Kaliningrad: „Die perverseste Wirtschaft der Welt“

(c) AP (Sergei Grits)
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Der Armut in der sowjetischen Militärsperrzone folgte die Umzingelung durch die EU, dieser die Krise. Heute arbeitet die russische Exklave Kaliningrad an der Weichenstellung für die Zukunft.

Moskau. Wenn man sich mit Julia unterhält, ist das nicht nur anregend. Es ist auch ziemlich elementar. Um Blut geht es da, auch um Schweiß. Vor allem aber um Samenqualität. „Blutauffrischung durch hochwertige Gene“, sagt die 32-jährige Russin: „Wir waren zu lange isoliert.“

55 Jahre Abschottung galt es zu überwinden, als die Moskauerin im Jahr 2000 nach Majowka im Gebiet Kaliningrad übersiedelte. Im Gestüt Georgenburg warteten Dutzende Stuten auf ihr neues Glück. Die Veterinärmedizinerin machte sich umgehend auf die Suche nach prächtigen Hengsten in Deutschland. Analysierte deren Stammbaum. Und importierte deren Samen nach Majowka.

Vollblütige Trakehner neben Holsteinern und Hannoveranern werden heute hundert Kilometer östlich von Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, wieder gezüchtet. In den Ställen und Reithallen, in denen bis 1948 deutsche Kriegsgefangene einsaßen, tummeln sich 150 Prachtexemplare jener Rassen, die über Jahrhunderte im ostpreußischen Pferdeparadies Trakehnen veredelt wurden. Vor neun Jahren hat der im Westen lebende Ölhändler Anatoli Oruschew das Gestüt Georgenburg restauriert, eine Reithalle und einen Springplatz errichtet. Und trägt dort wieder internationale Turniere aus.

Kaum an einem anderen Ort hat der Aufschwung der letzten Jahre eine schönere Form angenommen. Länger hat das Tief gedauert als in den meisten anderen russischen Gebieten. Zu tief war der Fall nach dem Ende der Sowjetunion gewesen, die den einst deutschen Landstrich nach der Annexion im Zweiten Weltkrieg in eine militärische Sperrzone verwandelt und von der Außenwelt abgeriegelt hatte. Nach der Wende folgte die Armut.

Erst seit 2005 bilanziert die Exklave mit einer knappen Million Einwohnern positiv. Dafür umso atemberaubender mit Wachstumsraten von jährlich über 40Prozent. Das auf Pump gekaufte Volumen an Konsumgütern hat sich 2008 gegenüber 2007 verelffacht. Die ausländischen Investitionen – zuletzt hat Hipp hier ein Werk errichtet – vervierfachten sich. 2008 legte die regionale Wirtschaft im Jahresvergleich laut offizieller Schätzungen um über 100 Prozent auf 180,5 Mrd. Rubel (4,2 Mrd. Euro) zu.

„Es ist eine Antiökonomie“

Was die Menschen und Politiker beflügelt, macht Ökonomen hellhörig. Wer sich wie Natalja Smorodinskaja von der Russischen Akademie der Wissenschaften seit Langem mit dem Spezialfall Kaliningrad beschäftigt, schlägt gar die Hände über dem Kopf zusammen: „Das ist die perverseste Wirtschaft der Welt“, sagt sie, „gewissermaßen eine Antiökonomie“.

Smorodinskaja hängt ihre Kritik am Phänomen der Sonderwirtschaftszone auf. Zu einer solchen wurde die Exklave 1996 erklärt. Unternehmer, die ihre fürs russische Mutterland bestimmten Erzeugnisse aus importierten Komponenten mit einer mindestens 30-prozentigen Wertschöpfung in Kaliningrad produzieren lassen, sind von den Einfuhrzöllen befreit und zahlen weniger Steuern. „Alles auf Kosten der russischen Steuerzahler“, sagt Smorodinskaja. Hohe Wertschöpfung sei oft fingiert. Das zollfrei Importierte werde einfach teuer weiterverkauft.

