Die 64. Vierschanzentournee weckt Hoffnungen und Wünsche, wird einen neuen Sieger finden und Österreichs Serie beenden. Prevc und Freund als Favoriten, Hayböck als Underdog.
Olympia, Fußball-WM und -Euro, Formel 1 in Monte Carlo, 24 Stunden von Le Mans, Kitzbühel-Abfahrt, Wimbledon, Roland Garros – Sportklassiker sind das Salz in der Suppe. Und dazu gehört auch die Vierschanzentournee der Skispringer. Vier Bewerbe binnen weniger Tage, begleitet vom großen Mythos ihrer Geschichte, gefüllt mit Zielen, Wünschen, unerfüllten Träumen, begeisterten Fans – und veränderten Vorzeichen. Oberstdorf (29. Dezember), Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck (3. Jänner) und das Finale am Dreikönigstag in Bischofshofen werden Millionen vor den Fernsehern und Abertausende neben den Schanzen begeistern. Dass weit und breit kein Schnee in Sicht ist, bleibt vorerst eine Randnotiz.
Wenn also die 64. Auflage dieses Klassikers am Dienstag in Oberstdorf (17.15 Uhr, ORF1) anheben wird, sind nicht die ÖSV-Adler die Favoriten, sondern ganz andere. Severin Freund will endlich den Durchbruch schaffen und Deutschlands ersten Sieg seit Sven Hannawald 2002 landen. Oder Peter Prevc, der schon im Vorjahr knapp vor dem Triumph stand und sich nur Stefan Kraft geschlagen geben musste. Der Slowene hat nun drei überragende Saisonsiege zu Buche stehen und träumt von Erfolgen bei der großen Tournee. Vielleicht mit Bruder Domen, 16, gewiss allein. Der 23-Jährige kann jedenfalls als erster Slowene nach Primosz Peterka (1997) die Tournee gewinnen.
Eine Fortsetzung der seit 2009 anhaltenden ÖSV-Siegesserie erscheint trotz aller Durchhalteparolen mehr als nur illusorisch. Der Einzige, der tatsächlich Chancen hat, ist der Oberösterreicher Michael Hayböck. Er war in Nischni Tagil und Engelberg jeweils Zweiter und sagt: „Es war viel harte Arbeit dabei und es war nicht einfach, die Form zu finden. Aber jetzt sollte die Formkurve Richtung Tournee stimmen.“ Doch auf Prevc und Freund, auch auf manchen Norweger, fehlen ihm mehrere Meter.
Der Computer kürt den Sieger
Vorjahressieger Stefan Kraft, Gregor Schlierenzauer, Manuel Fettner oder Manuel Poppinger sind zu weit vom Spitzenfeld entfernt, um entscheidende Akzente setzen zu können. Mit Andreas Kolfer oder Thomas Diethart fehlen gleich zwei ehemalige Sieger im Aufgebot und das ist mehr als nur ein Indiz dafür, dass es im Adlerteam keineswegs wie propagiert nach Wunsch läuft. Es fehlen offenbar die Reize, neue Ideen. Mancher Servicemann einer anderen Nation munkelt sogar, dass im stets alles entscheidenden Materialsektor ein großes Loch klaffe. Sprich: Der Anzug sitzt nicht richtig und jeder Millimeter kostet in dieser filigranen Sportart bereits wichtige Meter.
Andere, etwa das Team Norwegen, betreut vom Tiroler Alexander Stöckl, haben das neue Reglement tüchtig ausgereizt und das Offensichtliche probiert: Sieben Disqualifikationen in Lillehammer können gewiss nur einem Zweck gedient haben. Wer naiv ist, wundert sich. Wer das Treiben durchschaut, sieht die Tendenz: Der durch Anlauf- und Windregel endgültig unverständlich gewordene Sport legt noch mehr Wert auf Hightech, Aerodynamik, Kraft – und das Material erhält fürwahr noch mehr tragende Rollen.
Und wieder: Das liebe Geld
Auch abseits des Schanzentisches herrscht keineswegs Eintracht in der Szene. Einmal geht es ums liebe Geld. Wenige Tage nach der Tournee der Skispringer starten die Langläufer ihre Tour de Ski. Zwar sind auch sie nicht mehr auf Rosen gebettet, doch 600.000 Euro Preisgeld lassen die Skispringer mit 20.000 Franken (ca. 18.000 Euro; Tagessieg: 9000 Euro) und einem Goldadler für den Gesamtsieger eher bescheiden aussehen.
Der Vergleich wurmt die Szene. Vor allem, weil 40 Millionen TV-Zuseher 2014/2015 ermittelt wurden, im ORF freute man sich über ein Hoch mit 5,57 Millionen Skisprung-Zuschauern. Vermarkter wie Infront und Sponsoren preisen Werbezeiten und Marktwert. Die Sportart aber, mit der Tournee als Prunkstück, rückt zusehends in den Hintergrund.
Umso mehr imponiert es, wenn einer der ÖSV-Adler im Hotel Oberstdorf bei der Teampräsentation offen zugibt, „nicht für Geld zu springen“, sondern für den Spaß, die Ehre, das Prestige. Hayböcks Worte klangen wohlüberlegt, sie waren aber keiner PR-Agentur, sondern seinen eigenen Vorstellungen entsprungen. Das Mundwerk eines Siegers hätte er . . .
Die vier Stationen
Oberstdorf (29. Dezember, 17.15 Uhr). Garmisch-Partenkirchen (1. Jänner 2016, 14 Uhr). Innsbruck (3. Jänner, 14 Uhr). Bischofshofen (6. Jänner, 17 Uhr). Live ORF1, Eurosport.
Die meisten Gesamtsiege5 Janne Ahonen (FIN)
4 Jens Weißflog (DDR/GER)
3 Helmut Recknagel (DDR), Björn Wirkola (NOR).
2Schlierenzauer, Goldberger, Vettori, Neuper, Nykänen (FIN).
Die meisten Tagessiege10 Björn Wirkola (NOR), Jens Weißflog (DDR/GER)
9 Janne Ahonen (FIN), Gregor Schlierenzauer
Österreichs Sieger1954: Sepp Bradl. 1975: Willi Pürstl. 1980, 1981: Hubert Neuper. 1986, 1987: Ernst Vettori. 1993, 1995: Andreas Goldberger. 2000: Andreas Widhölzl. 2009: Wolfgang Loitzl. 2010: Andreas Kofler. 2011: Thomas Morgenstern. 2012; 2013: Gregor Schlierenzauer. 2014: Thomas Diethart. 2015: Stefan Kraft
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2015)