können, kann man nicht erlernen. Das steckt in den Genen, man muss bitterarm sein und etwas Besseres anstreben. Dann kommen sie in die Eliteakademien der europäischen Vereine, werden mit Rationalität geimpft, damit sie organisiert und taktisch spielen – und schon ist der Star fertig.

Die Österreicher haben das also erkannt...?

Sie auch, aber vor allem die Deutschen. Massen von Migrantenkindern spielen mit derselben Begeisterung Fußball wie zu Beispiel die Südamerikaner. Das ist die große Chance in ihrem Leben.

Leben Kinder in Mitteleuropa tatsächlich zu gut, um gute Fußballer zu sein?

Na ja, zu gut nicht, aber zu bequem. Der österreichische wie der ungarische Fußball waren besonders gut in den 1950ern, 1960ern und 1970ern, als die Kinder auf dem Grund oder im Käfig aufwuchsen.

Der zum besten Fußballer aller Zeiten gewählte Ferenc Puskás hat nicht gehungert.

Aber er hatte nichts anderes, als bloßfüßig dem Ball hinterherzujagen. Wenn man diese Leidenschaft fürs Kicken nicht empfindet, wird man kein Star! Heute sind die Kinder kaum aus ihrer Komfortzone zwischen Handy, Computer und Fernseher zu bewegen.

Sie haben im zweiten Bezirk, in Buda, auch auf dem Grund begonnen. Kann man diesen Hunger nicht ersetzen?

Kinder haben im entscheidenden Alter Idealbilder vom künftigen Beruf. Das eine will Feuerwehrmann werden, das andere Polizist, das dritte Fußballer. Ich wollte Fußballer werden, alles andere hat mich überhaupt nicht interessiert. Ich hatte mit Flórián Albert ein Idol und Ferencváros als Verein. Ich habe diese Leidenschaft so intensiv gelebt, dass das Leben dann die Gelegenheit bot. Ohne Leidenschaft – oder sagen wir: ohne Interesse – bringt man es im Leben nicht sehr weit.

Leidenschaft ist auch bei der Euro 2016 in Frankreich gewiss. Am 14. Juli lebt die Tradition auf, was erwartet Ungarn denn vom Spiel gegen Österreich?

Ich sage es nicht aus Höflichkeit: Die Chancen stehen 50:50. Auf dem Papier ist Österreich besser, hat in der Qualifikation fantastische Ergebnisse erreicht. Aber das ungarische Team, das nach 40 Jahren erstmals wieder zur EM fährt, ist eine wirkliche Mannschaft. Die Stärke ergibt sich aus dem organisierten Spiel. Ein Gegner, der sie unterschätzt, kann leicht den Kürzeren ziehen.

Wer ist denn Ihr persönlicher Favorit?

Wenn die Österreicher die Form aus der Qualifikation halten und ihr Können ausspielen – sie sind sehr dynamisch und auch im Konter lebensgefährlich –, können sie sogar Gruppenerster werden. Sie sind wegen ihrer Fähigkeiten obenauf, die Ungarn wegen der erkämpften Ergebnisse. Aber trotzdem kann ich in dieser Gruppe mit Portugal und Island keinen Favoriten nennen. Jeder kann jeden schlagen oder ein Unentschieden erschwitzen.

Sie waren Teil des Betreuerteams von Pál Dárdai und hatten von Nachfolger Bernd Storck das Angebot zu bleiben. Aber...

... da ist nichts passiert! Mich hat Dárdai zu einem zerfallenen Team, ohne jeden Glauben, geholt. Ich meine, wir haben sie gemeinsam neu zusammengesetzt. Jetzt haben sie wieder Selbstvertrauen und sind stolz, zum Nationalteam zu gehören. Als Dárdai von Hertha BSC engagiert wurde, kam Storck, der seinen Stab mitbrachte. Das hat Pali ja auch getan. Übrigens: Storck lässt à la Dárdai spielen, ergänzt durch ein paar mutigere Schritte.

Aber wurde nicht eine Legende wie Tibor Nyilasi gebraucht, um den Spielern eine Form von ungarischen Stolz einzuimpfen? Kann denn das Andreas Möller auch?

Das interessiert die heutigen Fans doch nicht mehr.

Aber die Spieler?

Ich finde, der Wechsel ist problemlos gewesen, und das Ergebnis ist das Einzige, was Fans und Spieler interessiert. Ich habe meinen Job bei SportTV, bin Präsidiumsmitglied im ungarischen Fußballverband und arbeite in der Uefa-Kommission mit. Ich habe also nicht weniger Anteil am Fußball.

Fahren Sie zur Euro nach Frankreich?

Obwohl der Verband die Kosten tragen würde, plane ich es nicht. Einerseits wegen der TV-Verpflichtungen, andererseits wegen des Komforts zu Hause vor dem Fernseher.

Früher spielten Sie so begeistert mit Ihrem Freund Gyözö Martos Tennis, jetzt gehen Sie nur noch laufen. Warum?

Ich habe nicht genug Zeit. Für ein Tennismatch brauchen Sie zwei, drei Stunden, das ist ein Ritual. Das Laufen ist viel einfacher. Auf dem Normafa gibt es Trails für vier bis fünf oder für sechs bis acht Kilometer. Das liebe ich, mindestens fünfmal wöchentlich.

In Ungarn herrscht ein spürbarer Stadion-Boom, die neue Ferencváros-Arena ist fertig.

Wunderbar! Aber auch das MTK-Stadion wird herrlich, für nur 5000 Zuschauer, ganz intim. Mein Problem mit beiden ist, dass sie so schön und so modern sind, dass sie mir eigentlich fremd sind. Aber dieses Programm war notwendig, obwohl darüber gestritten wird, ob man das Geld nicht für andere Dinge brauchte. Aber Stadien gehören zur Kultur eines Landes.

Steckbrief

Tibor Nyilasi
(*18. Januar 1955 in Várpalota) ist ein ehemaliger Fußballer.

500.000 € Ablöse
Er spielte von 1972 bis 1983 bei Ferencváros, Austria bezahlte 500.000 € Ablöse.

1983–1988
Er schoss 113 Tore in 144 Spielen, wurde 1984 Torschützenkönig in Liga- und Uefa-Cup!
Meister: 1984–1986 Cupsieger 1986.

Nyilasi spielte bei der WM 1978 und 1982.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2016)

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