Globalisierung: Baywatch versus Kamasutra

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Die Bilderwelt auf modernen indischen Tempeln ähnelt zwar jener von alten Tempeln, die Formensprache nähert sich aber einer westlichen an.

Darstellungen von Frau und Mann beim Geschlechtsakt finden sich auf vielen Tempeln in Indien. Die Kunsthistorikerin Verena Widorn war aber überrascht, als sie die Reliefs am Tempel in Batseri, einem Dorf im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh, genauer betrachtete. „Es hat mich wirklich an Baywatch erinnert“, erzählt sie. Die aus Holz geschnitzten Figuren über dem Sockel des Tempels sehen in ihren Augen überhaupt nicht wie die typisch indischen Darstellungen aus.

Der Tempel war erst vor zehn Jahren an Stelle des alten, durch Blitzschlag zerstörten Tempels erbaut worden. Widorn fand heraus, dass die US-Serie „Baywatch“ in Indien tatsächlich eine der erfolgreichsten Fernsehsendungen der letzten Jahre war. War Pamela Anderson die Muse des Tempel-Künstlers? An einen so unmittelbaren Einfluss glaubt Widorn zwar nicht: „Aber man sieht, dass der Westen Einzug hält.“

Woran erkennt Widorn diese Einflüsse? Der der hinduistischen Gottheit Vishnu geweihte Tempel ist in traditioneller Bauweise aus Holz und Stein errichtet, das Giebel- und Pagodendach gleicht dem des alten Gebäudes. Der Eingangsbereich ist aus Holz, die Schnitzereien zeigen Figuren, Ornamente und kleine Episoden aus dem hinduistischen Pantheon und indischen Heldenepen. In fantasievoll verzierten Nischen befinden sich die Büsten von hinduistischen Heiligen und Gottheiten, aber auch eine Buddhafigur. Knapp über dem Steinsockel verläuft um den Eingangsbereich ein Fries mit schmalen, rechteckigen Reliefs. Zu sehen sind erotische Szenen, von zärtlichen Liebkosungen über leidenschaftliche Umarmungen bis zu akrobatischen Stellungen.

Gleicher Kanon, andere Formen

Für die Kennerin indischer Kunst waren es aber nicht die pikanten Inhalte – erotische Darstellungen, die mit unseren Moralvorstellungen kaum zu vereinbaren wären, an sakralen Monumenten haben in Indien eine lange Tradition. Es war die Ausführung, die Widorns Aufmerksamkeit erregte.

Sie vergleicht die Figuren am Tempel von Batseri mit den bekanntesten (und ältesten) Beispielen erotischer Kunst an der Tempelgruppe von Khajuraho im Bundesstaat Madhya Pradesh. Diese Anlage wurde in der Zeit von 950 bis 1050n.Chr. aus Sandstein errichtet, bis ins zwölfte Jahrhundert benutzt und erst vor 100 Jahren wiederentdeckt und freigelegt. Die Reliefs an diesen Tempeln sind berühmt und haben der Region einen beispiellosen touristischen Aufschwung beschert. Tausende Skulpturen zieren die Wände, Abbilder der hinduistischen Götterwelt, Fabelwesen, Schlacht-, Tanz- und Alltagsszenen, zahlreiche Tierdarstellungen und eben jene mehr ein- als zweideutigen Episoden. Spärlich bekleidete Frauenfiguren bei der Morgentoilette, Paare in zärtlicher Umarmung oder direkt beim Geschlechtsakt. Die Vielzahl der Posen und Stellungen geht aber nicht nur auf den Einfallsreichtum der Künstler zurück, sondern folgt den Regeln und Richtlinien des Kamasutra.

