Der Zweck heiligt die Mittel

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Die Premier League möchte Spieler für Schwalben nachträglich sperren. Solche Sanktionen anhand von TV-Bildern aber helfen weder dem vermeintlichen Übeltäter noch der geschädigten Mannschaft. Es braucht vielmehr einen Kulturwandel.

Haben Sie von Lionel Messi schon einmal eine Schwalbe gesehen? Also ein absichtliches Zu-Boden-Gehen, um den Schiedsrichter zum Foulpfiff zu verleiten? Der Superstar gilt in dieser Hinsicht als unauffällig. Ein Fußballer mit Messis Fähigkeiten habe das gar nicht nötig, lautet zumindest die gängige Meinung. Mit dem Können hat die Schwalbe aber nichts zu tun, auch der unverbesserliche Arjen Robben – niemand hat Absprung, Flug und Abrollen samt schmerverzerrtem Gesichtsausdruck so perfektioniert wie der „fliegende Holländer“ – ist am Ball ein Ausnahmekönner.

Ist es also eine Frage des Charakters? In diesem Fall wäre es nicht gut bestellt um den Fußball, schließlich wird jedes Wochenende, in jeder Runde, in jedem Spiel getrickst und getäuscht. Eine fußballerische Eigenheit übrigens. Kein Handballer bei der WM in Frankreich, kein Eishockeycrack in der nordamerikanischen NHL würde je auf die Idee kommen, eine eigene körperliche Schwäche vorzutäuschen oder gar wie bei den besonders dramatischen Darbietungen der Fußballstars in Selbstmitleid zu verfallen.

Eine Erklärung, wieso die Schwalbe längst zum Standardrepertoire eines Fußballprofis gehört, ist das Verhältnis zwischen Risiko und Gewinn. Für einen potenziellen Schwalbenkönig überwiegt klar der Gewinn. Wieso sollte ein Stürmer den rettenden Elfmeter nicht provozieren? Kann er den Unparteiischen überzeugen, wird er als cleveres Schlitzohr gefeiert. Wenn nicht, ist die schlimmste aller Konsequenzen eine Gelbe Karte. Das ist seit 1999 die Strafe für ein absichtliches Täuschungsmanöver. Gerade ein Stürmer wird sie verkraften können. Auch Stoke-Legionär Marko Arnautović sah in der laufenden Saison schon Gelb wegen einer Schwalbe.


Best-of-Listen. Englands Fußballverband überlegt nun, härter vorzugehen. In der Premier League könnten Spieler bald nachträglich für „Diving“ sanktioniert werden. Vorbild ist Schottland: Dort erhalten Profis, die sich so einen signifikanten Vorteil herausholen, eine nachträgliche Sperre für zwei Partien.

Seit fünf Spielzeiten wenden die Schotten diese Regel an. Von der Fifa, die stets auf die Tatsachenentscheidungen der Schiedsrichter verweist und eine Bestrafung anhand von TV-Bildern ablehnt, ist noch keine Beschwerde eingelangt. So ist die Botschaft eindeutig: Das Schinden von Elfmetern und Freistößen entgeht nicht nur keiner TV-Kamera, es führt auch zu entsprechenden Sperren. Einige Premier-League-Trainer haben sich bereits dafür ausgesprochen.

Gern aber wird dabei vergessen, dass ein nachträglicher Bann weder dem vermeintlichen Übeltäter noch dessen Mannschaft hilft. Es müsste schon ein Kulturwandel mit dieser Maßnahme einhergehen. Aber wie ist das Schwalbenproblem in den Griff zu bekommen, wenn selbst der amtierende Weltfußballer Cristiano Ronaldo von Zeit zu Zeit in Versuchung gerät? Einen entsprechenden Ruf konnte Ronaldo nie ganz ablegen, und seine Flugeinlagen im Manchester-United-Dress sind ohnehin fixer Bestandteil derartiger Best-of-Listen.

Gerade in England sah man „Diving“ lang als eine Angewohnheit von Legionären. Schon Jürgen Klinsmann hat sich damit in den 1990er-Jahren keine Freunde auf der Insel gemacht (seine berühmteste Schwalbe aber blieb jene im WM-Finale 1990, der Argentinier Pedro Monzón musste vom Platz, Deutschland gewann 1:0). Dann aber erschwindelte Michael Owen bei der WM 2002 gegen Argentinien den entscheidenden Elfmeter. Auch der robuste Strafraumstürmer Alan Shearer wurde plötzlich zum Leichtgewicht, wenn dringend Tore gefragt waren. Und selbst Liverpool-Legende und Three-Lions-Kapitän Steven Gerrard hat in dieser Hinsicht keine blütenweiße Weste. Werfen sich solche Musterprofis zu Boden, wirkt es doch gleich viel glaubwürdiger. Und irgendwann finden die Taten der großen Vorbilder auch Einzug in den Jugendbereich.

