Evolution: Zurück zu den schmalen Brettln

(c) EPA (George Frey)
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Nach einer Verletzungswelle hat der Skiverband FIS vor vier Jahren das Materialreglement geändert. Zeit für eine erste Bilanz.

Ski fahren wie zu Hansi Hinterseers Zeiten – so lautete die Befürchtung, als der internationale Skiverband (FIS) vor dem Winter 2012/13 das Reglement der Rennski veränderte. Die Ski sind nun länger, die Taillierung geringer, der Radius größer. Besonders der Riesentorlaufski ist betroffen, diese Disziplin hat in absoluten Zahlen die meisten Verletzungen. Wenn die große Zahl an Richtungstoren und Trainingsläufen einbezogen wird, relativiert sich diese Zahl. Dennoch: Die Fliehkräfte sollten gebändigt und das Verletzungsrisiko verringert werden.

Erich Müller ist überzeugt, dass das mit der Materialreform gelungen ist. Der Sportwissenschaftler von der Universität Salzburg und sein Team haben vier Hotspots des Verletzungsrisikos ausgemacht: die Kurssetzung, die Schneebedingungen, die Kondition der Athleten und eben die Skikonstruktion – der am schwierigsten zu beeinflussende Faktor. Mit Rennläufern und in Abstimmung mit der Skiindustrie wurde an den Brettln getüftelt, die Empfehlungen der Salzburger Forscher schließlich von der FIS umgesetzt.


Keine Highsider mehr. Der Weltcup ist in den vierten Winter mit den neuen Latten gestartet, die Forscher ziehen eine erste Bilanz ihrer Arbeit. „Auf jeden Fall ein Erfolg“, sagt Müller. Alle Disziplinen zusammengenommen ergebe sich „eine signifikante Reduktion der Verletzungen“. Und nicht nur das: Es handle sich außerdem um eines der wenigen Beispiele, in denen Regeländerungen auf wissenschaftlicher Basis erfolgreich umgesetzt wurden.

Seit 2006 erfasst die FIS alle Verletzungen in einer Datenbank. Die Daten wurden ausgewertet, im Jänner werden die Ergebnisse im „British Journal of Sports Medicine“ publiziert. Die Wissenschaftler sprechen darin von einer geringeren Verletzungsrate in den drei Saisonen nach den Regeländerungen als in den sechs Jahren zuvor. In den betroffenen Disziplinen sei die Verletzungsrate um 24 Prozent gesunken.

Bei der Anzahl der Knieverletzungen, mit einem Anteil von knapp 40Prozent die mit Abstand größte Gruppe, konnten allerdings keine Veränderungen festgestellt werden. Auch beim Kreuzband im Speziellen haben die neuen Ski nichts bewirkt. Die Wissenschaftler verweisen auf die geringe Fallzahl, für konkrete Aussagen zu einzelnen Verletzungsmustern brauche es außerdem einen längeren Zeitraum. Knieverletzungen sind es auch, die die längsten Ausfälle nach sich ziehen. Die Zahl der Athleten, die über 28 Tage pausieren mussten, hat sich seit 2012 aber ebenfalls nicht verringert.

Toni Giger, einstiger ÖSV-Erfolgscoach und nun Leiter der Entwicklungs- und Forschungsabteilung im Skiverband, steht eine Verletzungsdatenbank zur Verfügung, die bis zur Saison 1995/96 zurückreicht. Der Längsschnitt zeigt, dass sich in einer Saison 15 Prozent der ÖSV-Läufer schwer verletzen, das heißt, mindestens fünf Wochen Trainingspause einlegen müssen. In den Jahren nach der Materialreform lag dieser Schnitt nur noch zwischen neun und 14 Prozent. „Der Trend ist ein positiver“, sagt Giger.

Früher habe das Material „viel mehr allein gemacht“, erzählt der Salzburger. Mit den neuen Ski sind beispielsweise die sogenannten Highsider, wenn der Athlet nicht von der Kante kommt und in die Luft geschleudert wird, beinahe ausgestorben. Die schmäleren Latten zeigen Wirkung.


Tendenz zum Slalom. Dass es bestimmte Rennläufer wegen der Materialumstellung nun schwerer hätten, möchte Giger so nicht gelten lassen. Anpassungsfähigkeit sei immer wichtig im Skisport. Tatsächlich tendiere der Riesentorlauf derzeit in Richtung Slalom. 40 Prozent der Podestfahrer im Riesentorlauf fahren nun auch im Slalom in die Top drei. Das sind mehr als zuvor, erklärt Giger. Dafür verantwortlich ist auch die engere Kurssetzung, mit der die Geschwindigkeit reduziert werden soll. Es sind also die Speed-Spezialisten, die es im Riesentorlauf wohl immer schwerer haben werden.

Vom Hinterseer-Stil kann jedenfalls definitiv keine Rede sein, mit freiem Auge sieht nur der Experte Unterschiede im Fahrstil. Giger stört auch nicht, dass Läufer und Serviceleute das Reglement ausreizen: „Wenn der Skiradius perfekt zum Schwung passt, hat der Athlet die maximale Kontrolle.“ Bei den leidigen Kreuzbandverletzungen habe sich aber nicht viel geändert: „Da braucht man sich nichts vormachen.“

Lazarett

808 Verletzungen hat der internationale Skiverband FIS im alpinen Weltcup in den vergangenen neun Saisonen (2006-2015) registriert.
48 Prozent
davon ereigneten sich im Training.

39 Prozent aller Verletzungen im Weltcup betrafen das Knie. Damit kommen Knieverletzungen vor den Hand- und Rückenverletzungen (je zehn Prozent) mit Abstand am häufigsten vor.

309 der 808 Läsionen (38 Prozent) waren so schwer, dass der Athlet länger als 28 Tage weder an Wettkämpfen teilnehmennoch trainieren konnte.

184 dieser schweren Verletzungen (60 Prozent) betrafen das Knie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2015)

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