Fußball-England feiert Sensationsmeister Leicester City und begibt sich ein letztes Mal auf die Suche nach Erklärungen. Mancher Foxes-Fan könnte nun Millionär sein.
London/Leicester. Mit einem kollektiven Jubelschrei hat England den ersten Meistertitel der Geschichte für Leicester City FC begrüßt. Während Manager Claudio Ranieri den Triumph gewohnt würdevoll kommentierte („Ich bin unheimlich stolz auf meine Mannschaft“), konnten seine Spieler ihre Freude nicht wirklich in Worte fassen: „YESSSSSSSSS“, brüllten Christian Fuchs und seine Kollegen in einem Video, das sich kurz darauf zu einem Internet-Hit entwickelte. Die Aufnahme wurde in dem Moment veröffentlicht, als das Spiel Chelsea gegen Tottenham Montagabend mit einem 2:2-Unentschieden endete und der Meistertitel für die Foxes feststand.
Von Premierminister David Cameron („Ein außergewöhnlicher und völlig verdienter Titelgewinn”) bis Leicester-Legende Gary Lineker reichte die Liste der Gratulanten: „Es ist der größte Schock, den ich im Sport in meinem Leben erlebt habe.“ Zu Saisonbeginn war die Mannschaft von Ranieri als Fixabsteiger gesehen worden. Die Quote dafür, dass Leicester den Titel gewinnt, betrug 5000:1. Nach Angaben des Buchmachers Ladbrokes schlossen 47 Menschen eine derartige Wette ab. Sie könnten nun Millionäre sein. Doch es ist genau die Freude darüber, dass Geld (doch) nicht alles ist, die (fast) ganz England über den Triumph Leicesters jubeln lässt. David hat wieder einmal Goliath besiegt. Mit einem Sparbudget hat Manager Ranieri eine Siegertruppe geformt, aus der Jamie Vardy, Riyad Mahrez und N'Golo Kanté herausragen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie aus der Unterklasse um vergleichsweise Peanuts zu Leicester kamen und zu ungekannter Klasse aufblühten.
Ranieris Krönung
Für 22 Millionen Pfund, die Ranieris Kader gekostet hat, machen die Großvereine Arsenal, Chelsea, Liverpool und die beiden Klubs aus Manchester kaum die Kasse auf. Allein aus den nationalen Fernsehrechten ergießen sich in den kommenden drei Jahren 5,1 Milliarden Pfund über die 20 Vereine der englischen Premier League. Die großen Fußballvereine sind längst nüchterne Wirtschaftsbetriebe mit angeschlossenem Spielbetrieb geworden: Verkauft wird alles, was verkauft werden kann.
Und dennoch würde kein Vardy-Trikot über den Ladentisch gehen und niemand ein Fuchs-Video auf YouTube („No Fuchs Given“) ansehen, gäbe es nicht zuallererst den sportlichen Erfolg. Dieser aber wurde vor allem hart erarbeitet. Ranieri hat seiner Truppe einen unbedingten Siegeswillen und einen unbändigen Glauben an sich selbst eingeimpft. Ranieri sprach öffentlich nicht allzu gern vom möglichen Titel, aber er hielt ihn stets für tatsächlich erreichbar. Schon die fixe Qualifikation für die Champions League vor wenigen Wochen entlockte ihm bei einer Pressekonferenz ein herzhaftes Lachen.
Leicester City machte aus der vermeintlichen Not eine Tugend. Mit einem schnörkellosen Direktfußball zwischen Verteidigung und Angriff wurde gezeigt, dass die Rolle des Mittelfelds im modernen Fußball weitgehend überschätzt wird. Mit Fortschreiten der Saison kam immer mehr Respekt vor dem Außenseiter hinzu, von 36 Spielen wurden nur drei verloren. In den vergangenen Wochen war zu sehen, wie gegnerische Verteidiger regelrecht Angst bekamen, sobald Vardy und sein Stürmerkollege Leonard Ulloa vor ihnen auftauchten. „Wir sind furchtlos“, beschrieben sich die Leicester-Stars. Beispiellos waren Kampf- und Teamgeist: „Jeder meiner Spieler ist bereit, für den anderen das eine entscheidende bisschen Mehr zu geben“, sagte Ranieri.
Mit dem Meistertitel wurde er nicht nur in Leicester zur Legende, sondern schaffte im Alter von 64 Jahren endlich auch den Schritt vom „Beinahe-Mann“ zum Champion: Der Titel mit Leicester City FC ist Ranieris erste Meisterschaft nach 30 Jahren als Trainer und 16 verschiedenen Stationen.
Begehrlichkeiten
Der Meistertitel ist aber auch der größte Triumph in der 132-jährigen Geschichte der Foxes. Das Heimspiel am Samstag (18.30 Uhr, live in Sky) gegen Everton wird zu einer Krönung werden. Die nächste Herausforderung steht aber bereits bevor: Von Real Madrid bis Barcelona und von Manchester City bis Liverpool reichen angeblich die Interessenten für die Stars der Leicester-Truppe. Die Mannschaft zusammenzuhalten wird nun mindestens so schwierig sein, wie die Premier League zu gewinnen. Doch manche Sorgen möchte man einfach haben.
LEGENDE IN UNTERHOSEN
Wettschulden sind bekanntermaßen Ehrenschulden. Englands Fußballlegende und TV-Experte Gary Lineker kündigte vergangenen Dezember vollmundig an, dass er die erste Ausgabe der Sendung „Match of the day“ in der Saison 2016/2017 in der britischen BBC in Unterhosen moderieren werde, sollte Leicester City tatsächlich Meister werden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2016)