Skispringen: Höchststrafe für ein simples Vergehen

Morgenstern
Morgenstern(c) REUTERS (ISSEI KATO)
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Thomas Morgenstern im Unglück: Einem Sieg folgte am Sonntag eine Disqualifikation - er hatte die Anzugsschlaufen zu früh geöffnet. Es profitieren der Japaner Noriaki Kasai und Martin Koch.

SAPPORO. „Geh bitte. Muss das sein? Sepp, bitte – ich habe doch nichts getan!“ – Thomas Morgenstern ist verzweifelt und versucht mit weinerlicher Stimme das drohende Unheil noch abzuwenden. Doch Sepp Gratzer, der 54-jährige Equipment-Kontrolleur des Internationalen Skiverbandes FIS, kennt mit seinem Kärntner Landsmann auch im weit entfernten Sapporo kein Erbarmen. Er muss den Skispringer der Jury melden, das verlangt die Regel.

Morgenstern steht mit halb geöffnetem Anzug, dessen Schlaufen er vor Freude nach einem gelungenen Sprung schon vor dem Ausgang des Auslaufs von den Schuhen gelöst hatte, vor Gratzer und bittet noch einmal um Nachsicht. Vergebens. Gratzer, der seit über drei Jahrzehnten im Skisprungzirkus unterwegs ist, dreht sich um, funkt zu Renndirektor Walter Hofer und wenig später rauscht der Jury-Entscheid durch das Funkgerät. „Morgenstern ist disqualifiziert.“

Zorn und Tränen

Davon profitieren der Japaner Noriaki Kasai und Martin Koch, die hinter dem Schweizer Simon Ammann auf den Plätzen landen. Koch, auch Kärntner, hat zwar „Mitleid“ mit seinem Teamkollegen, aber was „soll ich denn tun? Und, der dritte Platz taugt mir schon sehr.“

Morgenstern ist derweil vollkommen fassungslos. Vor Wut will der 23-Jährige seinen Helm trotzig in den Schnee donnern, aus Verzweiflung über den verlorenen zweiten Platz kullern Tränen über die Wangen. Morgenstern schimpft in seine vorgehaltenen Hände und ärgert sich. Er habe doch Ammann nur zum Sieg gratulieren wollen, deshalb habe er im Auslauf gewartet. Es sollte ein Handschlag sein, eine Gratulation wie sie unter fairen Sportlern üblich ist. In der Euphorie aber hatte Morgenstern zuvor die Anzugsschlaufen vom Schuh gelöst.

Nachdem seine Wut verraucht und der Verlust des Preisgeldes in Höhe von 5220Euro verdaut war, war er sich seines Fehlers bewusst. Eine Dummheit, eine durchwegs lächerliche Aktion. Auch, weil er doch noch als 30. gewertet wird. Der Sprung aus dem ersten Durchgang zählt. Später sagt er kleinlaut: „Ich bin selbst schuld.“

Dieser Vorfall wirkt aber für den Profisport Skispringen doch etwas kleinlich. Aus sportlicher Sicht hatte Morgenstern alles richtig gemacht, keinen Verstoß begangen. Es erinnert an die Disqualifikation von Hermann Maier in Val d'Isère 1997, als der Skistar seinen Sieg im Zielraum feierte und sich dabei vor der roten Linie elegant eines Skis befreite. Ein Jubel mit Folgen.

Die Empörung über die FIS war damals enorm, weil das Strafmaß angesichts der Tat in keinerlei Verhältnis stand. Auch Morgenstern fühlt sich tief in seinem Innersten ungerecht behandelt, aber ÖSV-Trainer Marc Nölke – der Deutsche vertritt Alexander Pointner in Sapporo – bestätigte die Härte der Regel, die das Vergehen sogar als „Manipulation am Anzug“ deklariert. „Das ist halt so, es wurde von allen – außer uns – beschlossen und jetzt eben exekutiert.“

Von allen, damit meint Nölke nicht weltfremde Funktionäre, sondern seine Trainerkollegen. Bei einem Meeting in Engelberg im vergangenen Dezember wurde just dieses Thema behandelt. Einstimmig wurde damals beschlossen, Ordnung müsse sein, und die FIS möge säumige Athleten nicht mehr abwarnen, sondern bestrafen. Nur der ÖSV enthielt sich damals der Stimme. Morgenstern ist somit das erste Opfer einer seltenen, seltsamen Einigkeit der Teams.




Ergebnisse: 1. Ammann (SUI) 293,1 (139,5/135,0) 2. Kasai (JPN) 255,7 (131,0/123,0) 3. Koch (AUT) 255,4 (136,0/119,5) 4. Hajek (CZE) 231,0 (127,5/115,0) 5. Wank (GER) 230,5 (126,5/116,0) 6. Ito (JPN) 222,2 (118,5/120,5) 7. Neumayer (GER) 220,2 (124,5/114,5) 8. Thurnbichler (AUT) 218,2 (124,0/112,5) 9. Zauner (AUT) 218,1 (123,0/114,0) 10. Takeuchi (JPN) 216,8 (117,0/ 119,0).

Weltcup: 1. Ammann (SUI) 939 2. Schlierenzauer (AUT) 796 3. Kofler (AUT) 587 4. Morgenstern (AUT) 579 5. Loitzl (AUT) 483 6. Koch (AUT) 408.

AUF EINEN BLICK

Fehlgriff. Ein kleiner Handgriff kostete Thomas Morgenstern am Sonntag beim zweiten Weltcupbewerb in Sapporo einen neuerlichen Podestplatz. Der Doppelolympiasieger öffnete noch im Auslauf seinen Anzug am Hosenbein, was seit Kurzem strenger kontrolliert wird. „Ich habe an Hermann Maier denken müssen. Das ist sehr bitter für mich“, war Morgenstern enttäuscht. Maier war im Dezember 1997 in Val d'Isère ebenfalls wegen einer Formalität disqualifiziert worden, weil er einen Ski schon vor der „roten Linie“ abgeschnallt hatte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2010)

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