Skepsis trotz Aufschwungs

Die Balten feiern das Ende der Rezession. Experten sind vorsichtig.

Tallinn. Die von der Krise stark gebeutelten baltischen Staaten sehen wieder Licht im Dunkeln. Estland überraschte mit einem Wachstum von 3,5 Prozent im zweiten Quartal die Experten. Jetzt warnen diese: Die guten Ziffern seien nicht nachhaltig. „Wenn etwas zu gut erscheint, um wahr zu sein, ist es dies meistens auch“, kommentierte der Analyst Jaan Ömblus.

Das Sozialprodukt wächst erstmals seit Ende 2007, gestützt vor allem auf den Export. Die estnischen Firmen profitierten vom Aufschwung in den nordischen Staaten, meint der Zentralbank-Volkswirt Peter Luikmel. Der Nachholbedarf ist enorm. Nach dem Einbruch der Wirtschaftsleistung um mehr als 20 Prozent in den Krisenjahren 2008 und 2009 ist das BIP wieder dort angelangt, wo es schon vor fünf Jahren war.

Doch der Aufschwung ist fragil. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der gesunkenen Löhne ist die Inlandsnachfrage weiter schwach. „Wenn von außen ein Rückschlag kommt, haben wir rasch wieder fünf oder sechs Prozent minus“, warnt SEB-Analyst Hardo Pajula.

Das große Wachstum sei vor allem auf Stromexporte des Staatskonzerns Eesti Energia zurückzuführen, betont Pajula. Erzeugt wird der Strom durch die ökologisch umstrittene Verbrennung von Ölschiefer. Holzexport und billige Zulieferdienste für ausländische Kunden sorgten für den Aufschwung– „typische Drittwelt-Wirtschaft, die weder für nachhaltiges Wachstum noch neue Jobs oder Wohlfahrt sorgen kann“, meint Ömblus. Bevor wir einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit sehen und die Löhne steigen, merkt nur eine kleine Gruppe von Exporteuren den Aufschwung“, meint Pajula.

„Bevölkerung merkt nichts“

Immerhin: Am Freitag meldete das Statistische Zentralamt erstmals seit zwei Jahren auch wieder einen Fortschritt an der Beschäftigungsfront. Die Arbeitslosigkeit fiel im letzten Quartal von 19,8 auf 18,6 Prozent. Das ist immer noch historisch hoch. Vor einem Jahr betrug die Quote 13,5, vor zwei Jahren nur vier Prozent. So meint auch der Wirtschaftsprofessor Rainer Kettel, dass das Wachstum breite Teile der Bevölkerung nicht erreiche. „Unsinn“, erwidert Finanzminister Jürgen Ligi. „Wachstum durch Export ist genau das, wonach wir gestrebt haben.“ Wenn das BIP durch Inlandsnachfrage angeheizt werde, drohe „unhaltbares Wachstum“ wie in den Boomjahren, in denen alle über ihre Verhältnisse lebten.

Auch seine litauische Kollegin Ingrida Simonyte ist überzeugt, dass Wachstumsraten von acht bis zehn Prozent, wie man sie Mitte des Jahrzehnts erlebte, nicht zurückkehren werden. Doch ihre Prognose ist mit vier Prozent im Jahr 2011 optimistisch. Das BIP in Litauen stieg im zweiten Quartal erstmals seit 2008, und zwar um 1,1 Prozent.

„Die Rezession ist vorüber“, sagt auch der lettische Premier, Valdis Dombrowskis, nachdem die Wirtschaft seines Landes zum zweiten Mal Pluszahlen auswies– 0,1 Prozent im zweiten und 0,3 Prozent im ersten Quartal im Vergleich zu den jeweiligen Vorquartalen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2010)

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