Neymar: Hoffnungsträger einer ganzen Fußballnation

BRAZIL SOCCER FIFA WORLD CUP 2014 PREPERATIONS
BRAZIL SOCCER FIFA WORLD CUP 2014 PREPERATIONS(c) APA/EPA/SEBASTIAO MOREIRA
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Brasilien eröffnet gegen Kroatien die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Es ist der Beginn einer fast fünfwöchigen Titelmission, deren Erfolg vor allem ein Spieler garantieren soll: Barcelonas Jungstar Neymar.

Für die brasilianische Mannschaft hieß es nach zwei Wochen harter Arbeit Abschied nehmen. Es war eine Art Vertreibung aus dem Paradies, die Seleção brach vom abgeschiedenen Trainingscamp im Club Comary Abraça in Teresopolis auf, um das Abenteuer Heim-WM in Angriff zu nehmen. Zum Auftakt wartet am Donnerstag (22 Uhr, live in ORF 1, ZDF) in São Paulo Kroatien. Ein Eröffnungsspiel, bei dem eine ganze Nation einen Sieg verlangt. Und das ist noch viel zu wenig, Brasilien träumt vom sechsten WM-Titel, dem Hexacampeão.

Die Mannschaft wirkt konzentriert, Teamchef Luiz Felipe Scolari ruhig. Er hat schon zu viel erlebt, um sich Nervosität anmerken zu lassen. Und auch schon genug gewonnen, um sich um seine Zukunft zu sorgen. Aber eine Weltmeisterschaft im eigenen Land, das erzeugt auch bei ihm eine gewisse Anspannung.

Die brasilianischen Journalisten sehen die Seleção in einer guten Ausgangsposition. Ganz nach dem Motto: „Es muss erst einmal ein Team kommen, das uns schlägt.“ Unbezwingbar aber sei man sicher nicht. Noch nicht, aber Brasilien werde sich steigern. Mit jedem Spiel. Auch beim Confed-Cup vor einem Jahr sei das so gewesen – und dann hat man im Finale gegen Spanien, den regierenden Champion, klar gewonnen.

Luiz Felipe Scolari, den sie liebevoll Felipão, den großen Felipe, nennen, ist ein alter Trainerfuchs. Ihm ist es vorerst gelungen, die Stars bei Laune zu halten. Einige alte Kräfte hat er erst gar nicht nominiert, von Erfolgen aus vergangenen Tagen kann er sich nichts kaufen. Alles wird dieser WM untergeordnet, Eigennützigkeit interessiert Scolari nicht. Wer in Brasiliens Team den Egoisten hervorkehren will, der bekommt mit dem Teamchef Probleme.

Doch Scolari hat dieser Tage noch ganz andere Sorgen, muss erneut eine Familientragödie verarbeiten. Zwei Wochen nach dem Tod seines Schwagers kam sein Neffe bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Scolari leitete dennoch das Nachmittagstraining der Seleção. Zeit zur Trauer bleibt ihm kaum. Die Journalisten in Teresopolis, 120 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt in den Bergen gelegen, sind daher auch vorsichtiger mit ihren Fragen. Auf dem Trainingsplatz rinnt trotzdem der Schweiß, wobei man nie das Gefühl hat, dass die Spieler trotz TV-Liveübertragung das Letzte geben.

Der Star unter den Stars

Ein Spieler ragt bei all den Ballkünstlern dennoch heraus. Und er genießt eine Art Sonderstellung, obwohl er sie gar nicht anstrebt. Er ist der Star unter den Stars, die personifizierte Hoffnung, dass Brasilien siegen möge. Und den Titel gewinnt. Auf seinen Schultern lastet der Großteil der Last, dabei sind diese Schultern doch ziemlich schmal. Er wirkt wie ein Leichtgewicht, dabei ist er fast 100 Millionen Euro schwer. Zumindest hat der FC Barcelona diese Summe für ihn hingeblättert. Neymar da Silva Santos Junior soll das garantieren, was sich die 200 Millionen Menschen im Land erwarten – Tore auf dem Weg zum Triumph. Neymar jr. selbst spricht selten. Er hat sich rargemacht in Teresopolis, weil er sich nicht ununterbrochen wiederholen will. „Druck? Ich verspüre keinen Druck“, sagt der 22-Jährige. „Ich empfinde Freude und Stolz. Ich bin total berührt und gespannt. Vielleicht auch nervös vor dem, was jetzt kommt.“

Mit dem Gegner haben sich die Brasilianer ernsthaft auseinandergesetzt, auch wenn sie das vor den Medienvertretern nicht breittreten. Sie tun so, als würden sie sich selbst genügen, nur auf sich schauen. Es gleicht einer vorgetäuschten Selbstherrlichkeit. Wie bei Neymar, der beim FC Barcelona keine allzu gute Saison hinter sich gebracht hat. In der Seleção allerdings präsentiert er sich wie verwandelt. Und erinnert an jenen Wunderknaben, als der der FC-Santos-Spieler berühmt und zweimal zu Südamerikas Fußballer des Jahres (2011, 2012) gewählt wurde.

Neymar ist längst eine Werbefigur wie kaum ein anderer in diesem Land. Er hat sogar eine eigene Comicserie, auf Twitter mehr als zehn Millionen Follower, das kann ein Armin Wolf niemals erreichen. Es gibt nichts, was Medien nicht über ihn berichten. Da kommt die Beziehung mit Telenovela-Schauspielerin Bruna Marquezine wie gerufen. Geheim ist nur die Identität der Mutter seines knapp zwei Jahre alten Sohnes David Lucca.

Messi, Teamkollege und Rivale

Am Dienstag sorgte Neymar jr. beim Training für eine Schrecksekunde, gottlob für die fußballverrückten Brasilianer ist beim Zusammenstoß mit einem Mitspieler nichts passiert. „Neymar ist ein Instinktfußballer“, sagt Scolari. „Er spielt jeden Tag anders. Er improvisiert, ist schnell, agil. Und er schafft es, mich zu überraschen.“ Womit? „Mit immer wieder neuen Spielzügen.“ Bei Barcelona ist Neymar einer von vielen, dort steht er im Schatten von Lionel Messi. Für den Brasilianer ist der kleine Argentinier „der Allergrößte“. Und bei dieser WM vielleicht der größte Rivale.

Im Lager der Seleção ist man sich allerdings sicher: Neymar wird für Brasilien den Unterschied ausmachen. Beim Confed-Cup ist ihm dies relativ gut gelungen. In seinen bisher 49 Länderspielen hat er 31 Treffer erzielt. Man darf davon ausgehen, dass Neymar seine Quote bei dieser WM weiter erhöht. Und damit ganz Brasilien zumindest für ein paar Wochen glücklich macht.

Brasilien: 12 Julio Cesar; 2 Dani Alves, 3 Thiago Silva, 4 David Luiz, 6 Marcelo; 8 Paulinho, 17 Luiz Gustavo, 11 Oscar; 7 Hulk, 9 Fred, 10 Neymar.
Kroatien:
1 Pletikosa; 11 Srna, 5 Corluka, 6 Lovren, 2 Vrsaljko; 18 Olic, 7 Rakitic, 10 Modric, 20 Kovacic, 4 Perisic; 9 Jelavic.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2014)

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