Wenn Ausgräber etwas ausprobieren

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In Carnuntum entstehen derzeit Rekonstruktionen von zerfallenen Gebäuden, die möglichst originalgetreu sein sollen. Durch gezielte Experimente werden dabei antike Technologien neu entdeckt.

Jetzt ist der Krieg schon 60 Jahre vorbei, und die haben die Trümmer noch immer nicht weggeräumt“. Dieses Originalzitat einer niederösterreichischen Touristin am Forum Romanum in Rom belegt, dass vielen Menschen antike Ruinenfelder ein Gräuel sind. Die Grundmauern, die Archäologen in mühsamer Kleinarbeit ausgraben, sagen den meisten Menschen nichts. Kaum ein Laie kann sich vorstellen, wie die Gebäude einmal ausgesehen haben.

Archäologen wollen aber genau das: Interessierten zeigen, wie die Menschen damals gelebt haben – um ihnen dadurch einen unmittelbaren Zugang zur Geschichte zu ermöglichen. Als Speerspitze dieser Bewegung sehen sich die Ausgräber von Carnuntum, der antiken Großstadt 40 Kilometer östlich von Wien. „Wir wollen die dichte innerstädtische Bebauung wieder herstellen“, sagt Franz Humer, wissenschaftlicher Leiter des Archäologischen Parks Carnuntum. Die rekonstruierten Häuser über den erhaltenen Grundmauern sollen zudem voll funktionstüchtig und bewohnbar sein – selbst im frostigen pannonischen Winter. Aber Humer will noch mehr: Die Gebäude sollen keine bloßen Kopien aus modernen Baumaterialien sein, die eine „Wunschvorstellung“ zeigen, sondern sollen möglichst authentisch sein, mit originalen Baumaterialien und originalen Bautechniken.

Das Problem dabei: Viele Details zu Hausbau und Gebäudetechnik sind nicht überliefert. Auch Erfahrungen aus Pompeji oder Herculaneum, die unter meterdicken Ascheschichten fast vollständig konserviert waren, helfen nur bedingt weiter. Pompeji war eine Siedlung von „G'stopften aus Rom“, so Humer, Carnuntum hingegen eine Provinzstadt nördlich der Alpen mit anderen Voraussetzungen.

Das untergegangene Wissen ist nun zum Teil wieder vorhanden: und zwar durch „experimentelle Archäologie“. Diese Fachrichtung versucht, Lebensweisen und Techniken der Vergangenheit zu erforschen, indem sie diese nachbildet und zur Anwendung bringt. In Carnuntum wurde kürzlich ein bereits viel beachtetes Ergebnis der Experimentalarchäologie eröffnet: eine „Villa urbana“, ein Wohnhaus von wohlhabenden Bürgern aus dem frühen 4. Jahrhundert. Der Grabungsbefund, so erläutert der Chef-Archäologe, zeigte in der Mitte des Gebäudes einen großen Raum mit Apsis und Fußbodenheizung, rundherum Wohn- und Nebenräume sowie zwei Höfe.

Doch wie ist es über den Grundmauern weitergegangen? Besonders spannend war dabei die Kuppel, die über dem Apsis-förmigen Grundriss gedacht werden muss. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Dachlösung, berichtet Humer: Eine aus Ziegel gemauerte oder aus Beton („opus caementitium“) gegossene Halbkuppel schied aus – denn in Carnuntum gibt es keinerlei Befund, dass Dachziegel als Abdeckung für dieses Form geschnitten wurden oder dass eine Blei-Abdeckung zur Anwendung kam.

Originale Materialien

Daher entscheiden sich die Archäologen für einen anderen Weg: Sie setzten das Gewölbe aus massiven Steinen zusammen, die jeweils so behauen wurden, dass sie am Ende eine selbst tragende Halbkuppel ergaben, die auch ohne Dach dicht ist. Das Experiment sollte zeigen, dass diese Überlegung richtig war: Zwei Monate lang haben Steinmetze original römische Steine – die auf den umliegenden Feldern von Bauern tonnenweise aus dem Erdreich geackert wurden und werden – mit Hilfe einer verstellbaren Lehre in Form gebracht. Aufgebaut wurde die Halbkuppel auf einem verschiebbaren Lehrgerüst, auf das die Steine Schicht für Schicht aufgelegt und mit Kalkmörtel – klarerweise nach römischem Rezept – vermörtelt wurden. Dieser wurde übrigens mit nachgebauten antiken Maurerkellen aufgetragen. Nach Auskunft der Bauarbeiter sind diese viel besser geeignet, um die breiten Fugen zwischen den Steinen auszufüllen als modernes Gerät.

