Wenn die gesunde Hirnhälfte Feuerwehr spielt

(c) EPA
  • Drucken

Manche Patienten lassen sich besser rehabilitieren als andere. Christian Enzinger will wissen, wieso.

Graz. Was beim Herz der Herzinfarkt, ist beim Hirn der Schlaganfall: Durchblutungsstörungen durch Gerinnsel o.Ä. führen zu Gewebeschädigungen, diese haben Funktionsausfälle zur Folge. Beim Schlaganfall sind halbseitige Lähmungen, Sprach- und Sehstörungen die häufigsten Symptome. Was erst seit kurzem bekannt ist: Selbst wenn Hirnregionen unwiederbringlich zerstört sind, können Funktionen dieser Hirnregion zumindest teilweise wiederhergestellt werden. „Wir wissen nicht genau, wie das funktioniert, wahrscheinlich übernehmen andere Hirnareale innerhalb komplexer Netzwerke diese Aufgaben“, sagt Christian Enzinger, Neurologe an der Medizin-Uni Graz.

Liegen und treten

Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT)wollen er und seine Kollegen dem Rätsel auf die Spur kommen. „Wenn wir wissen, wieso sich manche Patienten besser rehabilitieren lassen als andere, haben wir schon einen Teil der Lösung.“ Die fMRT läuft im Grunde nicht anders ab als eine „normale“ MRT: Die Patienten liegen im Scanner, statt bloß still zu liegen, müssen sie bestimmte Aufgaben ausführen. Im Studiendesign von Christian Enzinger hieß es: Beine bewegen! Statistische Analysen zeigen, welche Hirnareale bei der Bewegung aktiv sind. „Das ermöglicht uns, Veränderungen der Aktivierungsmuster im Vergleich zum gesunden Gehirn zu erkennen.“

Bewegungsbahnen kreuzen

Im Normalfall ist vorwiegend die rechte Hirnhälfte beim Bewegen der linken Gliedmaßen aktiv und umgekehrt. „Allerdings kreuzen die Bewegungsbahnen nur zu rund 80 Prozent die Seite – das heißt, dass bei einem linken Fußtritt auch 20 Prozent der linken Hirnhälfte arbeiten. Es sind also immer beide Hälften aktiv, die eine mehr, die andere weniger. Bei manchen Schlaganfall-Patienten arbeiten nun mehr als 20 Prozent der gesunden Hälfte – so als wollte die gesunde Hirnhälfte ,einspringen‘. Die fMRT zeigt, dass die Areale deutlich aktiver sind als bei Gesunden.“

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr – dieser Satz ist also für die Gehirnforschung nicht gültig. Auch das Gehirn eines erwachsenen Menschen kann lernen. Nur: Wieso lernen manche Gehirne besser als andere? Enzinger: „Die Studie umfasste 18 Patienten, die zwei jüngsten waren Anfang und Mitte 30. Eine von ihnen hatte nach einem Verkehrsunfall – durch Druck auf die Halsschlagader – einen Schlaganfall erlitten, die andere durch Ecstasy-Überkonsum. Einige waren um die 50, die älteste war 72.“

Sie alle nahmen an einem vierwöchigen Laufbandtraining teil: „Dazu wurde der Oberkörper mit Hilfe eines aufgehängten Korsetts um bis zu 30 Prozent leichter gemacht, die Geschwindigkeit wurde in jeder Session leicht gesteigert – von 1,5km/h bis auf 4km/h (Anm.: ø-Gehgeschwindigkeit bei Gesunden: 5km/h).“ Vor und nach den 12 Trainingseinheiten gab es immer wieder fMRT-Untersuchungen. Das Ergebnis: „Bei jenen, die sich verbesserten, zeigte sich: Fehlgeleitete Aktivierungsmuster hatten sich wieder normalisiert. Erstaunlich war auch, dass das Alter keine Vorhersagevariable für den Therapieerfolg war.“

Schäden minimieren

Prinzipiell ist jeder Schlaganfall ein Wettlauf gegen die Zeit – „wir haben ein therapeutisches Fenster von drei Stunden, in dem wir versuchen können, das gefäßverschließende Gerinnsel aufzulösen und damit die Schäden zu limitieren“. Doch auch noch danach, in der chronischen Phase, lässt sich etwas ausrichten – das ist die erfreulichste Nachricht der Studie.

Weiterer Vorteil der fMRT: Sie trägt zur Ressourcen-Optimierung bei. Denn die Aktivitätsmuster lassen vorhersehen, welche Verbesserungen in der Rehabilitation zu erwarten sind – Physiotherapien können daher ganz gezielt eingesetzt werden.

Christian Enzinger selbst ist erst 34 – wie kam er auf die Idee, sich dem Thema Schlaganfall zu widmen? „Schon während des Studiums hat mich das Gehirn am meisten interessiert. Bei einem Auslandsjahr in Oxford habe ich mich erstmals mit der Verbindung einer Trainingsstudie mit der Kernspintomografie befasst. Zurück in Österreich war es ganz natürlich, das weiterzuführen.“

Vor etwa einem Jahr hat Enzinger die „venia legendi“, also die Lehrbefugnis für das Fach Neurologie erhalten. Bleibt neben dem arbeitsintensiven Beruf noch Zeit für anderes? „Ja, ganz obenauf steht meine 18 Monate alte Tochter. Außerdem gehe ich laufen. Das Saxofon und Bass-Spielen in einer Band musste ich aus Zeitgründen aber aufgeben.“

LEXIKON: Schlaganfall

Ein Schlaganfall ist die Folge einer plötzlichen Durchblutungsstörung des Gehirns. Die Nervenzellen im Gehirn erhalten zu wenig Sauerstoff und Nährstoffe und gehen zugrunde. Mögliche Ursachen sind: Gefäßverschluss (80Prozent) oder Hirnblutung (20Prozent).

In der Todesursachen-Statistik stehen Schlaganfälle an dritter Stelle. Das Risiko steigt mit zunehmendem Lebensalter deutlich an, etwa 50Prozent aller Schlaganfälle ereignen sich in der Altersgruppe der über 75-Jährigen.

Symptome: Sprachstörungen, Gedächtnisverlust, halbseitige Lähmungen, herabhängender Mundwinkel.

Erste Hilfe: Unverzüglich zum Arzt! Mittels intravenöser Gabe von speziellen Medikamenten (Thrombolyse) können Blutgerinnsel aufgelöst und Gehirnschädigungen minimiert werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.