Das große Glück, wieder einen österreichischen Pass zu haben

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Kein offizieller Festredner, der sich nach 1945 nicht um Distanz zum Dritten Reich bemühte. Doch wie macht man Österreich in der Bevölkerung populär? Ein 950-Jahr-Jubiläum kam als Glücksfall genau richtig und wurde zum ersten nationalen Gedenktag der Zweiten Republik.

Wien. Das Zusammengehörigkeitsgefühl mit Deutschland, das 1938 hierzulande vielfach da gewesen war, wich nach Kriegsende 1945 einer Abwehr alles Deutschen. „Der (fast) vollkommenen Integration in die deutsche Nation folgte nach 1945 die (fast) vollkommene Flucht aus ihr“, schrieb der Historiker Ernst Bruckmüller. Die Stimmung gegen die sogenannten Reichsdeutschen schlug in offene Feindseligkeit um, die Österreicher rächten sich für die Arroganz und Präpotenz, mit der die Durchschnittsdeutschen auf die „schlappen“ Österreicher herabgesehen hatten, und wünschten die „unerwünschten Dauergäste“ zum Teufel: „Nur schwer und voll Ingrimm hat der Österreicher durch lange Jahre die Besserwisserei und die Einmischungssucht der Preußen ertragen“, so Karl Gruber, Landeshauptmann von Tirol. Man erkannte, dass viele Probleme des frühen Nachkriegsösterreich in der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich wurzelten und dass es sinnvoll war und Vorteile brachte, sich als eigenständige Nation in Abgrenzung von Deutschland zu profilieren.

Gehören wir zum deutschen Volk?

Kein Neujahrstag, keine Festansprache, bei der nicht Bundespräsident und Bundeskanzler verkündeten, dass Österreich eine Rolle bei der Niederringung des Nazismus gehabt habe und sich dadurch das Vertrauen der Befreiermächte verdient habe. Der Opferstatus der Republik wird in allen offiziellen Proklamationen betont. Karl Renner weiters: „Als der Krieg begann, gab es keinen österreichischen Staat, nie hat die österreichische Republik einen Krieg geführt.“

Doch inwieweit in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Bevölkerung ein Österreich-Bewusstsein bestanden hat, ist schwer zu klären. Noch zehn Jahre später, da war der Staatsvertrag bereits unter Dach und Fach, waren 46 Prozent der Bevölkerung der Meinung, sie gehörten zum deutschen Volk.

„Sehr artikuliert und in die Tiefe gehend kann das Österreich-Bewusstsein noch nicht gewesen sein“, meint Gerhard Botz über die Zeit gleich nach 1945, und Emil Brix führt die Gründe an, warum es für einen öffentlichen Diskurs um die subjektiven Gemeinsamkeiten Österreichs noch zu früh war. Die Abkoppelung vom Dritten Reich und das Schlagwort von der „befreiten Republik“ funktionierte als Klammer der österreichischen Selbstständigkeit, doch der Ablöseprozess von der gemeinsamen Geschichte im deutschen Sprachraum war nach Brix noch schwierig, schließlich hatte in der gesamten Ersten Republik die weitgehend unbestrittene These gegolten, dass Österreich ein zweiter deutscher Staat sei.

Eine Urkunde als Identitätsstifter

Kollektive Erfolgserlebnisse, wie sie die Franzosen oder Briten in ihrer Geschichte vorfinden und an die man sich erinnern konnte, besaß Österreich nicht gerade im Übermaß. Doch da gab es einen Glückfall, eine uralte Urkunde, mit der man dem Tausendjährigen Reich der Nazis die fast tausendjährige Geschichte Österreichs gegenüberstellen konnte, feierte 1946 Jubiläum: 950 Jahre zuvor, am 1. November 996, gab es jene Schenkung von Kaiser Otto III. an den Bischof von Freising, die die bemerkenswerte Formulierung enthielt: Die Schenkung umfasste das Gebiet, das in der Volkssprache Ostarrichi genannt werde. Die erste Nennung Österreichs in einer Urkunde also, deren Bedeutung bis dahin eher umstritten war. Doch nun bot sich der 1. November 1946 als erster bewusster nationaler Gedenktag Nachkriegsösterreichs an.

Grillparzer und Wildgans

Zunächst lehnten Karl Renner und Leopold Figl die Idee einer großen Staatsfeier ab. Die Ostarrichi-Urkunde war nicht sehr populär, die Ostmark-Erinnerung war noch dazu deutschnational besetzt. Erst ziemlich spät erkannten sie das identitätsstiftende Potenzial dieses Dokuments. Besonders die ÖVP fing nun an, mächtig in die Posaune des Österreich-Mythos zu blasen, während linke Teile der SPÖ mit der tausendjährigen Geschichte Österreichs eher Habsburg assoziierten und Bedenken hatten. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften hielt am 21. Oktober eine Festsitzung ab, es wurden Franz Grillparzer und Anton Wildgans zitiert, eine Publikation über die Ostarrichi-Urkunde wurde vorbereitet, alle Schulen zu Gedenkfeiern animiert und Huldigungen, Treuegelöbnisse, Festreden fern jeder kritischen Selbstreflexion vorbereitet.

Man erinnerte sich an bisher wenig beachtete, nicht deutsche Konstanten in der österreichischen Geschichte, die Feiern signalisierten „die Verabschiedung von großdeutschen Phantasmagorien“ (Robert Kriechbaumer). Die ÖVP plakatierte „Österreich. Wir wollen dir dienen treu und ohne Ende“, das Plakat zeigte ein Steinrelief mit österreichischem Bindenschild aus Hall in Tirol aus dem Jahr 1454. Und wirkte nicht Walther von der Vogelweide bereits hierzulande, als Berlin noch ein „elendes Fischerdorf“ eines slawischen Volksstammes war?

Wiederfinden von Verlorenem

Eine Gemengelage von Alt und Neu charakterisierte also die Nachkriegsjahre, sie definiert die Zeit besser als die zum Mythos gewordene Einschätzung als „Stunde null“. Gerald Stourzh wies unter Berufung auf den Rückgriff auf die Bundesverfassung von 1929 darauf hin, dass am Anfang der Zweiten Republik nicht nur Neues, sondern auch viel Altes stand: „Das freudige Wiederfinden von Verlorenem, dessen man beraubt worden war, steht am Ursprung der positiven Identifizierung des Österreichers mit etwas, was wir mit Recht als Nationalbewusstsein bezeichnen können [. . .]. Nach 1945 wieder den ersten österreichischen Reisepass zu erhalten – der genauso aussah wie vor 1938 –, war, um aus persönlicher Erinnerung zu sprechen, ein beglückendes Erlebnis.“ Dieser gefühlsmäßige Anschluss an die Zeit vor 1938 erleichterte bei vielen die Zuwendung zu einer Nation Österreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2016)

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