ÖBB-Chef Kern: „Unser Dilemma ist die Überalterung“

Christian Kern
Christian Kern(c) Clemens Fabry / Die Presse
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Für ÖBB-Chef Kern haben die ÖBB genügend Mitarbeiter abgebaut. Nun aber entwickle sich die Bahn zum „50-plus-Konzern“.

Die Presse: Sie sind mit dem Anspruch angetreten, die Bahn betriebswirtschaftlich durchschlagskräftiger und personell schlanker zu machen. Wie weit sind Sie denn damit gekommen?

Christian Kern: Wir haben 67.000 Mitarbeiter gehabt, jetzt sind wir unter 40.000. In der Zeit, in der ich da bin, haben wir 4000 Mitarbeiter abgebaut. Ich glaube, wir sind jetzt bei einer sinnvollen Größenordnung. Je Bahnkilometer haben wir schon weniger Personal als die Schweizer Bahn.

Der Abbau ist in der Vergangenheit aber überwiegend über Frühpensionierungen geschehen.

Das haben wir abgestellt. Das durchschnittliche Antrittsalter für die Pension liegt jetzt über 59, da liegen wir nur noch knapp hinter dem ASVG.

Das betrifft die reguläre Pension, die meisten Eisenbahner gehen aber krankheitsbedingt früher.

Ja, weil wir kaum noch Mitarbeiter haben, die für die reguläre Pensionierung infrage kommen. Im vorigen Jahrzehnt sind tausende Mitarbeiter betriebsbedingt in Frühpension geschickt worden. Das sind genau die Jahrgänge, die jetzt im regulären Pensionierungsalter wären. Bei den krankheitsbedingten Frühpensionierungen liegt unser Altersschnitt übrigens ein halbes Jahr über dem ASVG. Den Eisenbahnerpensionisten, der in aller Frische mit 53 auf dem Tennisplatz steht, den gibt es nicht mehr.

Also personell ist alles gut?

Unser Dilemma ist jetzt nicht der Personalstand, sondern die deutliche Überalterung unserer Personalstruktur. Die ÖBB entwickeln sich zum 50-plus-Konzern. Die größte Herausforderung ist es jetzt, Kollegen mit weniger Krankenständen länger im Arbeitsprozess zu halten. Ganz nebenbei: Beim österreichischen Bienniensystem ist es auch bei den Lohnkosten ein Nachteil, wenn man viele 50-Jährige hat und die Konkurrenz im Schnitt 25-Jährige.

Zuletzt ist wieder massiv Kritik an den teuren Tunnelprojekten laut geworden. Eine Studie des deutschen Instituts Vieregg-Rössler beispielsweise sagt, der Semmeringtunnel sei volkswirtschaftlich nicht zu rechtfertigen.

Wir halten die Studie für völlig unzureichend, sie repräsentiert nicht die Wirklichkeit. Ein Beispiel: Die Studie geht von zehn Mio. Tonnen Transportvolumen pro Jahr auf dem Semmering aus, wir haben aber heute schon 16. Was da vielleicht auch interessant ist: Wir haben im ersten Quartal mit plus neun Prozent die höchste Steigerung in der Geschichte des Güterverkehrs gehabt.

Wo kommt das her? Die Wirtschaft wächst ja kaum.

Aus der Grundstoffindustrie. Gut gelaufen sind Rohstoffe, Chemie, Mineralöl. Der Modalmix (Anteil der Schiene am Gesamtverkehr, Anm.) ist mit 32 Prozent gleich geblieben und wir gehen davon aus, dass wir heuer deutlich Boden von der Straße gewinnen.

Die Güterstruktur am Semmering ist sehr grundstofflastig. Das ist nicht das große Wachstumsgebiet, das Verkehrsprognosen, die von einer Verdreifachung ausgehen, rechtfertigen, oder?

Man muss fairerweise sagen, dass die Prognosen, die vor 2008 gemacht wurden, die mittlerweile seit fünf Jahren anhaltenden Kriseneffekte nicht berücksichtigen konnten. Wir gehen jetzt von einem tieferen Punkt aus, sind aber überzeugt, dass es trotzdem Wachstumspotenzial gibt. Wir sehen etwa starke Steigerungen in den Südhäfen Koper und Rijeka, auch Venedig baut aus. Da sehen wir großes Potenzial. Transporte aus China beispielsweise sind über Koper um acht Tage früher da als über Antwerpen.

Da gibt es aber noch den parallelen Eisenbahnkorridor über Budapest und Zagreb.

Das sehen wir nicht als Konkurrenz, höchstens als Ergänzung.

Er mindert aber doch die Effizienz der hier so hochgepushten Baltisch-Adriatischen Achse.

Bahninfrastruktur kann nie profitabel im eigentlichen Sinn des Wortes sein. Da geht es immer um die volkswirtschaftliche Betrachtung. Der Eurotunnel beispielsweise hat 80 Prozent Marktanteil und trotzdem musste die Gesellschaft zweimal vor der Pleite gerettet werden. Und der verbindet nicht Graz und Klagenfurt, sondern Paris und London. Das darf allerdings keine Ausrede für Ineffizienz sein. Wir beschäftigen uns sehr intensiv mit Prognosen und glauben, dass diese Projekte volkswirtschaftlich Sinn ergeben.

Die vorhin zitierte Vieregg-Rössler-Studie geht beim Semmering von einem volkswirtschaftlichen Multiplikatoreffekt von 0,2 bis 0,4 aus. Das klingt nicht gigantisch, wenn man weiß, dass der Bauentscheidung Studien zugrunde lagen, die von einem Multiplikatoreffekt von bis zu fünf sprachen.

Wir gehen jetzt davon aus, dass der Faktor in der Bauphase 0,9 und in der Betriebsphase 1,3 ist. (Anm.: Das bedeutet, dass ein investierter Euro einen volkswirtschaftlichen Effekt von 0,9 bis 1,3 Euro hätte).Das ist deutlich weniger, als wir in der Vergangenheit in den von Ihnen zitierten Studien gesehen haben. Wir haben die, auch dank Ihrer Hinweise, noch einmal kritisch angeschaut.

Hier wird massiv in europäische Achsen investiert. Ist das angesichts der Zersplitterung der nationalen Eisenbahnen überhaupt sinnvoll?

Der Webfehler des europäischen Eisenbahnwesens ist natürlich, dass es lauter Insellösungen sind und die Inselmentalität nur langsam abnimmt. Es gibt aber Initiativen auf europäischer Ebene, grenzüberschreitende Trassen besser zu managen. Mit einigen Ländern funktioniert das besser, mit anderen, beispielsweise Italien, weniger gut. Aber immerhin ist es jetzt schon möglich, dass wir etwa fünfmal pro Woche ein Shuttle bis nach Istanbul betreiben.

ZUR PERSON

Christian Kern (48) ist seit 2010 Vorstandschef der ÖBB AG. Der Magister der Kommunikationswissenschaften (Uni Wien) hat seine Berufslaufbahn als Wirtschaftsjournalist begonnen, war dann Büroleiter des SPÖ-Klubobmanns im Parlament. 1997 trat Kern in die Verbundgesellschaft ein, wo er 2007 in den Vorstand aufrückte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2014)

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