Samurais auf dem Rad

Anna Meares of Australia rides to win the Women's Keirin final at the UCI Track Cycling World Cup in Saint-Quentin-en-Yvelines, near Paris
Anna Meares of Australia rides to win the Women's Keirin final at the UCI Track Cycling World Cup in Saint-Quentin-en-Yvelines, near ParisREUTERS
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Bahnrad. Keirin sollte den Japanern nach dem Zweiten Weltkrieg ein Stück Lebensfreude zurückgeben und die Staatskasse füllen. Heute kämpft der Nationalsport um Nachwuchs und Zuschauer.

Tokio. „Hier brüllten die Leute richtig und machten sich Notizen, da war die Hölle los.“ Yasuyuki Sugaya seufzt. Hinter einer Glaswand stehen 50 alte Männer und warten auf das Signal. Der Startschuss fällt, der motorbetriebe Tempomacher fährt an. „Mal sehen!“, japst der Trainer und Ex-Profi kurz auf. Einer der Fahrer auf der Bahn ist sein Schüler, es könnte der Sieg drin sein. Kurz vor der Ziellinie recken ein paar Zuschauer ihre Hälse nach den sprintenden, drängelnden Athleten, auf die sie gewettet haben. Momente später nicken einige zufrieden, Sugayas Schützling aber wurde nur Fünfter.

Über Jahrzehnte hat Keirin erst die Japaner und dann die Radsportwelt fasziniert. Diese so kompromisslose Disziplin, deren Regeln keine Missverständnisse zulassen: Sechs bis neun Fahrer treten auf der Bahn über 2000 Meter an, folgen zunächst einem Schrittmacher, der auf 50 Stundenkilometer beschleunigt. Auf dem Weg dorthin kämpfen sie um die beste Position für den Moment, wenn der Schrittmacher ausscheidet und das Rennen den Fahrern überlässt.

Von den heute noch 43 Rennbahnen überträgt das Fernsehen live, ganze Zeitungen sind darauf spezialisiert. In seiner kurzen Geschichte hat es der Sport zur olympischen Disziplin gebracht und auch bei der jährlichen Bahnrad-WM, die bis Sonntag in Saint-Quentin-en-Yvelines stattfand, hat Keirin einen festen Platz. Doch weder bei den Damen noch bei den Herren war Japan in der Finalphase vertreten. In seinem Heimatland ist der Sport nicht die richtig große Sache. Nicht mehr.

Hinter den Kulissen lärmen Waschmaschinen, in Rollen eingespannte Rennräder surren. Junichi Tamura wirft sich auf die Couch und reißt sein Kopftuch runter. „Heute lief's nicht“, sagt der Zögling von Yasuyuki Sugaya. Die Leute, die auf ihn gewettet haben, sind leer ausgegangen, genau wie er. Seit acht Jahren ist er Profi, strampelt sich jeden Tag stundenlang ab. „Vor mir war mein Vater Profi. Er war aber noch richtig bekannt.“

Ein Blick auf die karg besuchte Anlage von Oomiya, einem Vorort Tokios, offenbart ein akutes Nachwuchsproblem. Es sind fast ausschließlich Senioren, die mit Kleingeld ihr Glück versuchen. Wie der 81-jährige Nobuo Kurotobi, der seit 60 Jahren hierherkommt. Seine Liebe für den Sport ist fast so alt wie die Disziplin selbst.

Politische Idee mit klarem Ziel

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten US-Luftangriffe und zwei Atombomben fast keine Infrastruktur stehen gelassen. Bei der Frage, wie Japan wieder auf die Beine kommen könnte, kam Bürokraten der Regierung eine originelle Idee. „Keirin wurde 1948 erfunden, um durch Sportwetten Geld für den Wiederaufbau einzuspielen“, fasst Hideki Shibahashi die Story kurz.

Shibahashi arbeitet für das Wirtschaftsministerium, genauer gesagt für den nationalen Keirinverband, der diesem untersteht. „Man wusste damals schon, dass Menschen gern Geld verwetten. Und wenn das bekannt ist, warum es nicht nutzen?“ Da das Fahrrad am besten zur Lebensrealität im verarmten Japan passte, entwarfen die Beamten einen Bahnradsport. Ab 1948 bewarb das Wirtschaftsministerium den ersten Wettkampf im südwestjapanischen Kokura. Der Eintrittspreis von 100 Yen schien üppig, die Leute drängten trotzdem auf die Tribüne. Die Japaner wollte endlich wieder Spaß haben.

Nach dem ersten Rennevent wurden über vier Tage 20 Millionen Yen eingespielt, 1,2 Millionen davon erhielt die Stadt Kokura, um neue Straßen zu bauen. Binnen fünf Jahren entstanden 63 Rennbahnen. Über die Nachkriegsjahrzehnte, als sich als Ausnahmen vom in Japan sonst geltenden Glücksspielverbot auch Boots-, Motorrad- und Pferderennen als Wettdisziplinen etablierten, entwickelte sich Keirin zur beliebtesten dieser Sportarten.

Die Radbahn produzierte Berühmtheiten. Koichi Nakano zum Beispiel, der die Disziplin in den 1970er- und 1980er-Jahren dominierte und bei rund 1200 Starts über zehn Millionen US-Dollar einspielte. Als zehnmaliger Sprintweltmeister in Folge verhalf er Keirin zu weltweiter Bekanntheit. Für westliche Bahnradfahrer wurde Japan ob der Verdienstmöglichkeiten zur gelobten Radsportdestination.

Keirinfahrer nannte man die „Samurais auf dem Rad“. Denn wie Japans einstige Staatsdiener, dienten auch die Sportler ihrem Land. Seit 1948 hat Keirin mehr als 850 Milliarden Yen (rund 6,6 Mrd. Euro) zum japanischen Wohlfahrtsstaat beigesteuert. Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut, Straßen geteert und Brücken errichtet. Die heutigen Jahreseinnahmen sind zwar konstant, betragen aber nur noch ein Drittel des Höchstwertes von 1991. Heute interessieren sich die jungen Menschen für Fußball, Tennis und Baseball.

Einen Hoffnungsschimmer, neben der internationalen Beliebtheit des Sports, gibt es aber. 2012 wurde Frauenkeirin nach 48 Jahren wieder ins Programm aufgenommen, seither wirbt das Wirtschaftsministerium auf Sportanlagen im ganzen Land mit hübschen Athletinnen auf dem Rad. Es könnte der nächste geniale Zug der Beamten sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2015)

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