Italiens neue Zunft der Schlangensteher

Geduld ist die Kardinaltugend des professionellen Schlangenstehers.
Geduld ist die Kardinaltugend des professionellen Schlangenstehers.(c) REUTERS (Mike Blake)
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Krise und Bürokratie machen erfinderisch: Ein arbeitsloser Akademiker bescherte den Italienern ein neues Gewerbe. Die „Codisti“ warten statt ihrer Auftraggeber viele Stunden am Amt. Dafür gibt es Kurse – und einen Kollektivvertrag.

Giovanni Cafaro machte gerade das, womit Italiener allzu oft ihre Lebenszeit vergeuden: Er stand in der Schlange. In einer verdammt langen noch dazu. Auf einem Postamt in Mailand, um Gebührenrechnungen zu begleichen, was auch einem Arbeitslosen wie ihm nicht erspart bleibt. Die Beamten an den Schaltern hatten gröbere Probleme mit der EDV, es ging nichts mehr weiter. Die anwesenden Mailänder, traditionsgemäß in Eile, wurden nervös und murrten immer lauter. Besonders eine attraktive Dame in seiner Nähe. Der Geistesblitz, der sein Leben änderte, kam in Form einer galanten Frage über ihn: „Signora, darf ich Ihnen das Warten abnehmen?“

Aus einer Frage wurden 5000, gedruckt neben seiner Telefonnummer auf Flugblättern, die Cafaro in den nächsten Tagen auf den Straßen der Stadt verteilte. Das war 2014, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Der Marketingmanager hatte seinen Job verloren, weil seine Firma ins Ausland abwanderte. So war seine Laufbahn in eine einjährige Warteschleife geraten, aus der er sich nun befreite – indem er einen neuen Beruf erfand: den professionellen Schlangensteher.

Kampf dem Pfusch. Die Marktlücke sprang dem gelernten Kommunikationswissenschaftler mit einem MBA von der Mailänder Eliteuni Bocconi sofort ins Auge: Viel teure Arbeitszeit verlieren italienische Freiberufler, Unternehmer und ihre Angestellten in den verrosteten Mühlen einer aufgeblähten Bürokratie – in den Gängen des Katasteramtes, vor den Büros der Steuereintreiber oder an der Einwohnermeldestelle. Sie ziehen eine Nummer und warten. Und warten. Und warten. Und müssen ständig daran denken, was sie in den vielen Stunden am Amt alles an wichtigen Aufgaben erledigen hätten können. Der „Codista“ macht sie wieder produktiv. Wie er auch Alte und Kranke von der Last befreit, sich zum Gesundheitsamt schleppen zu müssen. Und auch allen anderen, die sich einfach die ewige Warterei ersparen wollen, für wohlfeile zehn Euro die Stunde.

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