Geheimnis der goldenen Schiene

Andreas und Wolfgang Linger
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Österreichs Rodler haben sich in Sotschi den letzten Schliff geholt. Eine ganz besondere Saison vor allem für Andreas und Wolfgang Linger. Die Brüder träumen vom dritten Olympiagold in Serie.

Wenn am kommenden Wochenende die Olympiasaison für die Rennrodler beginnt, der Weltcup in Lillehammer eröffnet wird, dann setzt für ein österreichisches Duo ein ganz besonderer Countdown ein. Für ein Brüderpaar, das im Laufe der Jahre so ziemlich alles gewonnen hat, was es im Eiskanal zu gewinnen gibt. Sie waren Weltmeister, haben den Gesamtweltcup gewonnen – und sie haben bei Olympia bereits zweimal Gold geholt. Zunächst in Turin 2006, vier Jahre später in Vancouver. Im Februar in Sotschi könnte also Sporthistorisches passieren. Drei Olympiatitel in Serie, das haben bis jetzt die wenigsten geschafft. Egal, ob im Winter oder im Sommer.

Andreas und Wolfgang Linger sind das Paar, das es bei Olympia zu schlagen gilt. Die beiden haben da freilich etwas dagegen. „Im Grunde eine total lässige Situation“, sagt Andreas. „Aber der Zwang ist weg.“

Die Rodler wirken bereits auf den ersten Blick wie eine kleine Sportlerfamilie. Da werden Erfahrungen ausgetauscht, wenn es sein muss, Rennanzüge geborgt, es wird niemand hängen gelassen. Man kennt einander, schließlich kommen die meisten Rennrodler in Österreich aus Tirol. Besser gesagt aus dem Umfeld von Igls. Ohne Eiskanal gibt es kein munteres Rodeln.

Die relativ milden Temperaturen der vergangenen Tage haben der Bahn oberhalb von Innsbruck zugesetzt. Trainingsläufe waren zuletzt nur in den Morgenstunden möglich. Den letzten Schliff vor Lillehammer haben sich die Österreicher in Sotschi geholt. Training in der Olympiabahn als beste Vorbereitung. Auch in Sigulda hat man fleißig gepratzelt.


Rodeln, eine Wissenschaft. Wer zu den Besten im Eiskanal gehören will, der muss in erster Linie ein Tüftler sein. Ein innovativer Bastler, Techniker und Spitzensportler in Personalunion. Um nicht den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren, hat der Rodelverband Geld in die Hand genommen, um in Innsbruck eine sogenannte Werkstatt zu errichten. Es handelt sich dabei um ein Kompetenzzentrum für Schlittensport, gekostet hat die Halle rund 200.000 Euro. Gut investiertes Geld, wie Markus Prock, der Sportdirektor des Verbands und einstige ewige Rivale von Georg Hackl, meint. In diesen heiligen Rodelhallen findet sich alles, was man so braucht. Das reicht von einer Schlosserei bis zur Schleiferei. Manche Dinge bleiben ein kleines Geheimnis. Wie die sogenannten Schienen. „Eine Wissenschaft“, sagt René Friedl, seit 2005 Cheftrainer in Österreich. Der Mann aus Thüringen zeichnet also für die beiden Olympia-Triumphe der Linger-Brüder verantwortlich.

Der Rodelverband, der nicht gerade in Geld schwimmt, sondern sich jede Saison erneut gewaltig nach der Decke strecken muss, arbeitet äußerst effizient. Wenn das Eis in Igls davonrinnt, dann übersiedeln die Rodler schnell in ihren Trainingscontainer. Der steht neben dem Tivoli-Stadion, gleich neben den Büros des Skiverbands. Dort hat man schon vor zwanzig Jahren eine Startrampe gebastelt. Eine vereiste Startrampe, die heute noch ihren Zweck erfüllt. Auch dort geht es um Tausendstel. Wer am Start verliert, der hat meistens schon alles verspielt. Es sei denn, wie Andreas Linger sagt, „du holst dir die Zeit noch in der Bahn“. Das wiederum geht aber nur gut, wenn die Schiene passt. Die Schiene, das ist das knifflige, das entscheidende Element mit der Wissenschaft. Jeder Schlitten wird ganz individuell auf jeden Athleten zugeschnitten. Und dann stellt sich noch die Frage nach dem Bogen. Die Frage beantwortet die Bahn. Und dann kommt es noch auf die Verwindung des Schlittens an.