In Kaliningrad wurde zuletzt zusammengeschraubt, was das Zeug hält. TV-Geräte, Haushaltstechnik, Kühlschränke. Vor allem Autos. Im Vorjahr kamen 108.000 der 2,77 Mio. in Russland verkauften Fahrzeuge aus Kaliningrad, wie Valeri Gorbunow, Generaldirektor von Avtotor AG, erklärt: Obwohl der Absatz durch die Krise 2009 um 48Prozent einbreche, müsse niemand entlassen werden.

Avtotor markiert den Beginn ausländischer Autoproduktion in Russland. 1996 errichteten russische und ausländische Investoren (darunter auch ein Österreicher) auf dem Gebiet eines ehemaligen Konzentrationslagers ein Montagewerk. Kia ist größter Auftraggeber, auch für BMW und GM wird produziert. Vor einem Monat verlegte GM Produktionen aus Petersburg nach Kaliningrad. 62 Mio. Dollar setzte Avtotor mit 3500 Mitarbeitern im Vorjahr um. Mit ihren Steuern deckt die Firma ein Viertel des Gebietsbudgets.

Die Wertschöpfung bei Avtotor beschränke sich darauf, die letzte Schraube festzuziehen, meinte Georgi Boos, als er vor vier Jahren zum Gouverneur von Kaliningrad ernannt wurde. Bei Avtotor will man das nicht gelten lassen. Aber Boos' Anmerkung zeigte Wirkung. Heute wird bei Avtotor angeblich so viel geschraubt, dass der Wert um 37 Prozent zunimmt.

Boos, Unternehmer in Moskau, wurde vom Kreml nach Kaliningrad entsandt, um die Gegend an die Kandare zu nehmen. In der Tat sind viele Bande abgerissen. Die meisten Jungen waren kein einziges Mal im Mutterland.

„Vor fünf Jahren haben wir eine neue Strategie eingeschlagen“, erklärt Boos im Gespräch: „Die Krise hat uns auf halbem Weg erwischt. Wir brauchen noch Investoren.“ Die neue Richtung: Das sind Investitionen in die Landwirtschaft und in die Infrastruktur, um die geografische Zwischenlage zu nützen. Und in den Tourismus, der sich seit 2005 verdoppelt hat. Zu vermarkten gäbe es einiges: das Naturjuwel der Kurischen Nehrung in der Ostsee, nicht zuletzt den Philosophen Immanuel Kant, der als Sohn der Stadt hier begraben ist.

Und Bernstein. Man habe jahrelang auf die Vermarktung vergessen, wird geklagt. 22 Prozent der weltweiten Vorkommen befinden sich in der Exklave. Weil die Förderung hier leichter als in anderen Ländern ist, kommen zwei Drittel des Weltbedarfs aus Kaliningrad. In der Welt ist das wenig bekannt.

Wegen der EU-Erweiterung vor fünf Jahren ist der Weg ins Ausland nicht nur für Bernstein schwer, wie in Kaliningrad geklagt wird. Gewiss, die EU stellt Kaliningrad derzeit 25 Mio. Euro nachbarschaftlicher Fördergelder zur Verfügung. Aber die Zoll- und Durchreisebestimmungen sind streng.

Schnell würden nur die Katzen geboren, sagt man in Russland, wenn man meint, dass gut Ding Weile braucht. „Hier aber geht es um edle Pferde“, stellt Julia Tarasowa klar. „Um gutes Blut, um gute Gene, um guten Samen.“

AUF EINEN BLICK

Königsberg hieß die Stadt an der Kurischen Nehrung einst. Heute ist Kaliningrad Hauptstadt einer russischen Exklave, die nach der überstandenen Isolation als sowjetisches Militärsperrgebiet mit der Umzingelung durch die EU kämpft. Eine Region auf der Suche nach der Zukunft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2009)

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