Musterschüler Estland in Rezession

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Die baltischen Staaten leiden unter hohem Inflationsdruck und stockendem Wirtschafts-Wachstum. Die Regierungen reagieren mit harten Sparmaßnahmen.

Riga. Lettlands Präsident Valdis Zatlers bereitet seine Landsleute auf harte Zeiten vor. „Es kommt ein Jahr auf uns zu, in dem jeder unter der Wirtschaftskrise leiden wird“, sagte er in einem Interview, nachdem die Regierung zu harten Einschnitten angesetzt hatte. Außer den Mindestrentnern, die sich mit Einkommen weit unter dem Existenzminimum durchschlagen müssen, wird es für niemanden mehr Geld aus öffentlichen Kassen geben. Die Löhne aller Beamten und übrigen Staatsdiener werden auf dem jetzigen Stand eingefroren, in allen Ministerien müssen die Ausgaben im kommenden Jahr um mehr als zehn Prozent gekürzt werden, „das wird sich nicht machen lassen, ohne die Zahl der Angestellten zu vermindern und viele Programme zu streichen“, warnt Zatlers.

Dennoch werden die Sparmaßnahmen nicht reichen, um den Haushalt im Gleichgewicht zu halten. Eigentlich hatte die lettische Regierung 2009 einen Budgetüberschuss von 1,2 Prozent erwirtschaften wollen. Jetzt hat sich die Regierung unter Premier Ivars Godmanis auf ein Defizit von 1,85 Prozent geeinigt. Zu drastisch haben sich die wirtschaftlichen Voraussetzungen im Baltikum geändert. Bis ins Vorjahr hatten sich Litauer, Esten und Letten mit den höchsten Zuwachsraten der EU im Ruf der „baltischen Tiger“ gesonnt. Doch das Wachstum wurde durch einen überhitzten Immobilienmarkt und auf Pump finanzierten Privatkonsum aufgebläht, und jetzt ist die Blase geplatzt. Nach dem Boom beutelt Stagflation die baltischen Staaten. Die Preise steigen immer noch rasant, doch die Wirtschaft wächst nicht mehr.

Nur Litauen vorerst stabil

Als erster der osteuropäischen Reformstaaten ist just Musterschüler Estland in die Rezession gerutscht. Nach einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,9 Prozent im ersten Quartal schrumpfte die Wirtschaftskraft im zweiten Vierteljahr nochmals um 0,8 Prozent. „Schwache Inlandsnachfrage und sinkende Exporte“ nennt das Statistische Zentralamt in Tallinn als Gründe für die Misere. Lettland rettete sich mit einem BIP-Zuwachs um 0,1 Prozent (nach minus 0,3 Prozent in den ersten drei Monaten) um Haaresbreite aus der Rezessions-Definition, die zwei aufeinanderfolgende Quartale mit schrumpfender Wirtschaft voraussetzt. Doch das ist aufgeschobene Pein: „Wir werden im nächsten Halbjahr noch schlechtere Zahlen sehen“, ist Zigurds Vaikulis, Analyst der Parex-Bank, überzeugt. Nur Litauen weist vorerst positive Bilanzen vor, mit 5,3 Prozent Wachstum im zweiten Quartal. Doch in Litauen herrscht Wahlkampf, und das ist nicht der Zeitpunkt für konjunkturdämpfende Maßnahmen. Erst wenn im Oktober ein neues Parlament gewählt ist, wird sich zeigen, wie haltbar die Entwicklung ist. Die führende Bank SEB hat die BIP-Prognose für das kommende Jahr von plus fünf auf vier und für 2010 auf drei Prozent zurückgestuft.

Hatte der boomende Wohnungsmarkt früher die Konjunktur angeheizt, so verschärft ein ebenso rascher Preisverfall jetzt die Krise. In Lettland sind die Häuserpreise seit dem Vorjahr um fast 25 Prozent gefallen, so stark wie nirgends sonst in der EU, auch in Estland (minus 16) und in Litauen (minus zehn) steckt die Immobilienbranche in großen Schwierigkeiten. Da der baltische Finanzmarkt von schwedischen Banken dominiert wird, müssen auch diese nun ihre Prognose wegen der großen Anzahl unsicherer Kredite reduzieren. „Die Wirtschaft und vor allem die Banken in den baltischen Staaten sind angeschlagen, und wir sehen in näherer Zukunft in der Region keinen Weg aus der Krise“, stellt Rhonit Ghose, Analyst der Citigroup, fest.

Preise und Löhne steigen weiter

Trotz der Flaute dreht sich die Lohn-Preis-Spirale unvermindert rasch. Die Inflation in Lettland ist zwar zuletzt von 16,4 auf 15,7 Prozent gesunken, aber immer noch die höchste der EU. Auch Esten und Litauer werden von zweistelliger Teuerung geplagt. Noch höher ist der Lohnzuwachs. Mit Durchschnittslöhnen zwischen 648 (Litauen) und 850 Euro (Estland) haben die Balten zwar noch kein Europaniveau, ihren Status als Billigländer aber haben sie verloren.

Auf einen Blick

Die „baltischen Tigerstaaten“ schlittern in die Rezession. Estland hat es, nach starkem Wachstum in den Vorjahren, als Erstes erwischt.

Als Grund wird der Preisanstieg genannt, bei zugleich sinkendem Konsum und geringeren Exporten.

Einzig Litauen präsentiert sich im Baltikum derzeit noch als wirtschaftlich stabiles Land.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2008)

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