Totale Panik an der russischen Börse

(c) EPA (Sergei Chirikov)
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Die russische Börse befindet sich im freien Fall. Die internationale Finanzkrise schlägt in Moskau stärker aus als anderswo. Auch wenn einige Titel mittlerweile stark unterbewertet sein dürften, wagt kaum jemand zu kaufen.

Moskau. Beim russischen Hang zum Pathos wird das Adjektiv „historisch“ inflationär verwendet. Was sich freilich auf der russischen Börse zuletzt abspielte, wird tatsächlich nur vom „historischen“ Rubel-Crash von 1998 überboten. Um 47,8 Prozent ist der Aktienmarkt im dritten Quartal gefallen und war damit laut einer Rangliste von Dow Jones unter 61 Indizes weltweit am stärksten von der Finanzkrise betroffen.

Im Oktober ging es munter weiter. Um 7,09 Prozent brach der Leitindex RTS am Freitag ein. Auch am gestrigen Montag setzte der Handel wiederholt aus, der RTS schloss um 19,1 Prozent tiefer. Vom Allzeithoch (2487,92 Punkte) im Mai sind im RTS gegenwärtig nur noch 866,39 Punkte übrig. Öl- und Gaswerte brachen über 24 Prozent ein, der weltweit größte Nickelproduzent Norilsk Nickel um satte 37,7 Prozent, die Bankenwerte über 15 Prozent.

Große Abhängigkeit vom Ölpreis

Das Gros der Analysten macht die negative Situation auf den Weltmärkten für die Entwertung verantwortlich. Alexej Pavlov, Analyst bei „Arbat Capital“, erinnert aber auch an eine Reihe einheimischer Faktoren wie den Krieg mit Georgien und Staatsattacken gegen Privatkonzerne: „Wir haben schlechtere Bedingungen als andere Emerging Markets“. So etwa die Abhängigkeit vom Ölpreis, der im Moment falle. Dazu kamen am Montag Gerüchte über sogenannte „Margin-Calls“ auf große Aktienpakete. Dabei verlangen Banken von Kreditnehmern, die Aktien auf Kredit gekauft haben, Bargeldnachschüsse oder neue Sicherheiten. In der Vorwoche hat eine Bank bereits die 17-Prozent-Beteiligung des reichsten Russen, Oleg Deripaska, am kanadischen Automobilzulieferer Magna eingezogen. In der Folge schrillten die Alarmglocken noch lauter.

Ein staatliches Stützprogramm von insgesamt 150 Mrd. Dollar (111 Mrd. Euro) für 28 Banken sowie zur Tilgung von Auslandsschulden russischer Unternehmen hatte zwischendurch Optimismus verbreitet. Dennoch schlägt die globale Negativwelle in Russland nach wie vor am stärksten aus. „Die Investoren sind besorgt um den ökonomischen Zustand vieler Sektoren“, sagt Alexej Dolgich, Vizepräsident der Investitionsbank „Trojka Dialog“.

Die Regierung ihrerseits fürchtet offensichtlich nicht nur um einzelne Sektoren, sondern um die gesamte Wirtschaft. Die Zinsen sind hochgetrieben, Investitionen werden gekürzt. Weil der Ölpreis sinke und die Kapitalzuflüsse zurückgehen, könnte die Wirtschaft 2009 nur noch mit 5,7 Prozent, statt der prognostizierten 6,7 Prozent wachsen, warnte Finanzminister Alexej Kudrin.

Dass ab 2009 ein sukzessiver Rückgang des Wachstums eintritt, hat die Regierung schon vor der Finanzkrise prognostiziert. Das ist eine Trendwende für ein Land, dessen Wirtschaft seit 2000 mit jährlich über sieben Prozent zulegte.

Wie „historisch“ günstig der Moment für einen Einstieg in russische Titel ist, bleibt unter Beobachtern umstritten. Unter den russischen Analysten sind kaum noch Optimisten übrig. „Schon lange ist es Zeit für eine Korrektur“, schreibt die Wirtschaftsagentur RBC: „Aber noch ist es zu früh, auf eine Trendwende zu tippen.“ Einig sind sich Analysten nur darüber, dass Russland mit seinen fundamentalen Wirtschaftsdaten besser dasteht als mit seiner Börse. Und einig ist man sich auch, dass die Titel massiv unterbewertet sind.

So etwa die größten Ölkonzerne Rosneft und Gazpromneft. Auch Lukoil, dessen Management angesichts der Finanzkrise einen Rückkauf von Konzernaktien beschlossen hat. Auch der Gasmonopolist Gazprom, der nach seinem heurigen Höhenflug in die Trojka der weltweit größten Firmen mehr als die Hälfte seiner Marktkapitalisierung verloren hat. Gazprom, das auf 17 Prozent der weltweit nachgewiesenen Gasreserven sitzt, hat bei einem Umsatz von 45 Mrd. Euro in den ersten neun Monaten 2007 zwölf Mrd. Euro Reingewinn erzielt.

Alle waren in letzter Zeit zum Kauf empfohlen worden. Am offensivsten war Russland zuletzt von Mark Mobius, dem Chef der US-Fondsgesellschaft Franklin Templeton Asset Management, beworben worden. Russland könne mit seinen Währungsreserven den Markt stabilisieren. Mit welchen konkreten Titeln er sein Portfolio verstärkt, schrieb Mobius nicht.

Wann soll man wieder kaufen?

„Wenn Investoren langfristige Mittel frei haben, kann man zum Kauf der am meisten verbilligten Aktiva raten“, meint Alexej Dolgich. Alexandr Potawin, Analyst von „AntantaPioglobal“ hält dagegen: „Niemand zweifelt, dass der Markt zu wachsen beginnen wird. Die Frage ist nur wann. In nächster Zeit sicher nicht. Im besten Fall Mitte 2009.“

Auf einen Blick

Die Aktienwerte an der Moskauer Börse sind im dritten Quartal um fast 50 Prozent gefallen. In Russland schlägt die Finanzkrise am stärksten aus.

Viele russische Aktien gelten inzwischen als unterbewertet. Ein echter Aufschwung an den Aktienmärkten wird jedoch frühestens in der Mitte des kommenden Jahres erwartet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2008)

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