Auf den Spuren der Gräfin

Tennis - Women's Singles Gold Medal Match
Tennis - Women's Singles Gold Medal MatchREUTERS
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Vor fünf Jahren zweifelte Angelique Kerber (28) noch an der Fortsetzung ihrer Karriere. Ein Mail an ihr Idol Steffi Graf änderte alles.

Boris Becker, Michael Stich und natürlich Steffi Graf. Das deutsche Tennis ist unweigerlich mit diesen drei Namen verbunden. Sie schrieben Geschichte, gewannen die ganz großen Titel, begeisterten die Massen. Doch wo der Erfolg ist, dort steigen die Erwartungen. Als Becker, Stich und Graf nicht mehr aufschlugen, scheiterten zahllose begabte Nachahmer beim Versuch, in deren Fußstapfen zu treten. Spieler wie etwa Tommy Haas, ehemals die Nummer zwei der Welt, hatten zweifelsohne Potenzial, doch mitunter scheiterten sie am immensen öffentlichen Druck. Grand-Slam-Champions sind eben seltene Erscheinungen, sie lassen sich nicht auf dem Reißbrett entwerfen.

Im Jänner 2016, als niemand damit rechnete, hatte das lange Warten ein Ende. Erstmals seit Graf bei den French Open 1999 triumphierte mit Angelique Kerber wieder eine deutsche Spielerin auf Major-Ebene. Kerber hatte mit ihrem Endspielerfolg bei den Australian Open über die klar favorisierte US-Amerikanerin Serena Williams für die größte deutsche Tennissensation nach Boris Beckers Wimbledon-Sieg 1985 gesorgt. Über Nacht erwachte eine ganze Nation, die einst so verrückt nach der gelben Filzkugel war, aus ihrem 17-jährigen Dornröschenschlaf. Für den neuen Star hagelte es Glückwünsche aus der Heimat, auch von Angela Merkel. „Es war faszinierend, wie unerschrocken und nervenstark Sie sich im Finale gegen die wohl beste Spielerin der Welt durchgesetzt haben“, ließ die Kanzlerin wissen.

Durch diesen unerwarteten Coup stieß Kerber in völlig neue Sphären vor. „An diesem Abend ist mein Traum wahr geworden“, sagte die 28-Jährige, die trocken bemerkte: „Grand-Slam-Champion bleibe ich für den Rest meines Lebens.“ Einen nicht unbeträchtlichen Anteil an ihrem Aufstieg hat ausgerechnet das Idol ihrer Jugend, Steffi Graf. Im Frühjahr 2015 hatte Kerber der 22-fachen Grand-Slam-Siegerin, die das aktuelle Geschehen auch nach ihrer Karriere stets aufmerksam verfolgte, ein Mail geschrieben. „Steffi hat mir häufig gesagt, dass ich bei ihr immer willkommen bin. Dass sie mir helfen würde.“ Grafs Antwort folgte prompt, nur kurze Zeit später standen beide gemeinsam in Las Vegas, wo Graf mit ihrem Gatten Andre Agassi lebt, auf dem Platz. Acht Tage wurde trainiert, analysiert, über Details gesprochen. „Ich spürte, dass sie mir unglaublich viel geben kann“, sagte Kerber danach. „Sie hat meine Zweifel zerstreut.“


Am Scheideweg. Tatsächlich wurde sich die gebürtige Bremerin ihres Leistungsvermögens erst relativ spät bewusst. Im Sommer 2011 stand sie am Scheideweg ihrer Karriere, in Wimbledon hatte sie die bereits zehnte Auftaktniederlage in diesem Jahr kassiert. „Vor jedem Match sagte ich mir: Bitte nicht, bitte nicht noch einmal in der ersten Runde ausscheiden. Aber mit dieser Einstellung verlierst du natürlich erst recht.“ Die Linkshänderin hatte den Spaß am Spiel verloren, der Glaube an den Durchbruch wich Versagensängsten. „Ist Tennis noch das Richtige?“, fragte sich Kerber, die ernsthaft mit dem Gedanken spielte, den Schläger für immer in die Ecke zu stellen und eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zu machen. Sie tat es nicht, erfand sich stattdessen als Tennisspielerin neu. Kerber stellte Training und Spielweise um, verzichtete auf Süßigkeiten und suchte nun täglich den Weg in die Kraftkammer. „Ich sah Serena (Williams, Anm.) und andere Spielerinnen, die immer fitter und fitter wurden. Ich wusste, ich muss etwas machen.“ Heute zählt Kerber zu den fittesten Spielerinnen auf der Tour.

Der Triumphzug in Australien hat aus der Tochter polnischer Einwanderer eine neue Spielerin geformt. „Ich werde jetzt ganz anders wahrgenommen“, sagt sie und verspürt Anerkennung. „Es hat ein bisschen gedauert, aber die Leute zeigen jetzt auch, dass sie meine Leistung respektieren und schätzen. Ich habe mir das über die Jahre erarbeitet, jetzt genieße ich diese Situation.“

Die laufenden Saison hat sich zu einem packenden Zweikampf mit Serena Williams entwickelt. Für die Niederlage in Melbourne revanchierte sich die 34-Jährige mit einem Finalsieg in Wimbledon. Kerber verpasste die Möglichkeit, als erste Deutsche nach 20 Jahren (Graf) den Titel gewinnen zu können. „Obwohl ich verloren habe, hat mir dieses Match die Gewissheit gegeben, dass ich endgültig angekommen bin. Ich weiß, dass ich noch weitere Finale spielen kann, auch mit einem anderen Ausgang.“


Rütteln am Thron. Bei den am Montag beginnenden US Open in New York erwartet die Tenniswelt eine Fortsetzung dieses elektrisierenden Duells. Dabei steht nicht nur der letzte Grand-Slam-Titel des Jahres auf dem Spiel, auch der Tennis-Thron ist umkämpft. Noch hat Williams 190 Punkte Vorsprung auf Kerber, die allerdings die bessere Ausgangsposition im Big Apple hat. Kerber würde Williams nach den US Open überholen und als erste Deutsche seit Graf 1997 die Weltrangliste anführen, wenn ihre Konkurrentin das Halbfinale nicht erreicht. Sollte die 28-Jährige ihrerseits ins Viertelfinale kommen, müsste Williams schon das Endspiel erreichen, um ihre Spitzenposition zu verteidigen. Außenseiterchancen auf die Nummer eins haben auch die Spanierin Garbine Muguruza und Polens Agnieszka Radwańska.

Kerber hätte bereits vergangene Woche beim Turnier in Cincinnati an Williams vorbeiziehen können, verlor aber das Endspiel gegen die Tschechin Karolina Plíšková. In New York bietet sich eine neue Chance. „Ich funktioniere nicht, wenn ich mir zu hohe Erwartungen setze“, sagt Kerber. „Wenn es passiert, passiert es.“

Steckbrief

Angelique Kerber, in Bremen geboren und in Kiel aufgewachsen, kam durch ihre Eltern. zum Tennis. Vater Slawek trainierte sie, Mutter Beate ist bis heute ihre Managerin. Kerber lebt in Puszczykowo, Polen, wo ihr Großvater ein Tenniscenter besitzt, das er Angie nannte.

Bei den US Open kann Kerber die Spitzenposition in der Weltrangliste übernehmen, Serena Williams führt diese seit 183 Wochen an. Den Rekord hält Steffi Graf mit 186 Wochen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2016)

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