Ab in die Abfahrtshocke. Der Schlitten der Doppelsitzer wiegt 30 Kilogramm. Beim Lokalaugenschein in Igls bzw. Innsbruck kam der Chronist in den Genuss, dass ein zweimaliger Olympiasieger nicht nur als persönlicher Trainer fungierte, sondern auch die Rodel schleppte. In Igls fahren die Absamer Brüder Andreas und Wolfgang Linger längst blind. „Wie die Hocke beim Skifahren“, sagt René Friedl. Man kennt jeden Zentimeter der Bahn, die für die Winterspiele 1976 gebaut wurde. Die Bahn von den ersten Spielen 1964 existiert nicht mehr. „Ein paar Kurven stehen noch dort oben im Wald“, erzählt Markus Prock. Der Rest ist Vergangenheit, Geschichte. Es wächst Gras darüber.

Eine offizielle Funktion wollte der Tiroler beim Verband eigentlich nie annehmen. „Ich wollte helfen“, sagt er. Als Österreichs erfolgreichster Rodler, der bei Olympia zweimal Silber (1992 in Albertville, 1994 in Lillehammer) und einmal Bronze (Salt Lake City, 2002) gewonnen hat. Dazu kommen fünf WM-Goldmedaillen, drei EM-Titel, insgesamt zehn Gesamtweltcupsiege. Eine beachtliche Ausbeute für den „ewigen Zweiten“. Heute betreibt Prock eine Agentur, vermarktet wird beispielsweise Skisprungstar Gregor Schlierenzauer. Der Onkel schaut eben auf ihn.

Im Blickpunkt in Igls stehen vor allem die Lingers, wie Andreas und Wolfgang einfach genannt werden. Sotschi werden die vierten Winterspiele für die Tiroler. „2002 in Salt Lake City haben wir uns erst an das Gerät gewöhnt“, sagt Andreas. Damals wurde man Achter. Aber schon vier Jahre später eroberte man Gold. „Da waren wir siegfähig. Und das Reglement? An der Grenze des Erlaubten.“ Gewonnen hat man mit einer Schiene, die nur für bestimmte Rennen ausgepackt wird. Sonst liegt sie daheim, wird behütet wie ein Schatz. Sie wiegt 4,5 Kilogramm – „und ist jetzt schon relativ dünn“. Weil Schienen permanent bearbeitet werden müssen. „Die Schiene ist wie der Reifen für das Rennauto.“


Aberglaube der Zauberschiene. Die spezielle Schiene, die auch in Whistler Mountain 2010 zu Gold geführt hat, ist ein Unikat. Sie zu vervielfältigen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sie wurde vermessen, eingescannt – „du kannst sie nicht kopieren“, sagt Andreas Linger. Ob ein anderer Rodler damit auch gewinnen würde? „Nein, weil jeder seinen eigenen Fahrstil hat.“ Allein im Vorjahr haben die Lingers gleich sieben verschiedene Schienen getestet, drei sind übrig geblieben. Beim Weltcup in Sotschi vor einem Jahr hat man die Zauberschiene ausgepackt. „Aber nur für einen Lauf.“

In Verwendung ist das gute, fast schon heilige Stück seit gemeinsamen Junioren-Zeiten. Manche Dinge haben im Rennrodeln ewig Bestand. Dabei ist die Schiene keine Garantie für Edelmetall. „Wir haben es auch schon verbockt.“ Aber: „Irgendwie vertrauen wir ihr blind.“ Pause. „Ein Placeboeffekt.“ Aberglaube spielt offenbar auch beim Rodeln eine nicht unwesentliche Rolle. Weil der Glaube im Sport Berge versetzen kann.