Fliegt das Täuschungsmanöver auf, ist der Skandal vorprogrammiert. So geschehen bei der wohl peinlichsten Schwalbe des Jahres 2016: Arturo Vidal hebt im Pokalhalbfinale gegen Werder Bremen im Strafraum ab, eine athletische Flugeinlage des Bayern-Profis ohne jegliches Mittun eines Gegenspielers. Es gibt Elfmeter, die Münchner gewinnen 2:0 und ziehen ins Endspiel ein. Konsequenzen hatte Vidal ob seiner Schwalbe keine zu befürchten, es galt die Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters.

Häme aber war ihm gewiss. Es folgte ein Shitstorm (Hashtag #vidalich), der Chilene hatte fortan den Beinamen „Air Vidal“. Teamkollege Thomas Müller, der den herausgeholten Elfmeter verwandelt hatte, sah die TV-Bilder und erklärte: „Eine Schwalbe. Das sollte nicht sein. Wenn ein Elfmeter gegen uns so passiert, stehe ich hier und rede in einer anderen Tonart.“ Vidals damaliger Coach, Pep Guardiola, entschuldigte sich. Aber Vidal ist kein Anfänger, schon im Juventus-Trikot zeigte er Kostproben seiner Flugkunst, gegen Real Madrid sah er nach einer besonders absurden Einlage auch schon Gelb. Nach seinem letzten Streich verzichtete er daher auf eine Stellungnahme und eilte in der Kabine.

Anders Timo Werner. Der Leipziger sorgte erst vor wenigen Wochen für den jüngsten Skandal. Beim 2:1 gegen Schalke provozierte er einen Elfmeter (und verwandelte auch selbst), die TV-Bilder ließen keinen Zweifel: eine lupenreine Schwalbe. Doch nach dem Spiel verstrickte sich Werner in Widersprüche, redete von einer Berührung, die ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte und dergleichen. Kommentatoren fragten sich: Wenn er schon schwindelt, wieso ist er nicht Manns genug, es wenigstens zuzugeben? Mit einem Tag Abstand ruderte Werner schließlich zurück.


Unsitten sonder Zahl. Schnell wurden in der Causa Werner Vergleiche mit der „Mutter aller Schwalben“ von Andreas Möller gezogen. Dieser Fall zeigt, dass bereits vor über 20 Jahren im Sinne des aktuellen englischen Vorstoßes gehandelt wurde. 1995 ließ sich der damalige BVB-Star Möller ohne Fremdberührung im Karlsruher Strafraum fallen. Auch hier gab es Elfmeter, Dortmund gewann 2:1. Möller prägte den Begriff der „Schutzschwalbe“, er erklärte, nur abgehoben zu sein, um einer Verletzung durch Gegenspieler Dirk Schuster („Es hätte locker ein Kleinwagen zwischen uns gepasst“) zuvorzukommen. Die Szene hatte ein Nachspiel: Das DFB-Sportgericht verhängte eine Geldstrafe von 10.000 Mark und sperrte Möller nachträglich für zwei Spiele. Es war der erste und bisher letzte Fall in Deutschland.

So blieb die Abschreckung aus, noch immer heiligt im Strafraum der Zweck die Mittel. Emotionen sind garantiert, nichts sorgt für mehr Empörung bei Zuschauern, Fans und Medien als eine Schwalbe. Dabei wären da noch jede Menge anderer Unsitten zu bekämpfen: taktische Fouls, Zeitschinden, Trashtalk, Rudelbildung beim Schiedsrichter . . .

Auch Lionel Messi wurde bei all diesen Dingen schon beobachtet.

Zahlen

11Premier-League-Profis wurden in der Saison 2016/17 bisher wegen Schwalben mit einer Gelben Karte verwarnt. Darunter Paul Pogba (Manchester United), Daniel Sturridge (Liverpool) und Marko Arnautović (Stoke City).

2Spiele Sperre
In der schottischen Premiership droht Spielern, die mit einem Täuschungsversuch einen signifikanten Vorteil herausholen, seit 2011 eine nachträgliche Sperre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2017)

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