Es wird krachen beim Fußballkarneval

FUSSBALL - FIFA WM 2014, Vorschau
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Zehn Wochen sind es noch bis zum Anpfiff der Fußball-WM in Brasilien. Doch im Land des Fußballs herrscht keine Euphorie, vielmehr drohen in Rio de Janeiro und São Paolo Massenproteste wie bei der WM-Generalprobe im Vorjahr.

Wir brauchen keine WM. Wir wollen Bildung!“, sagt Fernanda. Die 24-Jährige studiert in São Paulo Pädagogik und ist vergangenes Jahr im Juni gemeinsam mit Studienkollegen zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration gewesen. Und dabei ist Fernanda auf den Geschmack gekommen. Mittlerweile hat sie zu zählen aufgehört: „Bei etwa 20 Protestkundgebungen werde ich schon dabei gewesen sein.“ Die Protestwelle ist zwar schwächer geworden, aber nicht abgerissen. Seit einem Dreivierteljahr demonstrieren in den Großstädten regelmäßig Gruppen von bis zu 2000 Personen.

Das miserable öffentliche Bildungssystem in Brasilien ist Fernanda ein besonderer Dorn im Auge. Die Tochter eines Zahnarztes und einer Rechtsanwältin hat allerdings bisher noch nie eine öffentliche Schule von innen gesehen. Nach der Privatschule hat sie an der Universität von São Paulo (USP) inskribiert, die als die beste Uni Lateinamerikas gilt. Fernanda findet es skandalös, dass die brasilianische Regierung mehr als zehn Milliarden Euro für die Fußball-WM ausgibt, davon allein drei Milliarden für zwölf topmoderne Stadien, es in den Klassenzimmern aber oft nicht einmal Sesseln und Tafeln gibt.

Die Studentin passt irgendwie gar nicht ins herkömmliche Bild der klassischen brasilianischen Wutbürger. In den Zeitungen ist nämlich oft zu lesen, es wären vor allem die Angehörigen der sogenannten neuen Mittelschicht, die auf die Straße gehen würden. Diese, hauptsächlich aufgrund von Sozialleistungen der Mitte-links-Regierung aus der Unterschicht Aufgestiegenen, so die verbreitete These, wollen nicht nur Waschmaschinen, Kühlschränke, Flachbildschirme und Smartphones kaufen, sondern fordern nun auch politische Teilhabe. Doch viele kommen aus gutbürgerlichen Familien wie Fernanda.

Wer demonstriert da also jetzt wirklich, wie breit ist die Protestbewegung, und warum richten sich die Demonstrationen zwar gegen einzelne korrupte Politiker, aber nicht direkt gegen die Regierung? Warum fordert niemand den Rücktritt von Präsidentin Dilma Rousseff, sie wäre doch für viele der Versäumnisse und Missstände verantwortlich zu machen? Fragen, die in der brasilianischen Öffentlichkeit kaum diskutiert werden – jetzt schon gar nicht, da die WM vor der Tür steht.


Als sich der Zorn entzündete. In 70 Tagen geht es los, am 12. Juni findet in São Paulo das Eröffnungsspiel der 20. Fußball-WM statt. Eine Frage stellen sich die Brasilianer sehr wohl: Wird es zu ähnlichen Protesten wie während des Confederations-Cup im Vorjahr kommen? Die WM-Generalprobe ist von den größten Demonstrationen überschattet gewesen, die Brasilien seit der Militärdiktatur (1964–1985) erlebt hat. Ausgelöst wurden die Proteste durch eine Erhöhung der Busfahrpreise.

Aus Wut über das brutale Vorgehen der Polizei bei den ersten Demonstrationen entstand spontan eine Massenprotestbewegung, deren Dimension Politiker und politische Beobachter überraschte. Die Proteste richteten sich in weiterer Folge vor allem gegen die Milliardenausgaben für die WM (statt für Bildung und Gesundheit) und gegen die Bevormundung durch den Weltfußballverband Fifa. Der „Widerstand gegen die WM“ wird maßgeblich von sogenannten WM-Volkskomitees organisiert, die von NGOs in allen zwölf WM-Städten gegründet worden sind. „Während der WM wird es keine vergleichbaren Proteste geben“, behauptete der brasilianische Sportminister Aldo Rebelo unlängst. Seiner Meinung nach wird die WM für die Brasilianer ein „einzigartiger Moment, in dem man sich auf den Fußball und aufs Feiern konzentrieren wird“.


„Es wird richtig krachen.“ Wie nervös die brasilianischen Politiker allerdings wirklich sind, zeigt ein Gesetzesentwurf, der gerade im Parlament diskutiert wird. „Projeto de Lei 499“ sieht vor, dass der Tatbestand des Terrorismus im Strafrecht eingeführt wird. Demnach drohen Tätern bis zu 30 Jahre Haft, wenn sie etwa Terror und Panik auslösen. Was darunter zu verstehen ist, wird nur vage definiert. Kritiker befürchten, dass allein die Debatte über dieses Gesetz dazu beiträgt, die Protestbewegung zu kriminalisieren. „Die Massenproteste werden während der WM wieder aufflammen“, glaubt der österreichische Journalist, Fotograf und Brasilien-Kenner Alois Gstöttner, der während der Recherchen für sein Buch „Gooool do Brasil“ viel Zeit in Brasilien verbracht und zahlreiche „Rebellen“ kennengelernt hat: „Die Welt wird auf Brasilien schauen, diese Gelegenheit wird man sich nicht nehmen lassen.“

