Viertelfinale: Deutschlands „Sieger-Gen“

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DFB-Teamchef Löw musste sich vor dem Frankreich-Spiel Kritik an seinem System gefallen lassen. Ein Zankapfel ist Kapitän Lahm.

Rio de Janeiro. Joachim Löw steht mit der deutschen Nationalmannschaft einmal mehr bei einem Großereignis am Scheideweg. In seinem 110. Länderspiel als Teamchef geht es heute gegen Frankreich um den Einzug ins Halbfinale der Fußball-WM in Brasilien. Begleitet wurde die Vorbereitung auf dieses Spiel allerdings von vielen Diskussionen, die der Stimmung in der Mannschaft nicht gerade zuträglich waren. Sogar eine Lippenleserin wollte ihren „Senf“ zu den taktischen Besprechungen während eines Spiels abliefern . . .

Gewinnt Löw, seit der Heim-WM 2006 verantwortlich, den ersten Titel? Bei der Euro 2008 verlor er das Finale in Wien 0:1 gegen Spanien. Bei der WM 2010 in Südafrika war im Halbfinale Endstation – 0:1 gegen Spanien. Bei der Euro 2012 war Mario Balotelli stärker, Italien siegte mit 2:1. Dazu kamen in den vergangenen Tagen Debatten über die Sinnhaftigkeit von Interviews mit dem gereizt wirkenden Per Mertesacker. Fragen nach Aufstellungen, Verletzungen, Schweinsteiger – und das quälende Bohren über die eigentliche Position von Kapitän Philipp Lahm.

Löw, der ehemalige Tirol- und Austria-Trainer, blieb vor dem Spiel im Maracanã gelassen, zumindest nach außen hin wirkte er gewohnt ruhig. Der 54-Jährige wollte von einem Schicksalsspiel nichts wissen, auch sei es nicht die wichtigste Partie seiner Amtszeit, der Badener sagt: „Oh nein, um Gottes Willen. Da gab es Spiele, die genauso wichtig waren.“ Und dennoch, das Aus im Viertelfinale könnte für den bei 74 Länderspielsiegen haltenden Löw Folgen haben. Deutschland verlangt Erfolg – es will einen Titel.

Besserwisser und Experten

In Brasilien ließ das 2:1 n. V. gegen Algerien im Achtelfinale jedenfalls darauf schließen. Ihm wird mangelnde Flexibilität vorgeworfen, die taktische Ausrichtung sowie seine Personalentscheidungen sind umstritten. Im Zentrum der Diskussionen steht vor allem Kapitän Lahm. Der Bayern-Profi ist für Löw im defensiven Mittelfeld gesetzt, Experten sehen ihn auf der Außenbahn besser aufgehoben.

Auch in Deutschland gibt es Teamchefs sonder Zahl, und damit mehr als 80 Millionen unterschiedliche Meinungen. Es ist ein beliebtes, mediales Spiel: die Konsultation altgedienter Experten. Michael Ballack, der ehemalige DFB-Kapitän, sieht Lahm – wie auch Felix Magath – am besten links in der Viererkette. Für Lothar Matthäus ist die Besetzung der Außenpositionen mit gelernten Innenverteidigern „ein Problem“. Bereits gegen Algerien musste der bei dieser WM für viele nur unterdurchschnittlich spielende Lahm für den verletzten Shkodran Mustafi rechts hinten einspringen. Er ist auch heute an dieser Stelle die einzige Alternative.

Khedira und Schweinsteiger könnten im Mittelfeld agieren. Schürrle winkt anstelle von Götze der Platz in der Startelf. Es gibt viele Tendenzen, aber keine klare Prognose. „Ich weiß, dass wir stark ist. Wir haben keine Angst“, sagt Löw und betonte überraschend das „Sieger-Gen“, das er bei seinen Spielern entdeckt haben wollte. Wie stark werde ihr Wille sein, vor allem Richtung Spielende? Wie könne man sich überwinden, wie stark wolle man denn diesen Sieg? Joachim Löw sprach, es klang aber ganz eindeutig nach einer „Klinsmann-Motivationspredigt“.

Sevilla statt Gijon, Cordoba

Frankreich, Champion von 1998, gilt ob der bisherigen Siege bei dieser Endrunde als Favorit. Und weil sieben DFB-Spieler über diverse Wehwehchen klagen, wird das für Löws Team gleich als Zeichen von kollektiver Schwäche interpretiert. Auch Frankreichs Medien „verstehen“ ihr Geschäft, aufgewärmt werden alte Duelle.

Statt Cordoba oder Gijon geht es um Sevilla 1982 (Schumachers Brutal-Foul gegen Battiston) oder Mexiko 1986 (0:2 im Halbfinale). Didier Deschamps wollte von diesen Spielen der Vergangenheit aber nichts wissen. Er sagt: „Das war grausam. Aber meine Spieler waren damals noch nicht geboren. Ich werde deshalb nicht darüber sprechen, das ist nur für Veteranen.“ Im bislang letzten Spiel verlor Frankreich im vergangenen Februar in St. Denis mit 1:2 – vor Deutschland habe Deschamps daher „großen Respekt“. (fin)

Frankreich: 1 Lloris; 2 Debuchy, 4 Varane, 5 Sakho, 3 Evra; 19 Pogba, 6 Cabaye, 14 Matuidi; 8 Valbuena, 10 Benzema, 11 Griezmann.

Deutschland: 1 Neuer; 16 Lahm, 17 Mertesacker, 20 Boateng, 4 Höwedes; 6 Khedira, 7 Schweinsteiger, 18 Kroos; 9 Schürrle, 13 Müller, 8 Özil.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2014)

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