Musikwissenschaft: Bruckner, krankhaft und verderblich?

Benjamin Korstvedt spricht über die Musikkritik im „Fin de Siècle“.

„Bruckner componiert wie ein Betrunkener“ (Gustav Doempke, Wr. Allgemeine Zeitung); „Ich bekenne unumwunden, dass ich über Bruckner's Symphonie kaum ganz gerecht urtheilen könnte, so antipathisch berührt mich diese Musik, so unnatürlich aufgeblasen, krankhaft und verderblich erscheint sie mir“ (Eduard Hanslick, „Neue Freie Presse“); „Die neueste Symphonie ist von einer Macht der Empfindung, wie sie nur den grössten unserer deutschen Tondichter nachgerühmt werden kann“ („Neues Wiener Tagblatt“). Das sind nur einige der Kritiken, die 1886 anlässlich der Wiener Erstaufführung von Bruckners 7. Sinfonie erschienen sind.

Dass sie in ihren Wertungen so unterschiedlich ausfallen, ist nicht weiter bemerkenswert. Was den Musikwissenschaftler Benjamin Korstvedt (Clark University, Massachusetts und derzeit Senior Fellow am IFK) hingegen sehr interessiert: „Einerseits, dass die Zitate – also auch die negativen – von einem Werbeblatt der Musikalienhandlung Gutmann, Bruckners Verleger, stammen. Die Werbung wurde sogar in der ,Neuen Freien Presse‘ geschaltet – auch negative Kritik wurde offenbar als nützlich angesehen.“

Andererseits beeindruckt ihn die extreme Rhetorik der Kritiker. „Heute würde niemand so emotional schreiben. Die Frage ist: Wieso wurde Musik von manchen als so bedrohlich empfunden?“

Liberaler Brahms, reaktionärer Wagner

In seinem (englischsprachigen) Vortrag „Reading music criticism beyond the ,fin-de-siècle Vienna‘ paradigm“ (heute, Mo, 18h c.t., IFK, 1, Reichsratsstraße 17)wird Korstvedt den Gründen dafür nachgehen. Mit einer gängigen Deutungsvariante will er jedenfalls aufräumen: Dem Fin-de-siècle-Paradigma. Dieses besagt, dass sich Krise und Kollaps des Liberalismus schon in verschiedenen kulturellen Strömungen in Wien manifestiert haben. Umgelegt auf das Musikleben: Dass die vehementen Auseinandersetzungen in diesem Bereich das Ende des Liberalismus schon ahnen ließen. „Brahms Musik wird etwa mit einer liberalen Weltanschauung assoziiert, die sich durch Vernunft auszeichnet. Als reaktionär wird hingegen der Kult um das Metaphysische bezeichnet, der bei Wagner oder Bruckner zu finden ist.“

Fachkundig, trotzdem sehr subjektiv

Korstvedt findet es zu einfach, politische und kulturelle Entwicklungen so zu verknüpfen: „Die Musik wird dadurch zu einem bloßen Stellvertreter für andere Konflikte. Ich möchte die Kritiken neu lesen und daraus Rückschlüsse auf das damalige kulturelle Selbstverständnis ziehen. Meine These ist: Je radikaler die Rhetorik, desto leichter lassen sich unausgesprochene Annahmen zwischen Publikum und Kritiker erschließen.“

Die Schärfe mancher Kritiken führe dazu, dass sie heute von Wissenschaftlern nicht ernst genommen würden. „Sie sagen meist: Der Kritiker hat die Musik nicht verstanden. Das glaube ich nicht. Die meisten Kritiker waren musikalisch sehr gebildet, Eduard Hanslick war etwa Universitätsprofessor. Die Rezensionen gehen oft sehr detailliert auf die Partitur ein – und sind trotzdem sehr subjektiv. 1886 schrieb etwa Hugo Wolf über Brahms IV. Symphonie: ,Die Kunst, ohne Einfälle zu componieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden.‘ Diese negative Beurteilung hängt damit zusammen, dass Brahms eine schöne, vollendete Symphonie mit wenigen musikalischen Motiven schaffen konnte. Das war neu und wirkte beängstigend.“ tom

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2007)

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