Spanien: Durch und durch außergewöhnlich

Spanien Durch durch aussergewoehnlich
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Die überragende „selección“ entpuppt sich als Produkt der katalonischen Fußballschule eines gewissen Johan Cruyff. Spanien verteidigt phänomenal und es verfügt über so hohe taktische Intelligenz.

Durban. Plötzlich flog der Ball hoch in den deutschen Strafraum. Jeden Eckball, jeden Freistoß hatten die Spanier vorher flach und kurz gespielt, um wieder eine ihrer verwirrenden Passstafetten einzuleiten – eine naheliegende Wahl der Mittel, wenn etwa der eigene Mittelstürmer, David Villa, zwei Köpfe kleiner ist als sein Bewacher, Per Mertesacker. Das Spiel stand immer noch 0:0. Waren jetzt also selbst sie mit ihren Ideen am Ende, war es pure Verzweiflung, dass Xavi in der 73. Minute eine stinknormale Ecke trat und einfach nur Zufall, dass Carles Puyol gegen all die deutschen Hünen frei zum Kopfball kam? Nein, erklärte Carlos Marchena, als alles vorbei war. „Wir wussten, dass die Deutschen bei Ecken im Raum decken und wir so eine Chance haben.“

Marchena, 30, ist nur noch Ersatz, seit der junge Gerard Piqué den Posten in der Innenverteidigung neben Puyol übernommen hat. Niemand würde den robusten Mann vom FC Valencia als typischen Vertreter der spanischen Fußballschule bezeichnen, und doch ist er kein schlechter Ausgangspunkt, um die historische Einmaligkeit dieser „selección“ zu verstehen. Marchena nämlich bestritt in Durban sein 55. Länderspiel in Folge ohne Niederlage. Natürlich hatte er das Glück, mal bei einer Pleite nicht dabei zu sein. Aber davon gab es in der Amtszeit des aktuellen Trainers Vicente del Bosque nur zwei. Der Rest waren Siege, 30 Stück. Die Tordifferenz seit 2008: 82:17.

Sieg der Strategie

Nun hat der Europameister auch bei der WM so überwältigend gespielt, wie das von Beginn an erwartet wurde. Zu sehen war: bestialisches Pressing – das die neuen, technisch besseren Deutschen überforderte wie die meisten ihrer Vorgängermannschaften. Tiqui-taca – dieses Katz- und Mausspiel mit kurzen Pässen, das den ohnehin schon demütigen Gegner hypnotisiert. Total football – alle machen alles. Verteidiger Sergio Ramos gab häufig den Rechtsaußen, Piqué machte oft das Spiel. „Wir waren durch und durch außergewöhnlich“, sagte del Bosque. Sein Team bot das komplette Programm.

Es war ein Sieg der Strategie, denn das unterscheidet dieses Spanien von ähnlich talentierten Auswahlen in der Geschichte des Weltfußballs – es verteidigt phänomenal und es verfügt über so hohe taktische Intelligenz, dass es erkennt, wann, wie bei jenem Eckball, der Moment für eine Änderung des Skripts gekommen ist. Del Bosque leistete einen entscheidenden Beitrag, mit dem überraschenden Aufgebot von Flügelspieler Pedro anstelle von Fernando Torres. Pedro rochierte ständig, band Philipp Lahm, unterstützte Ramos und assoziierte sich mit Xavi und Iniesta, seinen Klubkollegen.

Cruyff darf sich als Sieger fühlen

Wie diese drei stammen auch Puyol, Piqué und Sergio Busquets vom FC Barcelona. Da mag Fernando Hierro, Sportdirektor des spanischen Fußballverbandes und stolzer Andalusier, zuletzt noch so sehr betont haben, dass die „selección“ einen genuin spanischen Stil vertrete – dieses Team hat seinen Nukleus in Katalonien. „Visca España“, titelte die Sportzeitung „As“. „Visca“ auf Katalanisch statt „viva“ auf Spanisch: eine bemerkenswerte Botschaft in Zeiten, in denen das Verhältnis zwischen Zentrale und der nordöstlichen Region angespannt ist, weil das Verfassungsgericht die Umsetzung eines neuen katalanischen Autonomiestatuts blockiert.

Eine katalanische Fußballauswahl gibt es schon, ihr Trainer ist ein Johan Cruyff, und hat sich zur Urheberrechtsfrage am Finaleinzug geäußert. „Ich will nicht polemisieren, aber so leid es mir tut, der Stil von Spanien ist der Stil von Barça.“ Dass es auch sein eigener Stil ist, musste er nicht hinzufügen, das weiß sowieso jeder. Wenn Spanien im WM-Finale gegen Holland spielt, trifft es auf die ideologische Heimat seines Spielstils.

Bis Cruyff 1988 als Trainer nach Barcelona kam, war Spanien nicht unbedingt als Reservat des schönen Fußballs bekannt. Der niederländische Grande revolutionierte als Pädagoge, als Ästhet, als Streiter für seine Ideen. Er implantierte die Ajax-Schule: ab der frühesten Jugend in allen Teams die gleiche Philosophie zu lehren, 4-3-3, Ballbesitz, Pressing – die sechs Barça-Spieler in der spanischen Startformation haben das automatisiert, sie stammen aus dem eigenen Nachwuchs. Auch im Klubfußball setzen sie momentan die Maßstäbe, angeleitet von Josep Guardiola, der einst in Cruyffs „Dream-Team“ Regie führte. Mit vier Meistertiteln in Folge, einem Europapokal und seinem bedingungslosen Angriffsspiel markierte dieses eine Stunde null im spanischen Fußball. Dass sich sein gedankliches Rüstzeug mit den natürlichen Veranlagungen der kleinen, wendigen Spieler zu so einer exquisiten Mischung vereinen würde, konnte Cruyff nicht ahnen. Am Sonntag wird er seine Ideen weniger im pragmatisch gewordenen Fußball seiner Landsleute wiedererkennen als beim Gegner. So oder so, 36 Jahre nach der traumatischen Finalniederlage seines „total football“ gegen Deutschland wird er sich nach einem WM-Endspiel endlich als Sieger fühlen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2010)

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