Ähnlich sieht das der deutsche Soziologe Martin Curi, der seit mehr als zehn Jahren in Rio de Janeiro lebt und die Fußballleidenschaft der Brasilianer erforscht. Allerdings glaubt Curi, dass die zu erwartenden Proteste von der Größenordnung her weitaus kleiner ausfallen werden als im Vorjahr: „Das Überraschungsmoment ist vorbei, die Menschen fühlen, dass sie ihre Botschaft angebracht haben, die Polizei wird besser vorbereitet sein und die WM hat einen anderen Stellenwert als der Confed-Cup.“ Curi befürchtet jedoch, dass es zu Ausschreitungen kommen wird. Die ohnedies gefürchtete Militärpolizei hat kräftig aufgerüstet und verfügt etwa über neue Hochdruckwasserwerfer. Vor allem Aktivisten des schwarzen Blocks (Kampfparole „Não vai ter copa!“ – „Es wird keine WM geben!“) werden wohl trotzdem versuchen, in Sperrzonen einzudringen: „Da wird es dann richtig krachen!“, so Curi.

Nach der WM erwartet die Brasilianer im Herbst das nächste Großereignis: Im Oktober wird gewählt, nach vier Jahren im Amt stellt sich Präsidentin Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei der Wiederwahl. Weder die konservative noch die linke Opposition kann einen ernsthaften Herausforderer aufbieten. Deshalb wären die Proteste und deren Verlauf auch von politischer Bedeutung, meint die Grazer Historikern und Brasilien-Koryphäe Ursula Prutsch.


Die Selecão als Indikator. Sollten die Demonstrationen nämlich eskalieren, würde sich die Opposition die Hände reiben. „Viele meinen außerdem, das Abschneiden des brasilianischen Teams wird den Wahlkampf beeinflussen“ sagt Prutsch. Sollte die Seleção (die brasilianische Nationalmannschaft) patzen und wie bei der ersten Heim-WM 1950 nicht den von allen Brasilianern erwarteten Titel holen, dann könnte es für Rousseff eventuell eng werden.

Prutsch kann im Moment noch keine WM-Euphorie in Brasilien ausmachen. Sie hat gerade zwei Wochen in der Amazonas-Region mit Dreharbeiten für ein Dokumentarfilmprojekt verbracht und in den Medien dort „mehr über die Krise in der Ukraine erfahren als über die WM-Vorbereitungen“. Man merke es vor allem an den stark gestiegenen Preisen, dass ein Megaevent vor der Tür stehe, so Prutsch. Ein Beispiel: Wer rund um das WM-Endspiel in Rio am 13. Juli ein Doppelzimmer in einem Dreisternehotel gebucht hat, der muss für die Übernachtung an die 500 statt der üblichen 100 Euro hinblättern.

„Es herrscht eine komische Stimmung“, meint Soziologe Curi: „Einerseits bewerben sich die Leute wie wild für Tickets, um im gleichen Atemzug zu sagen, dass die WM ein Reinfall wird und das Geld besser hätte verwendet werden können.“


„Mittelschicht muss zahlen.“ Geld ist auch für die Pädagogikstudentin Fernanda ein großes Thema: „Die Regierung macht Politik für die Armen, und wir aus der Mittelschicht müssen das bezahlen!“ Fernanda entwischen solche Bemerkungen, die sie gleich wieder zurücknehmen möchte. Denn im nächsten Atemzug beteuert sie, dass die Mitte-links-Regierungen von Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2003–2010) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff „so viel Positives geleistet haben wie niemand zuvor. Aber Familien wie meine, die schon seit Generationen zur Mittelschicht gehören, müssen das ausbaden. Vor zehn Jahren haben wir uns noch viel mehr leisten können.“

Findet also innerhalb der mittlerweile sehr breiten Mittelschicht ein Verteilungskampf zwischen Alteingesessenen und Aufsteigern statt? Das bestreitet Fernanda vehement: „Nein, wir haben doch ein gemeinsames Ziel, wir wollen, dass die Regierung mehr Geld für Bildung und Gesundheit ausgibt. Und dafür werden wir auch während der WM demonstrieren!“ Am ersten WM-Tag hat die 24-Jährige allerdings etwas anderes vor. An diesem 12. Juni bestreitet die Seleção in São Paulo das Eröffnungsspiel gegen Kroatien. Und für dieses Match hat Fernanda Karten. Willkommen im Land des Fußballs.

Zur Person

Rainer Mostbauer
Geboren 1974, seit 1995 beim ORF, seit 2001 Redakteur im Auslandsressort der „Zeit im Bild“, spezialisiert auf Lateinamerika, besonders fasziniert von Brasilien. Über die Wahl von Dilma Rousseff zur ersten brasilianischen Präsidentin hat er aus Brasilien berichtet, ebenso über den RIO+20-Gipfel im Juni 2012 und den von Massenprotesten überschatteten Confed-Cup im Juni 2013.

Im Augenblick bereitet er sich auf seine nächste (berufliche) Brasilien-Reise vor: zur Fußballweltmeisterschaft im Juni.
ORF

Literatur

Martin Curi: „Brasilien. Land des Fußballs.“ 352 Seiten. Verlag: Die Werkstatt. Göttingen, 2013.
Alois Gstöttner: „Gooool do Brasil. Kartografie einer nationalen Leidenschaft.“ 176 Seiten. Verlag: Club Bellevue. Wien, 2014.
Ruedi Leuthold: „Brasilien. Der Traum vom Aufstieg.“ 208 Seiten. Verlag: Nagel & Kimche. München, 2013.
Ursula Prutsch: „Brasilien. Eine Kulturgeschichte.“ 264 Seiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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