Dass diese Lösung wirklich funktioniert, darüber kann sich jedermann in Carnuntum überzeugen. In einem Punkt wurde aber eine Anleihe an der modernen Bautechnik genommen. „Aus Sicherheitsgründen haben wir einen Kran verwendet, die Halbkuppel hat ein Gesamtgewicht von 80 Tonnen“, so Humer.

Woher weiß man, wie hoch die Häuser waren? Ein wesentlicher Faktor ist die Stärke des Fundaments, die etwas über die maximale Bauhöhe aussagt. Einen engen Zusammenhang gibt es auch mit der Dachflächen-Lösung: Damit Schnee abrutschen kann, braucht es eine gewisse Mindestneigung und damit eine Mindesthöhe. Dann soll auch noch ausreichend Licht in die Räume gelangen: Für Zimmer in der Mitte des Hauses bedeutet das, dass sie höher sein müssen als die Vorräume, über den Dächern der Vorbauten müssen noch Fenster Platz haben. Humer ist überzeugt, dass die Rekonstruktion der „Villa urbana“ plus/minus einen halben Meter genau stimmt.

Hocheffiziente Heizung

Bis ins letzte Detail antik ist die Beheizung: eine klassische Hypokausten-Heizung, bei der das Rauchgas durch Hohlräume unter dem Fußboden und durch Röhren in den Wänden geführt wird. Die „Suspensur“-Platten, die auf Säulchen liegen und den Unterboden ausbilden, wurden an Ort und Stelle aus lokalen Materialien gefertigt: aus Lehm und kurz geschnittenem Stroh. Gebrannt wurden die 60 mal 60 Zentimeter großen Platten in antiken Brennöfen, die zuvor ausgegraben und rekonstruiert worden waren. Nach monatelangen Versuchen wurde ein praktikables Brennverfahren gefunden, das pro Charge in Summe 100 Stunden dauert – samt langsamem Aufheizen und Abkühlen. Von 300 Platten sind nur sechs beim Brennen gebrochen.

Das Ergebnis verblüfft die Archäologen: Die Heizung erwies sich als sehr effizient. Anfangs hat das Rauchgas 650 Grad, nach 17 Metern Wegstrecke – zehn Meter durch den Boden und sieben Meter in die Höhe – ist es auf 50 Grad abgekühlt. „Das ist eine Effizienz, die man auch heute selten findet“, sagt Humer im Hinblick darauf, dass Rauchgase bei modernen Hausheizungen nur mit speziellen Brennwert-Kesseln auf unter 100 Grad abgekühlt werden können.

Mit allen Sinnen spüren

Auch zur Ausschmückung des Hauses wurde – gemäß den Wand-Bruchstücken, die ausgegraben worden sind – ein neuer Weg beschritten. Es wurde anders als üblich nicht auf feuchten Mörtel gemalt, sondern eine „Stucco lustro“-Technik angewandt: Mit Pigmenten eingefärbtes Kalkmehl wurde in mehreren Schichten aufgespachtelt und mit Venezianerseife poliert. Das ergibt einen völlig ungeahnten Eindruck der Wohnumgebung von reichen Römern.

Die Akribie, mit der die Archäologen in Carnuntum bei den Rekonstruktionen vorgehen, ist kein wissenschaftlicher Selbstzweck. Man will sich von der Masse an archäologischen Parks, in denen antike Gebäude nachgebaut werden, absetzen und ein wirklich authentisches Bild jener Zeit bieten. Humer: „Wir hätten es uns leicht machen können, aber wir wollen bewusst diese Nische besetzen.“ Nachsatz: Den Unterschied könne man mit allen Sinnen spüren.

Regionales Zentrum

Die römische Metropole Carnuntum – sie hatte rund 50.000 Einwohner und war Hauptstadt der Provinz Pannonia Superior – ist mit zehn Quadratkilometer die größte archäologische Anlage Mitteleuropas. Derzeit werden sechs Grabungskampagnen parallel durchgeführt, beteiligt sind 40 Archäologen. Zum Bestand von 2,5 Millionen Fundstücken kommen jährlich 250.000 neue dazu.

Die Betreibergesellschaft des Archäologischen Parks Carnuntum ist mit gut 150 Mitarbeiter einer der Leitbetriebe in der Region. Im Vorjahr besuchten 130.000 Interessierte die Ausgrabungen. Parallel zur wissenschaftlichen Grundlagenforschung werden derzeit römische Gebäude möglichst originalgetreu rekonstruiert.

26 Millionen Euro stehen bis 2011 für weitere Rekonstruktionen zur Verfügung. Das Geld kommt unter anderem von der NÖ Kulturwirtschaft GesmbH und von Ecoplus, der Wirtschaftsagentur des Landes NÖ. [APC]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2008)

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