Hirscher – das „verwöhnte Kind“ hegt laute Zweifel

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Marcel Hirscher sieht sich vor dem Nachtslalom in Schladming am Dienstag im Kampf um den Gesamtweltcup in der Außenseiterrolle.

Kitzbühel/Schladming. Geborene Sieger tun sich schwer mit zweiten Plätzen. Solche sind gefühlte Niederlagen, das Streben nach Höherem will immer befriedigt werden. So musste etwa Hermann Maier erst lernen, zweite und dritte Plätze als Erfolg zu werten, der Sturz von Nagano (1998) und der Motorradunfall (2001) hatten viel zur späteren Selbstzufriedenheit beigetragen. Auch Marcel Hirscher ist so ein geborener Sieger. Der viermalige Gesamtweltcup-Triumphator zählt 36 Siege, in der Vorsaison gewann er erstmals drei Kristallkugeln (Gesamt-, Riesentorlauf- und Slalomweltcup). Hirscher dominierte nach Belieben – er war es, der in den technischen Disziplinen über Sieg und „Niederlage“ entschied.

Henrik Kristoffersen war schon in der Vergangenheit auffällig geworden. Ein junger Norweger mit flinken Beinen und einer imposanten Unbekümmertheit, der im Juniorenbereich alles in Grund und Boden fuhr. Auf der großen Weltcup-Bühne hatte Kristoffersen erstmals vor zwei Jahren für Aufsehen gesorgt, als er 19-jährig den Nachtslalom in Schladming gewann. Fortan hatte die Konkurrenz Kristoffersen im Visier, verfolgte seine Entwicklung aufmerksam.

Mittlerweile hat der schlaksige Stangenakrobat aus der 35.000-Einwohner-Stadt Lørenskog bei Oslo alle überholt, niemand fährt einen schnelleren Schwung. Auch Hirscher nicht, der vermehrt mit zweiten Plätzen Vorlieb nehmen musste. Der Salzburger sieht sich diesen Winter mit einer neuen Situation konfrontiert, die Ausbeute von einem Slalomsieg in sechs Rennen ist nicht zufriedenstellend. Nach dem Rennen in Kitzbühel, das abermals Kristoffersen an der Spitze sah, sagte er: „Ich bin ein verwöhntes Kind, was Erfolge betrifft. Man fängt an nachzudenken, zu grübeln, warum es nicht so läuft.“

Wenn Nuancen entscheiden

Ein Vergleich zwischen Hirscher und Kristoffersen ist durchaus zulässig. Auch der fünf Jahre ältere Atomic-Star war einst aus der Masse emporgeschossen, hatte die Skiwelt mit Schwüngen und Siegen verzaubert. „Im Nachhinein weiß ich erst, was das geheißen hat, damals so runterzufahren und so schnell zu sein“, meinte Hirscher in Kitzbühel. Nun schlüpfte ein Skandinavier mit lausbübischem Grinsen in diese Rolle, er ist das Nonplusultra, das sieht auch Hirscher so. „Er ist so solide und so stark. Da hast du das Vermögen, wenn du so in deiner Topform bist, dass du den Ofen richtig aufdrehst.“

Der Ofen des Kraftpakets aus Annaberg läuft verglichen dazu nicht immer auf Hochtouren. Es sind einzelne Passagen, in denen Hirscher entscheidende Hundertstelsekunden einbüßt, in Kitzbühel fehlten am Ende deren drei, obwohl der Norweger in Lauf eins ordentlich patzte. Der ÖSV-Star weiß um das Ende seiner Dominanz, doch der Status quo treibt ihn an. Er behauptet: „Wenn ich meinen besten Slalomschwung fahre, kann ich Henrik einholen. Aber das gelingt mir momentan nicht. Es war schon einmal anders, da gab es kein Zurückstecken.“

Die Kompromisslosigkeit seines Widersachers imponiert, doch wenn Hirscher davon spricht, dass Kristoffersen nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Aksel Lund Svindal nun der Favorit auf den Gewinn des Gesamtweltcups sei, dann stapelt er ausgesprochen tief. „Henrik ist am Höhepunkt seiner Karriere und im Moment nahezu unschlagbar. Er kann sechs, sieben oder sogar neun Rennen gewinnen, er ist der Top-Favorit. Wenn er es weiter so durchzieht, haben wir keine Chance. Ich meine das nicht lustig, sondern sehe es realistisch.“

Wer fährt was?

Nach 23 von 44 Bewerben hat Hirscher 118 Punkte Vorsprung auf Kristoffersen, 100 Punkte davon trug der Super-G-Sieg in Beaver Creek bei. Der Norweger wagte sich bislang nicht auf Speedstrecken, dies könnte sich angesichts des Zweikampfes um die große Kristallkugel aber bald ändern. Von nun an geht es also auch um taktische Finesse, weswegen Hirscher mit einem nächstwöchigen Trip nach Südkorea liebäugelt.

Denn auf den Olympiapisten von 2018 geht am 6. Februar in Jeongseon eine Abfahrt über die Bühne, tags darauf findet ein Super-G statt. Die Strecken sind für alle Neuland. „Wir sind am Überlegen. Je nachdem, wie viel Kraft die Woche jetzt kostet“, erklärt der 26-Jährige, dessen Konzentration zunächst dem Nachtslalom in Schladming am Dienstag (17.45, 20.45 Uhr, live in ORF eins) gilt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2016)

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