„Der Kodex zum richtigen Umgang für eine erotisch-sexuelle, aber auch ethische Lebenskunst wurde vor zirka 2000 Jahren verfasst“, erklärt Widorn. „Da die theoretische Schrift im Laufe der Jahrhunderte zur besseren Verbreitung mit entsprechendem Anschauungsmaterial illustriert wurde und heutzutage die Bilder im Vordergrund der meisten Kamasutra-Publikationen stehen, wurde das Werk von der westlichen Welt eher als schlüpfrige Anleitung für exotische Sexualpraktiken missverstanden.“

Tausend Jahre später

Wie lassen sich nun die Szenen von Batseri mit jenen von Khajuraho vergleichen? Immerhin liegen 1000 Jahre zwischen der Errichtung der beiden Anlagen, und sie sind aus verschiedenen Materialen gebaut: Holz und Sandstein. Rein inhaltlich gibt es in Batseri viele Entsprechungen mit den Darstellungen in Khajuraho. So findet man die Frau, die ein Bein anwinkelt, um die Fußsohlen mit Henna zu färben, auch eng umschlungene Liebespärchen sieht man an beiden Tempelwänden.

Aber die Unterschiede sind frappant. Die weiblichen Figuren in Khajuraho sind reich geschmückt mit Ohrringen, Ketten, Arm- und Fußreifen, Ringen und Gürteln. Die Gesichter sind scharf geschnitten, die Augen durch lange, mandelförmige Schlitze unter gewölbten Augenbrauen hervorgehoben. Die Bewegungen der Figuren sind elegant, sie vermitteln Anmut und Grazie – auch wenn manche Haltungen noch so verdreht scheinen. Die Figuren in Batseri wirken dagegen gewöhnlicher, sie sind im Allgemeinen unbekleidet und ungeschmückt. „Die lasziven Posen, die nach hinten geworfenen Haare, die überstreckten Rücken, die weit nach vorne gestreckten Brüste, all das erinnert stark an die werbewirksamen Auftritte der Badenixen in „Baywatch“, meint Widorn. Ein Einfluss der Fernsehserie auf das Frauenbild in Indien ist durchaus denkbar, war sie doch bald nach ihrer Erstausstrahlung 1996 die erfolgreichste Serie in Indien.

Werbewirkung erhofft

Werbewirksamkeit erhoffen sich die Bewohner von Batseri auch von ihrem neuen Tempel, die erotischen Szenen sollen viele Besucher anlocken. Das wird sich herumsprechen. Die Entwicklung wird von Widorn mit Skepsis betrachtet: „Obwohl jedes Dorf im Besitz eines gut erhaltenen, oft mehrere Jahrhunderte alten Heiligtums ist, scheint eine Tendenz zu einer ,Restaurierung‘, Erneuerung, teilweise völligen Neugestaltung dieser wertvollen Holztempel zu existieren. Man kann nicht ausschließen, dass man in Zukunft ähnlichen Figuren an anderen, neu gestalteten Bauwerken begegnet.“

AUF EINEN BLICK

Erotische Darstellungen haben auf indischen Tempeln lange Tradition: Sie sind Illustrationen des Kamasutra, das den richtigen Umgang mit sexueller und ethischer Lebenskunst beschreibt. Weltbekannt ist etwa der Tempel von Khajuraho, der zwischen 950 und 1050n.Chr. errichtet wurde. Bei modernen Tempeln, etwa von dem im nordindischen Batseri, sind ebenfalls die traditionellen Themen dargestellt, die Formensprache erinnert aber verblüffend an westliche Vorbilder – etwa an die Fernsehserie „Baywatch“.

Verena Widorn ist Assistentin am Institut für Kunstgeschichte und Mitarbeiterin des Nationalen Forschungsnetzwerks „Kulturgeschichte des Westlichen Himalaya vom 8. Jhd.", das von Prof. Dr. Klimburg Salter vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien geleitet und vom FWF finanziert wird. Im Rahmen dieses Projektes wird zusammen mit der Universität für Angewandte Kunst das „Nako Research and Preservation Project" durchgeführt, das den Tempel von Nako, Himachal Pradesh restaurieren will.

Widorn koordiniert außerdem das Western Himalaya Archive Vienna, die weltweit größte Sammlung von visuellen Dokumentationsmaterial aus dem Gebiet des Westlichen Himalaya. Das Archiv wird von Forschern und Studierenden aus aller Welt genützt. Auch Denkmalschützer aus Indien werden hier fündig wenn es darum geht, den ursprünglichen Zustand eines durch Witterungseinflüsse oder Brand zerstörten Gebäudes zu rekonstruieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2008)

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