Die Linger-Brüder – das ist eine Erfolgsgeschichte. Man kennt sich in- und auswendig, das ist Voraussetzung im Doppelsitzer-Bewerb. „Jeder hat seinen Part“, sagt Wolfgang Linger. „Ohne den einen ist der andere nichts.“ Erst das Zusammenspiel ergibt ein Ganzes. „Ich habe den direkten Kontakt zur Rodel. Da geht es um die Gewichtsverteilung.“ Nicht immer läuft alles harmonisch ab. „Es gibt auch Wickel.“ Nicht jeder Fehler kann vom Partner korrigiert werden. „Es braucht viele Gespräche. Und Selbstkritik. Das schweißt zusammen.“

Olympia, sagen beide, sei seit Monaten bereits allgegenwärtig. Die Vorfreude sei riesig, das Kribbeln sei spürbar. „Bei den Spielen werden wir die paar mehr Prozent aus uns herauskitzeln“, versprechen die Brüder. Reich haben sie die beiden Olympiasiege aber nicht gemacht. Ohne Bundesheer (Heeressportler) und Sporthilfe wäre das alles nicht denkbar. So richtig im Rampenlicht stehen die Rodler nur alle vier Jahre. Verdient hätten sie es sich jedoch viel öfter. Wer einmal versucht hat, durch den Eiskanal zu rutschen, der kann auch nur erahnen, was es heißt, um Tausendstel zu kämpfen. Der Laie, bewaffnet mit Spikeshandschuhen, scheitert nämlich schon beim Start.

Wie lange die Brüder Linger noch die Eiskanäle dieser Welt befahren werden, ist ungewiss. „Es kann sein“, sagen sie, „dass dies unsere letzte Saison wird.“ Denn irgendwann „ist es nicht mehr cool, wenn du das halbe Jahr nur unterwegs bist“. Und trainierst wie ein Berserker und Besessener. Für ein bisschen Anerkennung. Und Aufmerksamkeit. Für vier Läufe im Einzel an zwei Tagen. Und das oft nur alle vier Jahre. In Sotschi werden die Österreicher vor allem dem Doppelsitzer-Bewerb größte Aufmerksamkeit schenken. Für zwei Läufe an einem Tag. Für ein paar Sekunden und Tausendstel.

Die Linger-Fans werden daheim in Tirol feiern. Dort werden die Rennen – erstmals im Olympia-Programm befindet sich auch der Teambewerb – live auf einer riesigen Videowall übertragen. Die Reise nach Russland, zur Schwarzmeerküste, können die Rodelfans nicht finanzieren. Und ein Sponsor oder Gönner hat sich leider (noch) nicht gefunden. So bleiben die Lingers weiterhin Einzelkämpfer. Als Brüder. In der Rodelfamilie.

Brüder

Andreas Linger. Geboren am 31.5.1981 in Hall/Tirol. Familienstand: verheiratet mit Manuela. Größe: 184cm, Gewicht: 82kg.

Wolfgang Linger. Geboren am 4.11.1982 in Hall/Tirol. Familienstand: verheiratet mit Martha, Kinder Raphael und Niklas. Größe: 177cm, Gewicht: 75kg.

Größte Erfolge. Olympiasieger 2006 und 2010

Weltmeister 2003, 2011 und 2012

Gesamtweltcupsieger 2011/12

Europameister 2010

WM-Bronze Mannschaft 2003 und Doppel 2013

2. Platz Gesamtweltcup 2010/11

Zweimal EM-Silber 2008 (Doppelsitzer und Mannschaft)

Zweimal EM-Bronze 2004 (Doppelsitzer und Mannschaft)

8. Platz Olympische Winterspiele 2002

3. Platz Gesamtweltcup 2004/05, 2007/08, 2008/09

4. Platz Gesamtweltcup 2002/03, 2003/04

15 Weltcupsiege

Österreichischer Meister 2003 und 2011

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2013)

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