Internetsucht: Wahrscheinlich abhängig?

Internetsucht Wahrscheinlich abhaengig
Internetsucht Wahrscheinlich abhaengig(c) Dapd (Nigel Treblin)
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Hunderttausende Internetnutzer haben offenbar Entzugserscheinungen, wenn sie längere Zeit offline sind. Diagnose und Definition sind umstritten, Forscher ringen noch nach einer Definition der Internetsucht.

Wahrscheinlich abhängig“, attestiert eine Studie rund 560.000 Internetnutzern in Deutschland. Diagnose und Definition der Internetsucht sind unter Medizinern umstritten, dennoch scheint die Gesellschaft zunehmend Angst vor einer neuen Krankheit zu haben. Kann man nach einem Medium überhaupt süchtig werden? Schließlich scheint das Angebot im Internet in seiner Breite beinahe grenzenlos zu sein. Und genau hier dürfte das Problem liegen. „Das Internet wird nie fad“, sagt der Psychiater und Suchtspezialist Hubert Poppe im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Das Internet biete eben genug Alternativen, genug Möglichkeiten, seine Freizeit zu gestalten, und für einige Nutzer dürfte es nach einiger Zeit schwer werden, wieder in die reale Welt zurückzukehren. Dieser Prozess dauert etwa sechs bis zwölf Monate, bei jungen Menschen manchmal auch Jahre, erklärt Poppe. Was Voraussetzungen und Auslöser für eine Internetsucht sind, sei sehr schwer zu erklären. Das gelte auch für Süchte, an denen schon wesentlich länger geforscht wird, wie etwa an der Alkoholsucht. Die Definition der Internetabhängigkeit ist unter Forschern noch stark umstritten, weshalb auch der Autor der deutschen Studie lieber von „wahrscheinlich Abhängigen“ spricht.


Das virtuelle Glück. Die Auswirkungen aber sind ähnlich wie bei anderen Verhaltenssüchten. Das Internet wird zum Lebensmittelpunkt, Betroffene verlieren die Kontrolle über das richtige Maß und beginnen an selbst gesetzten Grenzen zu scheitern. Leistungsverlust und Beziehungsprobleme nennt Poppe als Folge. Das treffe natürlich nicht auf jeden zu, der ungewöhnlich viel Zeit im Internet zubringt. Manchmal ist aber die Grenze schwer zu ziehen, da ein erfülltes Zweitleben in der virtuellen Welt offenbar glücklich macht. „Bei Abhängigkeiten geht es immer um dopaminäre Prozesse“, erklärt Poppe. Und Dopamin, vulgo „Glückshormon“, sorgt für ein positives Gefühl.

„Papa, dein Handy macht aua.“ Digitaltherapeutin Anitra Eggler geht sogar so weit zu sagen, dass bei dem Empfang von E-Mails Dopamin ausgeschüttet wird und diese Form der Ablenkung abhängig macht. Poppe hält eine reine E-Mail-Sucht zwar für sehr selten, die ersten Symptome aber dürften vielen geläufig sein: wiederholtes Klicken auf „Posteingang“, um zu sehen, ob ein neues E-Mail da ist und E-Mails ohne Zeitverzögerung am Smartphone zu jeder Tageszeit. „Wir widmen dem Handy mehr Aufmerksamkeit als unseren Kindern“, erzählt Eggler, die vor eineinhalb Jahren „den Stecker gezogen hat“. Auslöser war ein Erlebnis eines Arbeitskollegen, der mit seinem Sohn auf dem Spielplatz war. Während er das Kind auf der Schaukel antauchte, las er nebenbei seine E-Mails auf einem Blackberry. Eine Nachricht war offenbar so aufregend, dass er seinem Sohn einen zu heftigen Schubs gab. Die Reaktion: „Papa, dein Handy macht aua.“ Um die E-Mail-Abhängigkeit zu durchbrechen, empfiehlt Eggler, den Tag offline zu starten und sich drei fixe Zeitpunkte am Tag auszusuchen, zu denen E-Mails abgerufen werden. Auch Poppe setzt in der Therapie auf Einschränkung statt Abstinenz. Bei einer Sucht nach Social Networks wie Facebook empfiehlt er eine Reduktion der Online-Stunden und bei Spielern einen kompletten onlinefreien Tag. Besonders wichtig sei es, ein Ersatzprogramm zu planen und so einen Ausgleich in die Freizeitgestaltung zu bringen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2011)

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